Lars Klingbeils erste Rede als Finanzminister im Bundestag wird von seiner Partei hochgejazzt. Aber eigentlich markiert sie nur die Resignation, die dieser Parlamentarismus erzeugt.
Ein Beitrag von Roberto J. De Lapuente

Der Bundesfinanzminister bedachte die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer letzte Woche im weiten Rund des Bundestages mit warmen Worten. Sie hätten in den letzten Jahren alles getragen, marode Infrastruktur ausgehalten und dabei das Land dennoch am Laufen gehalten. Nun würde es Zeit für eine Bundesregierung, die diesen hart arbeitenden Menschen mit Respekt begegnen sollte. Die Sozialdemokraten loben Lars Klingbeil für seine sensiblen Worte in Richtung der Werktätigen. Sie klingen ja auch gut, selbstverständlich auch richtig – oder zumindest nicht ganz falsch.
Wie sollte man dagegen etwas sagen wollen? Ja, Arbeitnehmer haben es nicht einfach im Deutschland der letzten Jahre. Sie arbeiten in Betrieben und Einrichtungen, die auf Kante genäht sind – trotz steigender Lebenshaltungskosten explodierten die Löhne allerdings nicht. Mitsprache: Schwierig bis unmöglich. Politisch aus der Reihe tanzen: Das kostet zuweilen die Stelle. Und wie diese Leute zur Arbeit und wieder nach Hause kommen, wissen sie wohl selbst nicht so genau, denn öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen ist ein reines Glücksspiel. Dass da nun ein Finanzminister an sie denkt: Gibt es noch jemanden da draußen, dem das Hoffnung macht?
Klingbeils Rede: Ein Beispiel für das Totalversagen dieses parlamentarischen Systems
Denn eigentlich ist die Angelegenheit doch ganz anders. Klingbeils Worte sind Ausdruck des totalen, ja totalitären Stillstandes und der Resignation. Wäre Klingbeils Partei seit 1991 – oder von mir aus auch seit 2002 – zuletzt in der Regierungsverantwortung gewesen, hätte sie jetzt 2025 eine Renaissance nach langen Jahren in der Versenkung – ob in der Opposition oder gar außerhalb des Parlamentes – erlebt, was ihn zu einer beschwingten, einer von Herzen kommenden Ansprache verleitete: Ja dann! Dann hätte man seine Worte irgendwie als hoffnungsvolles Signal begreifen können. Aber verdammt nochmal, seine SPD war seit 1998 immer – mit vier Jahren als Ausnahme – Teil einer Bundesregierung.
In der letzten Bundesregierung hatten sie gar die Richtlinienkompetenz inne, was heißt: Sie stellte den Bundeskanzler. Und der warb mit derselben leere Worthülse, die Respekt heißt. Das Problem ist nun, dass die Menschen trotz digitaler Demenz nicht schnell genug vergessen – Reden wie jene von Klingbeil, die dann auf den Social-Media-Kacheln der eigenen Partei hochgejazzt und zu Memes verwurstet werden, sind eben nur noch dafür und wirklich nur dafür gut: Die Menschen erreichen solche Sätze doch nicht mehr, denn die kennen die Vorgeschichte. Das Unglück der politischen Parteien ist nun, dass sie die Vorgeschichte nicht ausblenden können, wie sie es bei außenpolitischen Abenteuern zu tun pflegen.
Und so simulieren diese vermeintlich so beherzten, angeblich so mitreißenden, mutmaßlich so beschwingten Reden noch nicht mal mehr eine intakte Demokratie – ganz egal, welchen Inhalts sie sind. Selbst wenn sie Versatzstücke beinhalten, die man unterschreiben könnte, verursachen diese nur Bauchweh, Abkehr, Resignation und Zorn. Denn sie zeigen nicht etwa an, dass dieser Parlamentarismus noch klappt, noch funktioniert, noch die Menschen erreicht: Das Gegenteil ist der Fall. Reden wie jene sind nicht das Herz der Demokratie, sondern das Abbild des Totalversagens, das sich in fortlaufender Wiederholbarkeit bei gleichzeitig liebgewonnener Wirkungslosigkeit zeigt.
Vermeidung als parlamentarischer Auftrag
Diese Formen der Bürgeransprache im Plenum verursachen nur Zuspruch in der eigenen Berliner Blase und vielleicht noch in den dazugehörigen Netzwerken. Aber die Bürger wenden sich angewidert ab. Sie können diese Repetition von vorgestanzten Satzbausteinen und von Redenschreibern ins Manuskript geschriebenen Signalwörtern immer weniger ertragen. Wenn sie ins Parlament blicken und dergleichen vernehmen, denken sie sich nicht etwa: »Oh, die Demokratie funktioniert ja doch noch.« Nein, sie werten das anders: »Tausendmal gehört, tausendmal keinen Respekt erfahren, tausendmal verrottet dieses System.«
Die Gesichter dieser Berufspolitiker, geistlos und ohne Sinn für die Bedürfnisse der Normalsterblichen, dazu sozial und emotional so abgewirtschaftet, dass sie gar nicht in der Lage sind, Kontakt zu den »kleinen Leuten« zu knüpfen, tun das Übrige. Da ist keine Leidenschaft drin – wenn, dann simuliert man sie. Und wie alles, was nicht echt ist und wie echt wirken soll, merkt man das auch. Eine Bratwurst aus Tofu schmeckt nun mal nicht wie eine aus Tier: Da kann man noch so viele Geschmacksverstärker mit Stabilisatoren vermischen. Das Parlament arbeitet in diesem Sinne vegan: Mit Künstlichkeiten, mit Simulationen und großem Schein. Wer vegan lebt, will tierische Produkte vermeiden. Dieser vegane Parlamentarismus, der sich uns aufdrängt, ist ebenfalls ganz auf Vermeidung ausgelegt: Kontaktvermeidung, Realitätsvermeidung, Leidenschaftsvermeidung. Er ist ein System des öden, des schwerfälligen Verwaltens, das bitte jede Beschwingtheit schon im Ansatz unterlassen soll.
Anders als man in den Fluren dieses Evitarismus (evitare, lat., für aus dem Wege gehen, vermeiden) glaubt, sind die Bürger ja nicht völlig verblödet – selbst wenn sie politisch nur wenig bewandert sein sollten, haben sie ein gutes Gespür für Authentizität. Auch wenn heutzutage alle Welt vom Authentischen spricht, sodass es regelrecht zum Modewort wurde und viel passendere Worte wie Wahrhaftigkeit oder Glaubwürdigkeit zu ersetzen trachtete – warum wohl? –, so muss man es hier doch anbringen dürfen: Authentisch ist dieser bundesdeutsche Parlamentarismus der Berliner Republik ganz sicher nicht. Schon alleine aus diesem Grund kann dieser Kampf um die Demokratie – ob nun choreographiert oder nicht, lassen wir mal beiseite – nicht gelingen. Die Basis dafür, eine Alternative zu Alternativen sein zu wollen, die man für demokratiefeindlich hält, wäre der Grundwert der Glaubhaftigkeit.
Respekt? Nein, Respektlosigkeit!
Und die erzeugt man nun mal nicht, wenn man abgedroschene Reden schwingt, die seit Jahr und Tag schon zirkulierten, deren Versatzstücke von anderen Köpfen in anderen Zeiten schon vorgebracht wurden, ohne dass sie für die Menschen im Lande nennenswert etwas verändert hätte. Wobei das grundlegend falsch ist: Verändert hat sich für sie durchaus einiges. Aber selten zum Besseren. Reformen bedeuten seit zwei Dekaden nicht Verbesserung und Innovation, sondern Abstriche machen und Sparzwang oder Schleifen der Infrastruktur. Über Respekt für die, die man für anständig hält, weil sie arbeiten und Steuern zahlen, wird seit Jahrzehnten salbadert. Doch man hört nicht auf sie – und jedes Mal, wenn sie politisch andere Vorstellungen haben, als die politischen Rädelsführer dieses Landes, pathologisiert oder kriminalisiert man sie sogar.
Die Gefährdung der Demokratie, dieses große Thema unserer Zeit: Sie findet direkt im System statt, im Bundestag selbst. In den Hinterzimmern, wo die Lobbyisten fast schon freien Zugang haben, legt man den Grundstein der Aushöhlung. Auch das gehört zur Fassade, die errichtet wurde und deren fassadendemokratisches Wirken man erkennt, wenn Klingbeil und Co. auf diese infantilisierende, die eigene Vorgeschichte vergessende oder besser ausblendende Art und Weise sprechen.
Dieses System ist aber nicht etwa morsch, nicht ruiniert. Ist keine alte Burgruine oder dergleichen. Nein, es wurde umgebaut, neu justiert und modifiziert – zu einem Eliteprojekt, einer Simulation, die das Gefühl erzeugen soll, dass die Demokratie für alle funktioniert, während sie es nur für sehr wenige tut. Das Hohe Haus wurde total entkernt. Und Respektsreden gehören zum Repertoire dieses geenterten Systems. Die größte Gefahr für die Demokratie ist, dass wir noch von einer Gefahr für die Demokratie sprechen, die diesen Namen verdienen würde. Die Gefährdung liegt längst hinter uns – sie wurde schon lange gekapert und zu einer entleerten Hülse umfunktioniert, die noch so tut, als kämpfe sie gegen eine Gefahr an. Der Wortbeitrag jenes Sozialdemokraten fordert keinen Respekt ein – er ist die gelebte Respektlosigkeit eines wohl sturmreif geschossenen Systems.
Roberto J. De Lapuente, Jahrgang 1978, ist gelernter Industriemechaniker und betrieb acht Jahre lang den Blog »ad sinistram«. Von 2017 bis 2024 war er Mitherausgeber des Blogs »neulandrebellen«. Er war Kolumnist beim »Neuen Deutschland« und schrieb regelmäßig für »Makroskop«. Seit 2022 ist er Redakteur bei »Overton Magazin«. De Lapuente hat eine erwachsene Tochter und wohnt in Frankfurt am Main.
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