Außenministerin Annalena Baerbock hatte den wirtschaftlichen Untergang Russlands zum Ziel erklärt. Auch Kommissionspräsidentin von der Leyen sah die russische Wirtschaft kurz nach Kriegsbeginn bereits in Fetzen. Was ist geblieben von der damaligen Siegesgewissheit?
Ein Beitrag von Rüdiger Rauls

Falsche Voraussetzungen
Die vollmundigen Taumel der Begeisterung um den baldigen Sieg über Russland und seinen „Autokraten“ Putin sind den Durchhalteparolen gewichen. Auch die unvermeidlichen Experten, die die Siegesaussichten wissenschaftlich zu untermauern wussten, sind kleinlaut oder gar ganz still geworden. Sogenannte Wissenschaft musste sich der Wirklichkeit geschlagen geben. Theorien erwiesen sich als falsch, Berechnungen als wirklichkeitsfremd. Die russischen Raketenarsenale, die der britische Geheimdienst kurz nach Kriegsbeginn schon als bald erschöpft voraussagte, werden offensichtlich schneller gefüllt als die Produktion neuer Geschosse in der Industrie der gesamten NATO-Staaten.
Wie so oft hat der politische Westen Theorien für Wirklichkeit gehalten und ist damit Opfer seiner eigenen Überheblichkeit oder Inkompetenz geworden? Andererseits gab es auch immer Stimmen, besonders die der Militärs und Vertreter der Wirtschaft, die zur Besonnenheit aufriefen und davor warnten, Russland zu unterschätzen. Sie fanden aber nicht genügend Beachtung. Es waren gerade nicht die Militärs im Westen, die den Krieg unterstützten. Es waren in erster Linie die Meinungsmacher in Medien, Politik und Wissenschaft, die Kreuzritter der Werte, die dem Kriegstaumel verfallen waren. Heute, mehr als drei Jahre später, ist von all dem wenig übrig geblieben.
Nicht Russland kämpft ums Überleben sondern der Westen als politisch verfasstes System aus Weltanschauung, gemeinsamen Werten, Wirtschaftsmacht und militärischer Geschlossenheit. Gerade zertrümmert Trump mit seiner Vorstellung von US-amerikanischer Besonderheit das bisher gemeinsame Weltbild. Die Unterstützung Israels im Gaza-Krieg zerreißt die Gültigkeit gemeinsamer Werte innerhalb des Westens selbst und entlarvt sie in der Welt drum herum als heuchlerisch. Die Sanktionen gegenüber Russland schicken westliche Wirtschaften auf Talfahrt, besonders aber die deutsche. Trumps Drohungen gegenüber der NATO zwingen die anderen Bündnisstaaten in eine Verschuldungsspirale, die den inneren Zusammenhalt belastet.
Dem gegenüber zeigt sich Russland gefestigt. Seine Armee rückt langsam und unaufhaltsam weiter nach Westen. Seine Führung scheint wenig Eile an den Tag zu legen, nicht unter Erfolgsdruck zu stehen, stattdessen besonnen abzuwägen und überlegt zu handeln. Die wirtschaftlichen und politischen Zustände innerhalb der russischen Gesellschaft wirken stabil. Selbst westliche Medien finden keine Anzeichen für Kriegsmüdigkeit und stellen fest, „dass eine Mehrheit Putin und den Krieg gegen die Ukraine unterstützt.“(1) Russland hat auf die westlichen Sanktionen nicht nur Lösungen gefunden, die diese Maßnahmen abschwächen, sondern mit der Ausrichtung des Handels nach Indien und besonders China eine neue Orientierung für seine wirtschaftliche Zukunft geschaffen.
Falsche Hoffnungen
Trotz weit verbreiteter Verblendung und Betriebsblindheit dürften all diese Entwicklungen westlichen Politikern und Führungskräften nicht entgangen sein. Schließlich verfügen sie über Dienste und Quellen, die sie mit den nötigen Informationen versorgen, um die Lage realistisch einschätzen zu können. Dennoch hoffen viele von ihnen, Russland zur Kapitulation zwingen zu können. Sie setzen offensichtlich auf die Wiederholung der Geschichte, indem sie den Untergang der Sowjetunion auf den derzeitigen Konflikt glauben übertragen zu können. Sie stellen Vergleiche an, aus deren oberflächlicher Ähnlichkeit sie diese Selbstvergewisserung nähren.
In ihren Augen ist die Sowjetunion zerfallen, weil sie so viel für Rüstung hatte ausgeben müssen. Da nun auch Putin für den Krieg sehr viel Geld ausgeben muss, zieht zum Beispiel Polens Außenminister Radosław Sikorski daraus den kurzsichtigen Schluss: „Wir hoffen, dass das Ergebnis für sein[Putins] Regime dasselbe sein wird wie bei der Sowjetunion – nur schneller“(2). Aus diesen Worten wird aber auch deutlich, wie sehr man mittlerweile unter Druck steht und den schnellen Erfolg herbeisehnt.
Entweder wollen Leute wie er nicht wahrhaben, dass die Bedingungen sich geändert haben, oder sie sind nicht in der Lage, die Unterschiede zu erkennen. Auf diesem Szenario jedenfalls scheinen viele Hoffnungen im NATO-Westen zu ruhen. Man will nicht nur aufrüsten, um vorbereitet zu sein für einen erwarteten Angriff Russlands. Vermutlich will man auch Russland zu verstärkten Rüstungsausgaben zwingen, damit ihm finanziell die Puste ausgeht wie seinerzeit der Sowjetunion. Denn warum soll nach oberflächlichem westlichen Denken nicht noch einmal funktionieren, was früher schon einmal geklappt hat?
Doch diese Hoffnung dürfte sich als trügerisch erweisen angesichts der Daten, die auch dem Westen zur Verfügung stehen. So schätzt das Stockholmer Friedensforschungsinstitut SIPRI die Ausgaben Russlands für den Krieg in diesem Jahr auf 7,2 Prozent seiner Wirtschaftsleistung. Das unterscheidet sich aber immer noch ganz erheblich von den über 10 Prozent, die nach Schätzungen des Instituts die UdSSR für ihr Militär hatte aufbringen müssen. Worauf also gründen sich die Hoffnungen solcher Politiker wie Sikorski? Ist angesichts der realen Lage an der ukrainischen Front die Hoffnung als einzige Aussicht auf den Sieg geblieben?
Echte Zahlen
Doch der Anteil der Rüstungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt ist nicht der einzige Unterschied zur früheren Sowjetunion. „Russland könne auch mit einem Rüstungsbudget von 15 Prozent des BIP stabil bleiben, … zusammenbrechen würde das Land nicht“(3). Dem politischen Westen scheint entgangen zu sein, dass sich die Bedingungen weltweit geändert haben; er ist wirtschaftlich und technologisch nicht mehr führend. Im Rüstungsbereich hat Russland ihn überflügelt, was in der Entwicklung der Hyperschallraketen zum Ausdruck kommt, dem die Armeen der NATO kaum Vergleichbares entgegensetzen können.
Im Industriebereich hat China die Führungsrolle übernommen und schließt technologisch nicht nur immer weiter auf, sondern ist in vielen Bereichen von Wirtschaft, Wissenschaft und Technik bereits führend. Und dieses China steht Russland nicht feindlich gegenüber wie seinerzeit der Westen dem sozialistischen Lager, sondern ist vielmehr ein strategischer Partner, der Russlands Ansichten und Ziele weitgehend teilt. Sie arbeiten wirtschaftlich und militärisch eng zusammen, und sie ergänzen sich bestens. Russland liefert die Energieträger, die China braucht, und China die moderne Ausrüstung, die der nördliche Nachbar auf diesem Niveau selbst noch nicht herstellen kann.
Über die gemeinsame Landgrenze kann der direkte Austausch von Waren nicht durch feindlich gesonnene Kräfte behindert werden. Wenn auch Russland technologisch noch nicht so weit entwickelt ist wie China, befindet es sich aber auch nicht mehr in derselben Rückständigkeit und Unterentwicklung wie einst die Sowjetunion. Beide waren bedingt durch die niedrige industrielle Ausgangsbasis nach der Revolution und vor allem später durch die Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg. Der entscheidende Unterschied zwischen der UdSSR und dem heutigen Russland aber liegt in der Kapitalausstattung.
Russland ist heute nicht mehr finanzschwach. Die Investitionen westlicher Unternehmen hatten nicht nur moderne Technologie gebracht. Ausländische Banken hatten auch Kapital ins Land gespült. Trotz der westlichen Sanktionen erwirtschaftet Russland auch heute noch hohe Einnahmen aus dem Export von Energieträgern und sonstigen Rohstoffen wie Metallen. Inzwischen ist es aber auch einer der größten Lieferanten von Getreide und Ölfrüchten am Weltmarkt. Der Internationale Währungsfonds bewertet Russlands Verschuldung mit 21 Prozent der Wirtschaftsleistung im internationalen, aber auch im Vergleich mit den führenden kapitalistischen Staaten als außerordentlich niedrig.
Das ist darauf zurückzuführen, dass die russische Führung das Geld zusammengehalten und einen Kapitalstock in Form des Nationalen Wohlfahrtsfonds angelegt hatte. Das gibt Moskau heute einen großen politischen und finanziellen Spielraum. Als in diesem Jahr die Kartoffelpreise in Russland explodierten, konnte die russische Regierung umgehend Importe aus anderen Staaten daraus finanzieren, und als im vergangenen Jahr wegen der Exporte von russischem Benzin dessen Preise im Inland stark anstiegen, verhängte Moskau Exportverbote. Dank der Rücklagen konnte es die Steuereinbußen gut verkraften.
Inflation und die Zinsen der Notenbank sind weiterhin hoch, auch das Haushaltsdefizit ist mit 2 bis 3 Prozent höher als geplant. Dem aber steht ein Haushaltsdefizit von etwa 6,5 Prozent in den USA gegenüber mit 36.000 Milliarden Dollar Schulden, für die dieses Jahr etwa 1.000 Milliarden Dollar Zinsen gezahlt werden müssen.
Echte Kosten
Nun kann aus den Zahlen allein keine Voraussage über die weitere Entwicklung des Krieges gemacht werden. Dennoch dürften sie zur Ruhe in der russischen Gesellschaft mit beitragen. Jedenfalls müssen selbst westliche Berichterstatter eingestehen: „Viele Russen haben das Gefühl, es gehe ihnen finanziell besser als je zuvor [und] … von größerem Unmut wegen der hohen Opferzahlen des Krieges ist ebenfalls nichts zu spüren“(4).
Für den Ausgang des Krieges dürften aber nicht nur die gesellschaftlichen Kosten ausschlaggebend sein, sondern auch die für die Kriegsführung selbst. „Russland hat bei der Aufrüstung einige
Vorteile gegenüber dem Westen“(5). Zumindest zu Beginn des Krieges konnte es auf große Bestände aus der Sowjetzeit zurückgreifen. Das traf auch auf die Ukraine zu. Deren Bestände erschöpften sich aber schneller in Ermangelung einer eigenen leistungsfähigen Rüstungsindustrie, und die NATO-Staaten können bis heute nicht genug liefern.
„Außerdem sind die Produktionskosten in Russland geringer“ (6). Trotz der gewaltigen Sonderhaushalte, die die NATO-Armeen aufpeppen sollen, der enormen Schulden, die dafür aufgenommen werden, und der Plünderung der Staatshaushalte zur Erfüllung des NATO-Ziels von fünf Prozent der Wirtschaftsleistung stellt sich die Frage: „Wie viel zusätzliche Sicherheit lässt sich für 100 Milliarden Euro pro Jahr tatsächlich beschaffen?“ (7). Denn mit den wachsenden Militär-Haushalten wachsen auch die Begehrlichkeiten der Waffenschmieden, aber nicht unbedingt die Sicherheitslage.
Wie sich die Herstellungskosten russischer Waffen entwickeln werden, darüber können keine Aussagen gemacht werden, doch dürften sie weiterhin niedriger sein als im Westen. Dort war seit dem Kriegsbeginn vor drei Jahren ein gewaltiger Preisanstieg bei Waffen und Munition festzustellen. Für die gesamte EU zeigt sich seit 2020 eine Verteuerung von etwa dreißig Prozent, in Deutschland waren es etwa 35 Prozent und in Italien gar um fünfzig. Und „von den jährlich zusätzlich bereitgestellten 100 Milliarden Euro für die Verteidigung fließen kurzfristig rund 35 Milliarden nicht unmittelbar in den Ausbau militärischer Fähigkeiten, sondern schlagen sich primär in Preissteigerungen nieder“(8).
Dahin geht das Geld, das sonst überall in der Gesellschaft fehlt, und wer weiß, ob diese Prognosen den späteren tatsächlichen Entwicklungen entsprechen werden. Denn erfahrungsgemäß werden Projekte – egal in welchem Bereich – immer teurer als ursprünglich veranschlagt. So mancher NATO-Staat gerät schon jetzt an die Grenzen seiner Belastbarkeit, und dementsprechend nehmen die Klagen zu besonders im westeuropäischen Süden, weit weg von der Front im Donbass. Anders als Russland haben sie keinen Nationalen Wohlfahrtsfonds, der die Bedürfnisse der Bevölkerung weiterhin absichern kann. Sie sind hoch verschuldet. Die Menschen im politischen Westen dagegen werden mit Angriffen auf ihren Lebensstandard rechnen müssen, wenn dieser kostspielige Kriegskurs beibehalten werden sollte. Der Ruin Russlands dürfte dann auf den Trümmern des Wohlstands der Völker besonders in Westeuropa verwirklicht werden.
(1) FAZ 25.7.2025 Putins Reserven für den Krieg
(2) ebenda
(3) ebenda
(4) ebenda
(5) ebenda
(6) ebenda
(7) FAZ 28.7.2025 Sicherheit hat einen Preis
(8) ebenda
Dieser Artikel wurde erstveröffentlicht in der 224. Ausgabe der Wochenzeitung Demokratischer Widerstand (DW224) vom 9. August 2025, Seite 9/10; die Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlages.
Rüdiger Rauls ist Reprofotograf und Buchautor. Er betreibt den Blog Politische Analyse.
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