„Wir, die Völker der Vereinten Nationen (sind) fest entschlossen,
künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu
unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat,
unseren Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der
menschlichen Persönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie
von allen Nationen, ob groß oder klein, erneut zu bekräftigen…“
Eine Artikelreihe von Michael von der Schulenburg

Wie unterscheiden sich die Kriege Russlands und Israels aus der Perspektive der UN-Charta
Die Charta der Vereinten Nationen (UN) verbindet das Verbot militärischer Gewalt zur Durchsetzung politischer Ziele mit dem Gebot, Konflikte auf friedlichem Wege zu lösen. Ein bloßes Verbot militärischer Gewalt zur Konfliktlösung würde auch keinen Sinn ergeben, denn Konflikte zwischen Staaten wird es immer geben – und diese müssen gelöst werden. Wenn nicht durch Gewalt, dann eben durch Verhandlungen. Daher haben sich in der UN-Charta alle Mitgliedsstaaten verpflichtet, ihre Konflikte ausschließlich durch Verhandlungen zu lösen und auf die Anwendung von Gewalt zu verzichten. In diesem Beitrag wollen wir zwei Kriege im Hinblick auf diese Kernaussage der UN-Charta untersuchen: Russlands Angriff auf die Ukraine 2022 und Israels Angriff auf den Iran im Sommer 2025.
Die Kernfragen, die wir uns stellen müssen, sind folgende: Ist es zu diesen beiden Kriegen gekommen, weil die Diplomatie versagt hat, und welche der Kriegsparteien ist ihren Verpflichtungen aus der UN-Charta, Konflikte friedlich zu lösen, nicht nachgekommen? Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir uns das Verhalten sämtlicher Akteure ansehen, also nicht nur der Kriegsparteien Russland und Israel, sondern auch der Ukraine der NATO, der EU, der USA, einer Reihe an europäischen Staaten sowie des Iran.
Konflikte durch Verhandlungen zu lösen ist die eigentliche Aufgabe der Diplomatie. Betrachtet man jedoch den Ukrainekrieg und Israels Krieg gegen den Iran, so zeigt sich ein eklatantes Versagen der Diplomatie. Wer die Reden vieler der jeweiligen Außenminister in den letzten drei Jahren verfolgt hat, gewinnt den Eindruck, dass sie sich eher als Fürsprecher militärischer Gewalt denn als Vermittler diplomatischer Lösungen verstanden haben. Eine Kursänderung zumindest im Ukrainekrieg erfolgte in den USA erst mit der Amtsübernahme von Präsident Trump.
Zum UN-Charta-Verbot der Anwendung militärischer Mittel
In beiden Kriegen rechtfertigen Russland und Israel ihre militärischen Angriffe aufdie Ukraine bzw. den Iran als Präventionskriege. Russland argumentiert, mit seiner Intervention in der Ukraine eine Ausweitung der NATO bis an seine Grenzen verhindern zu wollen. Israel begründet seinen Angriff auf den Iran mit dem Ziel, den Bau einer Atombombe durch den Iran zu verhindern. Beide Staaten berufen sich auf eine angeblich existentielle Bedrohung ihrer nationalen Sicherheit. Die angegriffenen Staaten – die Ukraine und der Iran – entgegnen hingegen, dass von ihnen keine solche Gefahr ausgehe.
Völkerrechtlich ist die Lage eindeutig: Die UN-Charta erlaubt keine Präventionskriege – es sei denn, der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hätte diese autorisiert. Das ist nicht geschehen, und daher sind beide militärischen Angriffe auf einen anderen Staat nach internationalem Recht illegal – ebenso wie die amerikanischen Bombardierungen iranischer Nuklearanlagen. Die von Russland und Israelvorgebrachten Gründe, es handle sich um existenzielle Bedrohungen, spielen dabei keine Rolle. Die Entscheidung darüber, ob eine Gefährdung des internationalen Friedens vorliegt und ob dies ein militärisches Eingreifen rechtfertigt, obliegt dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (UN). In beiden Fällen jedoch war der UN-Sicherheitsrat durch die jeweiligen Vetos Russlands bzw. der USA blockiert.
Aus dem Artikel VI – Friedliche Beilegung von Streitigkeiten (Konflikten) ergibt sich, dass die Konfliktparteien sich um eine Lösung der Konflikte bemühen sollen, die zum Krieg geführt haben. Die Forderung der EU und des Vereinigten Königreich, keine Verhandlungen, sondern ausschließlich einen Waffenstillstand zu fordern entspricht nicht dem Geist der Charta. Selbstverständlich geht es darum, dass die Waffen schweigen.
Doch ohne eine Lösung des zugrunde liegenden Konflikts bliebe dieser bestehen – und damit auch die Gefahr eines erneuten Krieges. Erst wenn Verhandlungen nicht zum Erfolg führen, kann der Sicherheitsrat nach Artikel VII weiterführende Maßnahmen wie Sanktionen bis hin zu militärischen Maßnahmen autorisieren. Eine friedliche Konfliktlösung hat aber immer Vorrang.
In Deutschland wird fälschlicherweise oft, statt von den Ursachen, von einer „Vorgeschichte“ des Krieges gesprochen. Dadurch entsteht die Tendenz, den Krieg von den Ursachen zu trennen, die zu ihm geführt haben. Das verführt dann dazu, den Krieg ausschließlich unter moralischen Gesichtspunkten zu betrachten. Dabei wird – vielleicht sogar absichtlich – vergessen, dass Kriege zwar immer unmoralisch sind, es bei ihnen jedoch nicht um Moral, sondern um gegensätzliche Interessen geht.
In diesem Zusammenhang muss man auch die im Westen häufig wiederholten Hinweise auf Artikel 51 der UN-Charta zur Rechtfertigung der militärischen und finanziellen Unterstützung der Ukraine zur Fortsetzung des Krieges verstehen. Es stimmt: Nach Artikel 51 der Charta hat jedes Land im Falle eines Angriffs das Recht auf individuelle und kollektive Selbstverteidigung. Man kann aber nicht mit einer Charta, die für „Nie wieder Krieg“ steht, einen mittlerweile seit dreieinhalb Jahren andauernden Krieg, der massiv ohne Autorisierung durch die UN von der NATO und ihren Mitgliedstaaten unterstützt wird, rechtfertigen.
Artikel 51 entbindet keine der beiden Konfliktparteien von ihrer Verpflichtung, schnellstmöglich eine friedliche Lösung zu suchen. Die Tragik dieses schrecklichen Krieges liegt darin, dass sich Russland und die Ukraine zunächst konform zur UN-Charta verhalten und bereits nach fünf Wochen einen Rahmen für eine Friedenslösung abgesteckt hatten – also eine friedliche Lösung anstrebten. Doch dieser Prozess wurde von der NATO – allen voran den USA und dem Vereinigten Königreich – torpediert.
Zum UN-Charta-Gebot friedlicher Konfliktlösungen
Das Verbot militärischer Gewalt zur Konfliktlösung ist nur ein Aspekt der UN-Charta. Aus ihr ergibt sich zwingend eine zweite, vielleicht sogar wichtigere Perspektive: das Gebot, Konflikte friedlich beizulegen. Wenn man also die Frage stellt, ob sich Russland und Israel vor ihren militärischen Angriffen um eine – wie in der Charta vorgeschrieben – diplomatische Lösung bemüht haben und ob solche Bemühungen diese Kriege voraussichtlich hätten verhindern können, fällt das Urteil im Hinblick auf die Kriege Russlands gegen die Ukraine und Israels gegen den Iran sehr unterschiedlich aus.
(i) Russlands abgewiesene Verhandlungsbemühungen
Hätte der Ukrainekrieg durch Verhandlungen verhindert oder zumindest unmittelbar nach seinem Ausbruch beendet werden können? Die Antwort darauf fällt recht eindeutig mit ja aus.
Bereits seit 1997 – also noch unter Präsident Jelzin – wusste die NATO, dass eine Aufnahme der Ukraine in die NATO eine der „rotesten Linien“ Russlands überschreiten würde. Dennoch wurde dieses Ziel weiterverfolgt und beim NATO-Gipfel in Bukarest im Jahr 2008 offiziell verkündet. Dabei war klar, dass schon die bereits erfolgte Aufnahme einer Reihe von osteuropäischen Staaten in die NATO den Zusicherungen widersprochen hatte, die der damaligen Sowjetunion bei den 2 plus 4 Verhandlungen zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten gegeben worden waren und dass die potentielle Aufnahme der Ukraine in das westliche Verteidigungsbündnis von Russland nicht hingenommen werden würde.
Während Deutschland 2008 noch klar gemacht hatte, dass es eine rasche Aufnahme der Ukraine in die NATO skeptisch sieht und deshalb einer Einleitung des Membership Action Plans nicht zugestimmt hatte, blieb eine entsprechend klare Reaktion auch nach Aufnahme des NATO-Beitritts als Ziel in die ukrainische Verfassung 2019 aus. Seitdem versuchte Russland wiederholt, den sich abzeichnenden Konflikt durch Verhandlungen mit der NATO zu lösen. Im Juni 2021 kam es zu einem Treffen zwischen Präsident Putin und Präsident Biden in Genf, das jedoch in der Frage der Osterweiterung der NATO ergebnislos blieb. Im Dezember 2021 übermittelte Russland dem US-Präsidenten sowie der NATO-Führung ein schriftliches Verhandlungsangebot, die NATO-Osterweiterung zu stoppen – auch dieses wurde abgelehnt. Auch spätere Einzelbesuche von Bundeskanzler Scholz und Präsident Macron führten zu keinem Ergebnis. Keiner der beiden wollte Zusagen in der Frage der NATO-Erweiterung machen.
Nach dem Ausbruch des Krieges am 22. Februar 2022 ergab sich bereits nach fünf Wochen eine zweite Möglichkeit, den Konflikt durch eine Verhandlungslösung zu beenden: Am 29. März 2022 einigten sich ukrainische und russische Unterhändler in Istanbul auf einen Friedensplan mit zehn Vorschlägen. Diese stammten von ukrainischer Seite und sahen keine Gebietsverluste vor – lediglich für die Krim war eine Sonderregelung vorgesehen.
Doch schon am 24. März 2022 fand ein Sondergipfel der NATO statt, zu dem sogar Präsident Biden anreiste. Obwohl alle Beteiligten über die Fortschritte der ukrainisch-russischen Verhandlungen informiert waren, unterstützten sie diese nicht. Im Gegenteil: Sie lehnten jegliche Gespräche mit Russland ab, solange sich russische Truppen nicht vollständig aus der Ukraine zurückgezogen hätten.
Präsident Selenskyj versuchte noch eine Zeit lang, die Ergebnisse der Verhandlungen in der Türkei zu verteidigen, doch der Druck – insbesondere seitens der USA und Großbritanniens – überwog. Die Gespräche mit Russland wurden eingestellt.
Als im April 2022 der damalige US-Verteidigungsminister Lloyd Austin und Außenminister Antony Blinken Kiew besuchten, wurde klar, worum es ging: Man wollte Russland eine schwere Niederlage zufügen, es dauerhaft schwächen und glaubte bereits, den Krieg gewonnen zu haben. Eine Verhandlungslösung war nicht gewünscht. Denn durch eine russische Niederlage hätte die NATO die Kontrolle über die Ukraine und das Schwarze Meer erlangt – ein strategisch bedeutender Faustpfand auch in einer möglichen zukünftigen Auseinandersetzung mit China. In der US-Administration hatten sich diejenigen durchgesetzt, die auf eine Schwächung Chinas durch eine Zerstörung des engsten Verbündeten Pekings, Russland, setzten.
Die Ukraine wurde damit den geopolitischen Interessen der USA und der NATO geopfert. In den folgenden dreieinhalb Jahren bezahlte sie dafür mit einem sehr hohen Blutzoll. Die US-Regierung unter Präsident Biden und die britische Regierung unter Premierminister Johnson haben sich damit eine schwere Schuld aufgeladen. Während inzwischen von der Trump-Administration der Kurs der Verhandlungen eingeschlagen wurde, weil sie ein Bündnis zwischen Russland und China als gefährlichste Machtkonstellation gegenüber den USA einschätzt, hält die EU weiterhin an ihren Maximalforderungen gegenüber Russland fest und verweigert jegliche Kontakte mit Moskau. Dies stellt eine Verletzung der in der Charta der Vereinten Nationen geforderten Verpflichtung zu Verhandlungen dar.
(ii) Israels Sabotage von Verhandlungen
Der Iran befand sich mit den USA in Verhandlungen über sein Urananreicherungsprogramm, als Israel einen Angriff auf den Iran startete und versuchte, das iranische Nuklearprogramm und die militärische Infrastruktur des Landes zu zerstören und damit entscheidende Schritte vorzunehmen, um die dortige Regierung zu stürzen. Doch nicht nur das: Israel versuchte bereits in der ersten Angriffswelle, den Leiter des iranischen Verhandlungsteams gezielt zu töten.
Israels Angriff auf den Iran war nicht nur völkerrechtswidrig, sondern richtete sich offenbar gezielt gegen die in Oman stattfindenden Verhandlungen. Israel wollte offensichtlich nicht einmal die Ergebnisse dieser Gespräche abwarten, sondern nutzte gezielt die Verhandlungen, um einen Überraschungsangriff zu starten und die Verhandler des Iran zu töten.
Damit hat Israel, unterstützt von den USA, nicht nur einen völkerwidrigen Angriffskrieg unternommen, sondern hat auch noch der aus ihrer Mitgliedschaft in der UN resultierende Verpflichtung zu verhandeln, den „Krieg“ erklärt.
Dem Iran kann in diesem Zusammenhang keine Schuld nachgewiesen werden. Nicht nur hatte Teheran die Inspektionen der IAEA akzeptiert, sondern war auch in direkte Verhandlungen mit den USA über sein Atomprogramm eingetreten.
Gewinner und Verlierer
Betrachtet man den Verlauf beider Konflikte, kommt man zu einem bemerkenswerten Ergebnis: In beiden Fällen sind es die Konfliktparteien, die Verhandlungen abgelehnt haben, die als Verlierer dastehen. Was auch immer noch geschehen mag – eines steht bereits fest: Die NATO hat den Krieg in der Ukraine verloren. Ihr Ziel war es, Russland kleinzuhalten, doch Russland geht aus diesem Krieg als dritte Großmacht neben den USA und China hervor. Im Gegensatz dazu wird die EU extrem geschwächt aus diesem Konflikt hervorgehen. Daran ändern auch Vorbereitungen für eine militärische Auseinandersetzung mit Russland und die Diskussion um die Entsendung von Bodentruppen einer „Koalition der Willigen“ aus Deutschland, Frankreich und Großbritannien nichts.
Auch im Krieg Israels gegen den Iran besteht kaum ein Zweifel daran, dass Israel als Verlierer dasteht. Wollte Israel den Iran destabilisieren und dessen Fähigkeit zur Entwicklung einer Atombombe dauerhaft zerstören, so ist der Iran heute wohl geeinter als je zuvor. Zudem dürfte der Iran nun alles daran setzen, eine Atombombe zu entwickeln oder zu beschaffen, um so seine eigene Sicherheit zu stärken. Dabei würde er – ähnlich wie Israel – zu einer nicht-deklarierten Atommacht werden. Die Raketentechnologie, um eine solche Atomwaffe präzise auf ein Ziel in Israel zu bringen, ist bereits vorhanden.
Fazit
Verhandlungen mit dem Gegner über bestehende Konflikte lohnen sich – und sind keineswegs ein Zeichen von Schwäche, wie heute oft behauptet wird. Sie müssen aber ernsthaft und aufrichtig geführt werden. Die Ablehnung von Verhandlungen ist nicht nur ein Verstoß gegen die UN-Charta, sondern erweist sich zudem als nachteilig auch für die Konfliktbeteiligten, die die Verhandlungen zurückweisen oder torpedieren.
Michael von der Schulenburg, Mitglied des EU-Parlaments für das Bündnis Shara Wagenknecht, Unterstützer der deutschen Friedensbewegung und ehemaliger Assistant Secretary-General der Vereinten Nationen, floh 1969 aus der DDR, studierte in Berlin, London und Paris, arbeitete und lebte über 34 Jahre in Friedens- und Entwicklungsmissionen der Vereinten Nationen und kurz der OSZE in vielen Ländern, die durch Kriege, durch Konflikte mit bewaffneten nichtstaatlichen Akteuren oder durch ausländische Militärinterventionen geschwächt und zerrissenen waren. Seit 1992 war er in leitender Funktion dieser Friedensmissionen. Zu diesen gehörten langfristigen Einsätzen in Haiti, Pakistan, Afghanistan, Iran, Irak und Sierra Leone sowie kürzere Einsätze in Syrien, in Somalia, auf dem Balkan, in der Sahelzone und in Zentralasien.
Seit seiner Pensionierung hat Schulenburg viele Vorträge in akademischen Institutionen gehalten und Artikel zu Themen wie UN-Reformen, nicht-staatliche bewaffnete Akteure, Kriege innerhalb von Staaten aber auch über die Kriege in Afghanistan, Irak und Ukraine veröffentlicht. 2017 erschien sein Buch On Building Peace – Rescuing the Nation-State and Saving the United Nations, AUP. He is active in the German peace movement. (www.michael-von-der-schulenburg.com)
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