„Wir, die Völker der Vereinten Nationen (sind) fest entschlossen,
künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu
unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat,
unseren Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der
menschlichen Persönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie
von allen Nationen, ob groß oder klein, erneut zu bekräftigen…“
Eine Artikelreihe von Michael von der Schulenburg

Mit diesen einfachen, aber tief bewegenden und für die Zukunft der Menschheit so
unendlich wichtigen Worten beginnt die Präambel der Charta der Vereinten Nationen,
die vor 80 Jahren verfasst wurde. Die Unterzeichner, die sich 1945 in San Francisco
zusammenfinden, sind sich einig: Nach zwei verheerenden Weltkriegen sollen nun die
Würde des Menschen, freundschaftliche Beziehungen zwischen den Völkern und eine
Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten im Mittelpunkt des politischen Handelns stehen.
Und vor allem soll es von nun an keine Kriege mehr geben – weder Präventivkriege noch
Angriffskriege. auch der über Jahrhunderte gültige Unterschied zwischen „gerechten“ und
„ungerechten“ Kriegen wird von der Charta nicht mehr gemacht. Eben keine Kriege!
Alle Mitgliedstaaten stehen nun gleichermaßen in der Verpflichtung, ihre Streitigkeiten und
Konflikte ausschließlich durch Verhandlungen zu lösen und einen friedlichen Ausgleich
ihrer Interessen zu suchen – ohne Gewalt anzudrohen oder gar anzuwenden. Das gilt
selbstverständlich auch für bereits ausgebrochene Kriege. „Lasst uns miteinander reden
und nicht aufeinander schießen“ und „lasst uns zusammenarbeiten und einander nicht
feindlich gegenüberstehen“ – das sind die Kernbotschaften der Charta der Vereinten
Nationen.
Heute haben 193 Staaten die UN-Charta nicht nur unterzeichnet, sondern auch ratifiziert.
Damit sollten die Prinzipien der Charta – ihr Bekenntnis zum Frieden – universelle Geltung
haben, also das Fundament des internationalen Rechts für alle Staaten und alle Menschen
dieser Erde bilden. Doch dem ist nicht so – vor allem nicht in den westlichen Ländern. Statt
die Prinzipien der Charta hochzuhalten und zur Konfliktlösung auf Diplomatie zu setzen,
beginnt man, uns auf einen nahenden Krieg einzustimmen. Si vis pacem, para bellum –
„Wenn du den Frieden willst, bereite den Krieg vor“ heißt die Parole. Von der UN-Charta
wird kaum noch gesprochen – und wenn doch, dann oft nur, um Kriege wie den seit über
dreieinhalb Jahren andauernden Ukraine-Krieg zu rechtfertigen. Man kann keinen so
langen Krieg mit einer Charta rechtfertigen, die „Nie wieder Krieg“ und die Würde des
Menschen auf ihre Fahnen geschrieben hat!
Angesichts der erschreckenden Entwicklung immer zerstörerischer Waffensysteme in
einer Welt, in der Sicherheit mit dem Besitz von Atomwaffen verwechselt wird, sollten wir
uns wieder an die UN-Charta erinnern. Ja, sie ist heute von noch größerer Bedeutung als
in der Zeit, als sie unmittelbar nach den Weltkriegen geschrieben wurde. Fanden in den
drei Jahrzehnten der beiden Weltkriege rund 80 Millionen Menschen den Tod, könnte ein
Dritter Weltkrieg in nur wenigen Minuten die gesamte Menschheit und alles Leben auf der
Erde auslöschen.
Die Leitsätze der UN-Charta – „Nie wieder Krieg“ und der Erhalt der „Würde des
Menschen“ – gewinnen dadurch an noch größerer Bedeutung. Wir werden diese Leitsätze
der UN-Charta dringend benötigen, wenn diese Kriege hoffentlich einmal vorbei sind
und sich die verantwortlichen Politiker zusammensetzen, um eine zukünftige globale
Sicherheitsordnung zu vereinbaren.
Gerade in unserer heutigen Zeit ist es eine Herausforderung, sich für Frieden, Dialog und
Verständigung starkzumachen. Wer sich für diplomatische Lösungen einsetzt, wird oft
als naiv belächelt oder gar diffamiert – als „Appeaser“ oder gar als Sprachrohr fremder
Interessen dargestellt. Es braucht Mut, sich dem Zeitgeist entgegenzustellen.
Dieses Buch wendet sich an Menschen, die an die Kraft des Völkerrechts glauben und
die Prinzipien der Charta der Vereinten Nationen (UN-Charta) verteidigen – auch wenn
sie dafür als weltfremd gelten. Letztlich sind jene, die „Kriegstüchtigkeit“ und Aufrüstung
als Lösungen ansehen, weltfremd. Nachhaltige Sicherheit und ein dauerhaft friedliches
Zusammenleben lassen sich nicht durch immer mehr Waffen, sondern nur durch
gegenseitige Verständigung erreichen.
In dieser Broschüre haben wir sechs Artikel zusammengestellt, die verschiedene
Aspekte der UN-Charta beleuchten. Da die Artikel 3, 4 und 5 bereits früher verfasst und
veröffentlicht wurden, kommt es stellenweise zu Wiederholungen in den Argumenten. Die
Artikel können dadurch aber auch unabhängig voneinander gelesen werden.
- Frieden als Schicksalsfrage der Menschheit
Warum das internationale Recht an Bedeutung verloren hat – und welche geopoliti-
schen Entwicklungen eine Rückbesinnung auf die UN-Charta dringend erforderlich
machen. - Verhandeln und nicht schießen
Eine Analyse der Kriege wischen Russland und Ukraine sowie zwischen Israel und
Iran – und wie die Verweigerung von Verhandlungen zu Krieg und Eskalation geführt
haben. - Eine auf der UN-charta aufbauende zukünftige Weltfriedensordnung
Warum eine neue Friedensordnung auf der UN-Charta basieren muss – und weshalb
es dazu keine Alternative gibt. - Warum der Westen die UN-Charta braucht
Eine kritische Betrachtung der „regelbasierten Ordnung“ und ein Plädoyer für die
Rückkehr zum Völkerrecht – auch im Interesse westlicher Staaten. - Die UN-Charta und der Ukrainekrieg
Eine Untersuchung der Ursachen des Ukrainekriegs – und wie die strikte Einhaltung
der UN-Charta ihn möglicherweise hätte verhindern können. - Deutschlands Spiel mit dem Krieg
Eine Analyse des ambivalenten Verhältnisses Deutschlands zur UN-Charta – und der
Risiken, die daraus entstehen.
Teil 1: Krieg und Frieden – die Schicksalsfrage der Menschheit
Die Frage von Krieg und Frieden – also die Frage, ob ein Frieden nur durch militärische Stärke und, falls notwendig, auch durch Kriege herbeigeführt werden müsse oder ob er doch über friedliche Konfliktlösungen wie durch Verhandlungen und Diplomatie gewährleistet werden kann – hat angesichts der wiedererstandenen Feindbilder, der massiven Aufrüstungsbemühungen und vor allem des Ukrainekriegs und der Kriege Israels eine entscheidende Bedeutung gewonnen.
Haben also jene recht, die diese Frage mit dem alten römischen Spruch beantworten: „Wenn du den Frieden willst, bereite den Krieg vor“? Oder sollte nicht vielmehr für uns alle der Aufruf aus der Präambel der Charta der Vereinten Nationen gelten: „Wir, die Völker der Vereinten Nationen (sind) fest entschlossen, künftige Generationen vor der Geißel des Krieges zu bewahren …“?
Letztlich geht es um die grundlegende Frage, ob die Entwicklung von Waffensystemen mit immer größerer Zerstörungskraft oder eher das auf der Charta der Vereinten Nationen basierende Völkerrecht dazu beitragen kann, Frieden in der Welt zu schaffen und dauerhaft zu sichern. Wir stehen damit erneut vor einer der zentralen ethisch-politischen Fragen der Menschheitsgeschichte: Frieden durch Abschreckung und Gewalt – oder durch allgemeines Recht und internationale Kooperation. Angesichts der rasanten Entwicklung von Massenvernichtungswaffen erhält die Beantwortung dieser Frage eine überlebenswichtige Bedeutung für die gesamte Menschheit.
Der gefährliche Hang zur militärischen Gewalt
Heute scheint in den westlichen Ländern diese Frage entschieden zu sein. Mehr als jemals seit dem Ende des Kalten Krieges – ja, vielleicht sogar mehr als seit dem Ende der beiden Weltkriege – hat sich dort die erschreckende Überzeugung durchgesetzt, dass Frieden nur durch die Androhung oder gar den Einsatz von Waffen verteidigt werden könne.
Hingegen haben die Prinzipien der Charta der Vereinten Nationen, die als für alle Staaten gleichermaßen anzuwendende Grundlage für Konfliktlösungen gelten, nahezu vollständig an Bedeutung verloren. Dies hat wiederum zur Erosion des auf der UN-Charta basierenden Völkerrechts geführt.
Diese besorgniserregende Entwicklung – weg vom Völkerrecht hin zu militärischer Gewalt – zeigt sich besonders deutlich in den beiden derzeit dominierenden zwischenstaatlichen Konflikten: dem Krieg Russlands gegen die Ukraine und dem Krieg Israels gegen den Iran. Beide sind die ersten Auseinandersetzungen seit dem Abwurf der Atombomben am Ende des Zweiten Weltkriegs, in denen Nuklearwaffen wieder eine strategische Rolle spielen und den Ausgang der Kämpfe maßgeblich beeinflussen. In beiden Kriegen wäre also das undenkbare denkbar: der Einsatz von Atomwaffen. Heute existieren weltweit über 12.000 Atomwaffen, von denen einige bis zu 80-mal stärker sind als jene, die auf Hiroshima abgeworfen wurden. Damit geht von diesen beiden Kriegen eine bislang nie dagewesene Gefahr für die gesamte Menschheit aus.
Ein entscheidender Aspekt bei der Einschätzung der Risiken ist, dass sich in beiden Kriegen militärische Niederlagen für die strategischen Partner des Westens, der Ukraine und Israels, abzeichnen. Diese Niederlagen würden zudem in eine Zeit fallen, in der sich mit dem zunehmend selbstbewussten Auftreten der BRICS-Plus-Staaten und der Shanghai Cooperation Organisation (SCO) eine fundamentale geopolitische Verschiebung vollzieht – politisch, wirtschaftlich und technologisch. Diese Niederlagen stehen daher für den zunehmenden Zerfall der einstigen weltpolitischen Dominanz des Westens und einer vom Westen propagierten regelbasierten internationalen Ordnung.
Die zentrale Frage lautet daher: Wird der Westen – insbesondere die NATO-Staaten – die geopolitischen Veränderungen und den Verlust ihrer einst dominierenden Rolle akzeptieren oder versuchen, diese durch militärische Eskalation aufzuhalten? Letzteres würde die Welt gefährlich nahe an einen nuklear geführten Dritten Weltkrieg bringen. Könnten wir uns aber angesichts dieser Bedrohung doch wieder auf das Friedensgebot der UN-Charta besinnen und versuchen, beide Konflikte durch Verhandlungen zu lösen?
Trotz berechtigter Kritik an seiner Entscheidungsfindung sind die diplomatischen Bemühungen von Präsident Trump – insbesondere sein Treffen mit Präsident Putin in Alaska – ein Hoffnungsschimmer. Dass hingegen viele europäische NATO-Staaten weiterhin auf Konfrontation setzen und Trumps Friedensinitiativen im Ukrainekrieg zu untergraben versuchen, erscheint angesichts der unmittelbaren Bedrohungslage für Europa schwer nachvollziehbar. Denn insbesondere bei einer nuklearen Eskalation der Kriege könnte der europäische Kontinent zum Schlachtfeld werden. Da würde eine Hochrüstung auch nicht helfen. Wäre es hier nicht sicherer, doch den in der UN-Charta geforderten Verhandlungsweg zu nehmen?
Die Zerrüttung des Völkerrechts
Die geopolitischen Entwicklungen der letzten Jahre werfen die Frage auf, ob ein allgemein anerkanntes und wirksam angewandtes Völkerrecht – basierend auf dem Friedensgebot der UN-Charta – überhaupt noch existiert. Die ernüchternde Antwort: wohl kaum.
Während die UN-Charta im Kalten Krieg weitgehend blockiert war, wurde sie nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Sie trug dann auch zur Entspannungspolitik der 1970er und 1980er Jahre wie zur Schlussakte von Helsinki (1975) und den vielen Rüstungskontrollverträgen und den Aufbau von vertrauensbildenden Maßnahmen bei.
1990 ermöglichte der UN-Sicherheitsrat sogar kollektive militärische Maßnahmen unter Artikel VII der UN-Charta zur Befreiung Kuwaits. Solche Kooperationen erscheinen heute undenkbar.
Der Zerfall der UN-Charta begann mit der Missachtung des Gewaltverbots und der Umgehung des alleinigen Rechtes des UN-Sicherheitsrates über militärische Maßnahmen zu entscheiden. Damit wurde das kollektive Sicherheitssystem der UN de-facto außer Kraft gesetzt. Immer häufiger griffen Staaten – direkt oder indirekt – militärisch in andere Länder ein, wenn es ihren Interessen diente. Das betrifft Russland und Israel ebenso wie viele andere Staaten. Insbesondere NATO-Staaten intervenierten wiederholt militärisch ohne UN-Mandat: ob in Jugoslawien (1999), Irak (2003), Libyen (2011), Syrien (2017/18) oder durch Einflussnahme in der Ukraine seit 2014. Laut dem US-Kongress intervenierten die USA zwischen 1992 und 2022 in 251 Fällen militärisch in Drittstaaten. Auch sind Sanktionen gegen Drittstaaten, extra-legale Tötungen oder gar ein Kopfgeld auf einen Präsidenten eines anderen Landes ohne UN-Mandat kaum mit der UN-Charta vereinbar. Wir rutschen so in eine Welt, in der nur das Recht des Stärkeren gilt – genau das, was durch das Völkerrecht verhindert werden sollte.
Besonders gravierend ist das Vorgehen Israels in Gaza und der Westbank, das fundamentale Normen der UN-Charta und der Vierten Genfer Konvention in einer Form eklatant verletzt, wie wir das seit den Verbrechen des Zweiten Weltkriegs in der westlichen Welt nicht mehr gekannt haben. Dass diese mit westlichen Waffen begannen und weitestgehend stillschweigend geduldet werden, wirft einen zutiefst dunklen Schatten über die westliche Welt und entlarvt die Doppelmoral einer angeblich auf liberalen Werten und Menschenrechten basierenden regelbasierten internationalen Ordnung.
In den 1980er- und frühen 1990er-Jahren waren Rüstungskontrollabkommen und vertrauensbildende Maßnahmen entscheidende Schritte, um die Gefahr eines erneuten Weltkriegs zu bannen und die Welt friedlicher zu gestalten. Diese Vereinbarungen wurden im Einklang mit der Charta der Vereinten Nationen durch Verhandlungen zwischen Gegnern erreicht – nicht durch die Androhung von Gewalt. Heute sind alle dieser Abkommen, mit der Ausnahme des Atomwaffensperrvertrages und des Neu START-Vertrages, von den USA einseitig gekündigt, nicht verlängert oder nicht ratifiziert worden – und das bei gleichzeitig rasanter Entwicklung immer zerstörerischer Waffensysteme. Auch Neu START läuft Ende 2025 aus. Bleibt dann nur der uneffektive Atomwaffensperrvertrag übrig, der kaum ein Land von einer atomaren Bewaffnung abhalten kann?
Nun haben einige europäische Staaten sogar angekündigt, aus der erst 1997 verabschiedeten Ottawa-Konvention zum Verbot von Antipersonenminen auszutreten.
Als Begründung wird die russische Bedrohung angeführt. Viele erinnern sich noch an Prinzessin Diana, deren Engagement gegen diese besonders für Zivilisten gefährliche Waffe weltweit große Anerkennung fand. Das zeigt, wie sehr wir in nur wenigen Jahren vom Weg zu einer friedlicheren Welt abgekommen sind.
Um eine friedliche Zukunft für den durch den Kalten Krieg zerrissenen europäischen Kontinent zu ermöglichen, wurden mehrere auf der UN-Charta basierende Vertragswerke geschaffen – darunter die Schlussakte von Helsinki (1975), die Charta von Paris für ein neues Europa (1990), die Europäische Sicherheitscharta (1999) sowie der Zwei-plus-Vier-Vertrag (1990), der den Weg zur Wiedervereinigung Deutschlands ebnete. Doch wer spricht heute noch von ihnen? Wer erinnert sich daran, dass sich einst alle europäischen Staaten darauf geeinigt hatten, ein gemeinsames Europa und ein gemeinsames Sicherheitssystem aufzubauen – basierend auf dem Prinzip, Sicherheit nicht auf Kosten anderer Staaten zu suchen? In diesen Dokumenten war von einer NATO, die heute vorgibt, Sicherheit in Europa zu gewährleisten, keine Rede.
Die UN-Charta betont bereits in ihrer Präambel, dass „die Achtung vor den Verpflichtungen aus Verträgen und anderen Quellen des Völkerrechts“ eineGrundvoraussetzung für Frieden ist. Frieden basiert auf gegenseitigem Vertrauen – gegenseitiges Misstrauen hingegen ebnet den Weg zu Konflikten. Wenn nun die ehemalige deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel und der ehemalige französische Präsident François Hollande rückblickend einräumen, dass das Minsk-II-Abkommen vor allem dazu diente, der Ukraine Zeit zur Stärkung ihrer Verteidigung zu verschaffen, wirft das Fragen zur Aufrichtigkeit der Verhandlungsführung auf.Es gibt sehr viele andere Beispiele in denen Verträge nicht eingehalten werden und so Vertrauen verspielt wird. Ein verlorenes Vertrauen erschwert dann die Lösung internationaler Konflikte – nicht nur in der Ukraine.
Warum brauchen wir wieder ein Völkerrecht, das auf der UN-Charta aufbaut?
In einer Welt, die von immer neuen, immer zerstörerischeren Waffensystemen geprägt ist, stellt sich eine scheinbar naive Frage: Was vermögen Worte gegen Raketen? Was kann eine Charta gegen Hyperschallwaffen, Drohnenschwärme und nukleare Abschreckung ausrichten?
Doch gerade diese Frage ist heute relevanter denn je. Denn wenn wir im 21. Jahrhundert, in dem die Welt durch Technologie, Handel und Kommunikation enger zusammenrückt, weiterhin auf das Prinzip „Si vis pacem, para bellum“ – „Wenn du den Frieden willst, bereite den Krieg vor“ – setzen, erhöhen wir nicht unsere Sicherheit, sondern riskieren unsere gemeinsame Zukunft.
Hier sind fünf Gründe, warum wir dringend zu einem Völkerrecht zurückkehren müssen, das auf der Friedensbotschaft der UN-Charta basiert – und warum die Charta über die Auffassung, dass ein Frieden nur über Kriegsvorbereitungen zu erreichen sei, triumphieren sollte:
(1) Hochrüstung schafft keine Sicherheit
Im Europäischen Parlament rechtfertigte der EU-Kommissar für Verteidigung, Andrius Kubilius, die im Weißbuch der Kommission vorgesehene Militarisierung der EU mit „Si vis pacem, para bellum“. Doch wenn dieser Satz zum Leitmotiv aller Staaten werden würde, droht eine Spirale der Aufrüstung: Jede Aufrüstung eines Staates provoziert eine stärkere Aufrüstung der anderen.
Das Ergebnis wäre eine Welt, in der immer mehr Länder nach nuklearer Bewaffnung streben – nicht aus Aggression, sondern aus Angst. Nordkorea dient als Beispiel: Durch eigene Atomwaffen ist das Regime heute nahezu unangreifbar. Sollte der Iran nach dem israelischen Angriff ebenfalls nuklear aufrüsten, könnten Staaten wie Saudi-Arabien, Ägypten oder die Türkei folgen. Auch in Deutschland wird heute über eigene Atomwaffen diskutiert. Und was wäre dann mit Italien und Polen, oder gar Japan, Südkorea, Australien? Ja, und was würde passieren, wenn auch die Ukraine oder Taiwan nuklear aufrüsteten? Kaum auszudenken! Eine Welt mit 50 oder mehr Nuklearmächten wäre keine sichere Welt. Sie wäre einPulverfass, in dem ein einziger Funke genügen könnte, um eine globale Katastrophe auszulösen.
Im Übrigen stammt dieser Spruch vom römischen Militärschriftsteller Vegetius, der gegen Ende des 4. Jahrhunderts n. Chr. lebte – also in der Spätphase des Weströmischen Reiches. Seine Mahnung, sich für den Frieden kriegerisch zu rüsten, hat Rom jedoch nicht vor dem Untergang bewahrt. Vielleicht sollte gerade das eine Lehre für uns sein, statt die EU durch unsinnige Militarisierung und Kriegsrhetorik zu gefährden.
(2) Die Welt ist zu klein für heutige Kriege
Die Entwicklungen moderner Waffensysteme machen Kriege durch das gegenseitige Zerstörungspotenzial zunehmend unmöglich. Bereits während des Kalten Krieges schreckte man vor einem Atomkrieg aufgrund der „gegenseitig gesicherten Zerstörung“ zurück – eine Abschreckung, die damals auf nur zwei Supermächte, die USA und die Sowjetunion, beschränkt war.
Heute sind Atomwaffen und die dazugehörigen Raketensysteme für deutlich mehr Staaten zugänglich. Und nicht nur das: Es existieren inzwischen Waffensysteme, deren Zerstörungskraft alles übersteigt, was es im Kalten Krieg gab. Dazu zählen „intelligente“ Atomwaffen, Hyperschallraketen und Tarnkappentechnologien, mit denen gegnerische Ziele in kürzester Zeit präzise und unentdeckt getroffen werden können. Hinzu kommen neue Kriegskategorien wie der Cyberkrieg und der Krieg im Weltraum, bei denen künstliche Intelligenz zunehmend menschliche Entscheidungen ersetzt. Unter diesen Bedingungen kann kein Staat mehr einen Sieg erwarten. Man könnte beinahe hoffen, dass sich solche Waffensysteme durch ihre eigene Bedrohlichkeit eines Tages selbst abschaffen.
(3) Die Kriegshysterie ist ein westliches Phänomen
Eine wahre Kriegshysterie hat die westliche Welt ergriffen – insbesondere die europäischen NATO-Staaten. Wer in Deutschland, Frankreich, Schweden usw. lebt, wird von Politikern und Medien fortwährend auf eine angeblich immanente Kriegsgefahr hingewiesen. Es wird behauptet, nur konsequente Aufrüstung und eine gesteigerte Kriegstüchtigkeit könnten uns vor den Diktaturen Russlands, Chinas, Irans oder gar Nordkoreas retten.
Man spricht davon, dass es in fünf Jahren, vielleicht sogar schon in drei Jahren, zu einem Krieg kommen werde. Die Streitkräfte müssten daher unbedingt aufgestockt werden. Schon heute machen die Verteidigungsausgaben der NATO rund 55 % der weltweiten Militärausgaben aus – verglichen mit geschätzten 13 % von China, 6 % von Russland und 3,5 % von Indien.
Mit den nun von NATO-Mitgliedsländern beschlossenen Erhöhungen ihrer nationalen Verteidigungsbudgets auf 5 % des Bruttoinlandsprodukts würden sich die Verteidigungsausgaben der NATO-Staaten nochmals verdoppeln. Die NATO, deren Bevölkerungsanteil weltweit etwa 10 % beträgt, könnte im Jahr 2035 über 70 % (oder mehr) aller globalen Militärausgaben kontrollieren. Wie ist das gegenüber der 90% der Weltbevölkerung zu rechtfertigen?
Diese Fragen stellen sich vor allem vor dem Hintergrund, dass konkurrierende Staatensysteme wie BRICS+ oder die SCO, die den NATO-Staaten nicht nur demografisch, sondern auch zunehmend wirtschaftlich und technologisch den führenden westlichen Wirtschaftsmächten der G-7 überlegen sind, bislang keine vergleichbare Militärallianz aufgebaut haben. Wie können wir ständig von einer Kriegsgefahr sprechen und gleichzeitig einen Großteil der Welt als Feinde betrachten? Sollte die militärische Überlegenheit des Westens nicht vielmehr die Flexibilität bieten, auf andere Staatengruppen zuzugehen und mit ihnen über ein globales Sicherheitssystem zu verhandeln? Wäre es nicht jetzt verantwortungsvoll, wieder über Rüstungskontrolle und vertrauensbildende Maßnahmen zu sprechen?
(4) Eine Welt im Umbruch
Ein Grund, warum es so schwer ist, eine Lösung für die aktuellen Kriege zu finden, liegt offenbar in der enormen Geschwindigkeit, mit der geopolitische Veränderungen derzeit voranschreiten. Denn unser Denken und unsere Haltung gegenüber diesen Konflikten sind weiterhin davon geprägt, dass die westliche Welt die dominierende Kraft auf dem Globus sei – eine Kraft des Guten, wie wir glauben, die im Gegenzug für ihren Führungsanspruch dem Rest der Welt Demokratie, Rechtsstaatlichkeit sowie ein liberales und damit erfolgreiches Wirtschaftssystem anbietet.
Und tatsächlich: Die westliche Welt war in den vergangenen 250 Jahren – manche würden sagen, sogar noch viel länger – die wirtschaftlich, technologisch und militärisch führende globale Macht. Nach dem Zusammenbruch des Warschauer Pakts und der Sowjetunion in den 1990er-Jahren schien sich diese Dominanz noch einmal zu bestätigen. Und plötzlich ist all das vorbei.
Noch vor vier Jahren beschrieben wir Russland mit dem McCain Zitat abwertend als eine „Tankstelle, die sich als Land ausgibt“. Als der Krieg in der Ukraine ausbrach, war man sich sicher, dass dieses Russland gegen eine mit westlichen Waffen ausgestattete Ukraine eine krachende Niederlage erleiden müsse. Und nun?
Noch vor einem Jahr hielten wir Israel unter seinem Eisernen Dom für unbesiegbar, während unser Bild vom Iran weitgehend von Karikaturen schmuddeliger „Mullahs“ geprägt war. Doch es war Israel, das – getroffen von iranischen, zielgenauen Raketen – um einen Waffenstillstand ersuchte.
Diese Niederlagen sind Anzeichen dafür, dass sich die Welt in nur wenigen Jahren grundlegend verändert und zu fundamentalen geopolitischen Umbrüchen geführt hat, die alle Bereiche der internationalen Ordnung erfasst haben – seien sie demografisch, wirtschaftlich, technologisch oder sicherheitspolitisch. Daran wird der Westen nichts mehr ändern können.
So ist eine multilaterale Ordnung im Entstehen, in der der Westen seine Macht mit anderen Machtzentren teilen muss. Westliche Akteure wie die USA und die Europäische Union werden künftig nur noch zwei unter mehreren Machtzentren sein – und dabei vielleicht nicht einmal mehr die stärksten. Der Westen muss nun lernen, diese neuen Realitäten anzuerkennen und sich bescheidener und kooperativer als bisher aufzustellen. Wie schwer das ist, wissen wir alle aus unseren persönlichen Erfahrungen.
Die BRICS-Staaten sowie die SCO betonen immer wieder die zentrale Rolle der UN-Charta in einer zukünftigen multipolaren Welt und einer internationalen Ordnung, die auf deren Prinzipien basiert: friedliche Koexistenz und Vermeidung von Kriegen, das Recht auf soziale und wirtschaftliche Entwicklung, gleiche Souveränität und Nicht-Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten. Das sind doch alles Werte der UN-Charta, die einst ihren Ursprung in westlichen Gesellschaften hatten. Warum sollten wir sie also als Feinde betrachten? Liegt hierin nicht sogar eine einzigartige Chance für die USA und die EU, mit den BRICS-Staaten, der SCO und anderen regionalen Organisationen zusammenzuarbeiten, um eine auf der UN-Charta basierende kollektive Sicherheitsstruktur gleichberechtigter Staaten aufzubauen? Der Westen hat doch keine Alternative.
(5) Welches Menschenbild haben wir von uns selbst?
Aber vielleicht ist es das Menschenbild, das wir von uns selbst haben – und das wir immer wieder erneuern und fördern sollten –, das den tieferen Grund dafür bildet, warum wir zurückkehren sollten zu einer Welt, in der friedliche Beziehungen zwischen Staaten und deren Bürgern durch die Charta der Vereinten Nationen, die Allgemeinen Menschenrechte und das daraus entstandene Völkerrecht aufgebaut werden.
Wenn ein EU-Kommissar die europäische Sicherheitspolitik mit den Worten „Si vis pacem, para bellum“ beschreibt, ohne auch nur die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, Sicherheit durch Dialog und gegenseitiges Entgegenkommen zu erreichen, geht er von einem ausgesprochen negativen Menschenbild aus. In diesem wird jeder dem anderen zum Feind, und menschliche Gesellschaften entstehen, deren Beziehungen – sowohl nach innen als auch nach außen – durch Gewalt bestimmt werden und wiederum nur durch Gewalt oder deren Androhung kontrolliert werden können.
Während Hobbes mit dem „Krieg aller gegen alle“ lediglich den Naturzustand des Menschen beschreibt, geht die EU einen erschreckenden Schritt weiter und überträgt dieses Bild auf die gesamte menschliche Zivilisation und die Staatengemeinschaften. Wie kann eine Institution wie die EU, die einst als Friedensprojekt gegründet wurde, in derartige Tiefen der Verachtung gegenüber dem Menschen und seiner Zivilisation verfallen?
Demgegenüber ist der vielleicht erstaunlichste und berührendste Aspekt der UN-Charta, dass sie – nach den menschlichen Abgründen mit Millionen von Kriegsopfern und dem millionenfachen Mord an unbewaffneten Menschen im Namen des Rassenwahns Nazi-Deutschlands und der Überlegenheitsideologie Japans – auf einem ausgesprochen positiven Menschenbild aufbaut.
Indem die Charta alle Mitgliedsstaaten dazu auffordert, ihre Konflikte friedlich zu lösen, geht sie davon aus, dass dies nicht nur erstrebenswert, sondern auch möglich ist. Sie basiert auf dem Bild eines vernunftbegabten, empathiefähigen und sozial verantwortlichen Menschen – eines Menschen, der mit allen anderen Menschen unabhängig seiner ethnischen oder religiösen Identitäten gleiche Rechte und Pflichten sowie das Streben nach Frieden teilt. So sollten auch die Prinzipien der UN-Charta die Leitfäden für alle Menschen sein, die sich für Frieden einsetzen. Deshalb beginnt die Charta auch mit den Worten:
Wir die Menschen
Michael von der Schulenburg, Mitglied des EU-Parlaments für das Bündnis Shara Wagenknecht, Unterstützer der deutschen Friedensbewegung und ehemaliger Assistant Secretary-General der Vereinten Nationen, floh 1969 aus der DDR, studierte in Berlin, London und Paris, arbeitete und lebte über 34 Jahre in Friedens- und Entwicklungsmissionen der Vereinten Nationen und kurz der OSZE in vielen Ländern, die durch Kriege, durch Konflikte mit bewaffneten nichtstaatlichen Akteuren oder durch ausländische Militärinterventionen geschwächt und zerrissenen waren. Seit 1992 war er in leitender Funktion dieser Friedensmissionen. Zu diesen gehörten langfristigen Einsätzen in Haiti, Pakistan, Afghanistan, Iran, Irak und Sierra Leone sowie kürzere Einsätze in Syrien, in Somalia, auf dem Balkan, in der Sahelzone und in Zentralasien.
Seit seiner Pensionierung hat Schulenburg viele Vorträge in akademischen Institutionen gehalten und Artikel zu Themen wie UN-Reformen, nicht-staatliche bewaffnete Akteure, Kriege innerhalb von Staaten aber auch über die Kriege in Afghanistan, Irak und Ukraine veröffentlicht. 2017 erschien sein Buch On Building Peace – Rescuing the Nation-State and Saving the United Nations, AUP. He is active in the German peace movement. (www.michael-von-der-schulenburg.com)
Disclaimer: Berlin 24/7 bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion Berlin 24/7 widerspiegeln. Wir bemühen uns, unterschiedliche Sichtweisen von verschiedenen Autoren – auch zu den gleichen oder ähnlichen Themen – abzubilden, um weitere Betrachtungsweisen darzustellen oder zu eröffnen.