Bei Dostojewski erwachte Jesus Christus zum neuen Leben und sollte seinen Erben geopfert werden. Was, wenn eine Größe der Grünen wiederkehrte?
Ein Beitrag von Roberto J. De Lapuente
Auferstanden aus dem Reich der Toten, trat sie vor die Bundesgeschäftsstelle ihrer einstigen Partei, die nun am Platz vor dem Neuen Tor in Berlin zu finden ist. Während sie behutsam eintritt, beschäftigt sie immer noch mit jenes Kinoplakat, auf dem sie zu sehen war und auf dem auch ihr Name stand: Eine Dokumentation über ihr Leben. Man gedachte ihrer also noch immer, drei Jahrzehnte nach ihrem Abtritt von der Welt. Sie verdrängte diese Gedanken, denn zur Betrachtung kinematographischer Plakatierungen ward sie nicht erneuert, weswegen sie schnell weiterstrebte, weiter nach oben, dorthin wo Entscheidungsträger ihre Hintern in weiche Ledersessel pflanzten; wo sie mit solchen sprechen konnte, die nun jenen Posten innehatten, den auch sie von 1980 bis 1982 betraute. Aber just in jenem Moment, da sie die Anmeldung passierte, fasste man sie am Arm, forderte man sie auf anzuhalten, sprach sie sofort mit ihrem Namen an.
Warten auf die Messiasin
Halt, stehenbleiben, aber sofort, hieß sie ein junger Mann mit legendärer Berliner Freundlichkeit. Ihr Kommen wurde mir angekündigt, man hat mich an jenem Tage, da ich diese Stelle antrat, vor Ihrer Wiederkunft gewarnt; man warnte mich, noch bevor ich in die Funktion der Telefonanlage eingeweiht wurde, bereits beim Einstellungsgespräch kam man schon auf Sie zu sprechen. Halten Sie sie auf, wenn es je dazu kommt, dass diese Frau dieses Haus betritt, belehrte man mich. Man zeigte mir ein Bild von Ihnen. Halten Sie sie davon ab, uns hier droben aufzusuchen, damit sie uns aus ihrem angesäuerten, verdrossenen Gesicht heraus zürnt. Ich fragte, mich etwas dumm stellend: aber das ist doch die, na, wie hieß sie noch? … und sie sagten mir: ja, das ist sie! Keine Fragen dazu, schnitt man mich sofort ab. Wir ahnen, dass sie zurückkommen wird, wir glauben, dass sie keinen ruhigen Schlaf finden wird – wenn es so kommt, junger Mann, dann sind Sie unser Bollwerk. Halten Sie sie auf – und sorgen Sie dafür, dass wir sie nie zu Gesicht bekommen müssen.
Ihre eigentliche Aufgabe, teilte man mir damals mit, ist dann gekommen, wenn sie zurückkehrt, wenn sie Richtung Treppenhaus strebt, wenn sie uns an den Kragen will, von uns wissen will, warum alles so anders kam, so viel weniger pazifistisch, so viel weniger sozial – Telefonanlagen, sagte man mir, sind ja keine berufliche Erfüllung; auf die Rückkehr eines Messias zu warten – einer Messiasin, sagte die Dame beim Einstellungsgespräch –, wenn nötig Jahre, Jahrzehnte, sich dann in den Weg zu stellen, sie abzuschütteln, fernzuhalten: das ist wichtig, erfüllend, sinnstiftend, das ist eine tatsächliche, eine richtige Aufgabe. Bleiben Sie also unten, streben Sie nicht hinauf, riet man mir. Und ich rate es Ihnen ebenso: bleiben Sie unten, gehen Sie nicht hinauf. Ich bitte Sie inständig! Sehen Sie ein, dass Ihre Zeit vorbei ist, dass die Zeiten einer Partei, die wenigstens so tut, als würde sie sich ihrer gesellschaftlichen und friedenspolitischen Verantwortung stellen, grundlegend vorbei sind. Erkennen Sie bitte, dass Sie nicht mehr gebraucht werden!
Sie fürchten sich vor Ihnen!
Das heißt, Sie werden schon gebraucht. Dringlich gebraucht! Als überhöhtes Bild, als Konterfei nicht nur hier im Foyer, auch in der Parteihistorie, in der Ahnengalerie – man sieht Ihr Leben sogar im Kino! Und junge Leute aus der Partei treten in dem Film auf und schauen zu Ihnen auf. Sie sind eine posthume Helden. Sagen zu können, wir sind die politischen, parteilichen Kinder dieser Frau, ihre politischen Erben, ihre Enkel und Urenkel, »von ihrem Geist, durch sie geschweißt« – all das behaupten zu können, das ist märchenhaft für ein parteiliches Image. Auch dann, wenn die aktuelle Partei mit Ihnen, der Heilandin, wenig bis gar nichts mehr gemein hat. Das mit den fehlenden Gemeinsamkeiten sagen nicht die hohen Damen und Herren – das sage ich. Die hohen Tiere glauben sogar, dass sie es so machen, wie Sie es gemacht hätten, wenn Sie und Ihr Partner, der hochdekorierte Generalmajor, 1992 nicht abgetreten wären. Wenn man Jahre Zeit zum Nachdenken hat, weil man auf seine Aufgabe wartet, die möglicherweise genauso zuverlässig ist wie Becketts Godot, wenn man als Lohnabhängiger in die Rolle eines Estragon gerückt wird, dann denkt man automatisch über das Warum nach – was treibt diese kleinbürgerlichen Geizkragen dazu, jemanden wie mich hier entgeltlich warten und beobachten zu lassen? Die Angst, sage ich Ihnen – die blanke Angst! Sie ist es, die mir großzügige Monatslöhne überweist!
Sie fürchten sich vor Ihnen. So sehr, dass sie Sie nicht mal vor Augen bekommen wollen. Dort wo Sie waren, dort waren Sie denen gerade richtig. Sie hatten ihren Laden im Griff, konnten ihren ökologischen Anspruch runterschrauben, den Frieden als Thema aufgeben und sukzessive die eigene Parteibasis mürbe machen – und dann kommen Sie, in derer Tradition sich diese Leute wähnen. Dann stehen Sie plötzlich da, jemand der Frieden postulierte – eine Friedensliebe an den Tag legte, die die Klientel dieser Partei gar nicht mehr kennt. Die Köpfe der Partei wollen diesen Frieden natürlich schon – aber nur für sich selbst. Lassen Sie sie in Frieden! Ihre Rückkehr nährt Hoffnungen, verstehen Sie? Die Menschen würden wieder anfangen an eine Partei zu glauben, die den Frieden will.
Sie nutzen nur tot!
Dabei hat diese Partei es so weit gebracht, den Menschen diesen friedliebenden Irrsinn aus den Kopf zu blasen. All das geschah auch in Ihrem Namen; Ihre politischen Enkel beschmutzten Ihren Namen – man erzählte den Menschen, man hüte Ihr Vermächtnis, jedenfalls so gut es gehe. Sie geben eine tolle Statuette ab, einen feinen historischen Namen, mit Ihnen schmückt man sich gerne – die starke Frau, die Sie waren, die Stimme gegen Kriegsbefürworter, als die man Sie damals wahrnahm: das ist alles vorbei. Heute sind Sie ein Markenname, eine schwelgerische Erinnerung, die gute alte Zeit von früher. Aber nur leblos nutzen sie denen, nur schweigend, nur … sagen wir es doch offen: nur tot.
Was soll ich ihr denn sagen, wenn sie wirklich je zur Türe hereinmarschiert, habe ich meine Arbeitgeber gefragt. Sie wäre ja eine alte Frau, auch nach so einer Rückkehr, die so weit ich es überblicken kann, bisher nur einem Messias vor ihr gelang. Sie wird vermutlich in einem greisen Körper daherkommen. Fragen Sie sie, meinten die Parteigranden darauf, wie sie es nur wagen konnte, einfach so ins Leben zurückzukehren – fragen Sie sie, ob sie sich nicht schämt. Und fragen Sie sie, ob ihr die Sentenz von Jefferson bekannt ist, wonach jede Generation ihre eigene Gegenwart gestalten, ihre eigene Politik betreiben müsse! Denn das sei es, weshalb sie Sie nicht mehr hier haben wollen – jetzt seien die Nachfolgegenerationen dran. Und wenn diese nicht mehr Frieden oder mehr soziale Gerechtigkeit wagen wollten, dann sei das rechtens. Erinnerungen seien eine Voraussetzung für die Zukunft, haben sie mir gesagt. Nichts für einen Chefsessel in höheren Stockwerken. Wie ich Ihnen ja erläuterte, man liebt die Erinnerung an Sie, man nimmt sie mit in die Zukunft – doch sie verblassen, bleichen aus. Später weiß man oft nicht mehr, was wahr, was ersponnen ist. Man hat Sie gerne als Übermenschen im Kopf, nicht als Menschen aus Fleisch und Blut, der Sie ja waren. Ein Mensch mit Schwächen, patent aber doch mit schwachen Momenten – das gehört heute zu Ihrem posthumen Markenzeichen, womit auch dieses Allzumenschliche zum übermenschlichen Attribut wird. Ihre Fleischwerdung ist ja eine weltliche Rückkehr, denn Sie sind da, wieder in der Welt – man liebt aber den himmlischen Klimbim, die vergeistigte Fleischwerdung eines Heiligen. Keine Partei kann vom Fleisch leben, jede lebt vom Image, vom Ruf, von der Tradition und den Köpfen, die die Partei formten.
Bleiben Sie unten!
Steigen Sie nicht die Treppe hoch! Seien Sie vernünftig. Lassen Sie dieser Generation ihre Politik – wobei diese Generation gar keine Politik hat: sie hat nur Politiker, die wiederum Politik für eine Handvoll Ganoven betreibt. Sagen wir es also anders: Lassen Sie dieser Generation das Desinteresse an Politik, die Verdrossenheit, das Leck-mich-am-Arsch-Gefühl, lassen Sie uns unseren unpolitischen Anstrich, der hernach immer in politischen Katastrophen endet. Bleiben Sie hier unten, drehen Sie um – gehen Sie bitte zurück, dorthin, wo Sie dieser Partei, meinem Brotgeber am nützlichsten sind. Eine gute Parteisoldatin würde nun folgen, würde sich ins kühle Grab zurücklegen und ihre Rolle ausfüllen – zum Wohle der Partei! Nicht ins Treppenhaus, ich bitte Sie. Sie würden ja ohnehin nichts bewirken, man würde Sie ausschimpfen, Sie verbal an die Wand stellen, wenn man es nicht schon vorher physisch tun würde, dort im Treppenhaus beispielsweise. Ruinieren Sie dieser Partei doch nicht ihr schönstes Kapitel, jetzt wo sie doch Regierung und Weltpolitik machen darf – tot sind Sie zu gebrauchen, lebend als Oppositionelle des heutigen Parteigeistes, entweihen Sie sich, ziehen Sie sich Argwohn zu, sind Sie zum Abschuss freigegeben. Auf wen sollen sich die heutigen Parteiführer denn berufen, wenn nicht mehr auf Sie, weil Sie dann dem parteilichen Zeitgeist entgegenstehen? Sie nehmen den Leuten ja ihre politische Identität – solchen Leuten, die wegen Ihnen ein Parteibuch ergatterten und nachher erst zu den Schweinen wurden, die sie heute sind. Bleiben Sie also, trinken Sie noch einen Kaffee mit mir, er geht aufs Haus – aber gehen Sie nicht hoch!
Schweigend schlurfte die Wiedergekehrte gen Treppenhaus, blickte nochmals kurz zurück zum jungen Mann an der Telefonanlage, als sich zwei Männer im adretten Anzug ihr näherten. Sie waren aus einem der oberen Etagen nach unten gestürmt. Sie eskortierten die ehemalige Parteivorsitzende in den Keller, suchten sich eine dunkle Ecke, nestelten an ihrem Hals und drückten zu. Dann wurde es wieder dunkel und sie dachte noch: Wäre ich lieber ins Kino gegangen und hätte diesen Film über mich geguckt.
Roberto J. De Lapuente, Jahrgang 1978, ist gelernter Industriemechaniker und betrieb acht Jahre lang den Blog ad sinistram. Von 2017 bis 2024 war er Mitherausgeber des Blogs neulandrebellen. Er war Kolumnist beim Neuen Deutschland und schrieb regelmäßig für Makroskop. Seit 2022 ist er Redakteur bei Overton Magazin. De Lapuente hat eine erwachsene Tochter und wohnt in Frankfurt am Main. Im März 2018 erschien sein Buch „Rechts gewinnt, weil links versagt“.
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