Shitbürger in der Stadtbücherei

Ein Gericht bestätigt: Hinweise an Büchern in öffentlichen Bibliotheken, die dazu geeignet sind, Leser vor dem Inhalt abzuschrecken, sind selbstverständlich erlaubt.

Ein Kommentar von Roberto J. De Lapuente

Stadtbücherei, Hannover
Emanuel SpieskeCC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

Man las vor einiger Zeit davon: Die Stadtbücherei Münster kennzeichnete Bücher. Was zunächst harmlos klang. Eigentlich markierte, ja stigmatisierte sie jedoch Bücher, warnte vor deren Inhalt. Unter anderem Jacques Bauds Buch über Putin wurde mit so einem Label ausgestattet. Im Visier: »Die Medien an den Rändern«, wie die Stadtbücherei der Öffentlichkeit mitteilte. Was Rand ist und was nicht, auch hierfür schuf man sich Expertise: Man etablierte einen Expertenzirkel, der taxiert und auswertet – einen Expertenzirkel übrigens, der mit Gendersternchen geschrieben wird, was hier aus gutem Grund und gutem Geschmack keine Beachtung finden soll. (Siehe auch: »Dies ist ein Werk mit umstrittenem Inhalt« oder »Medien an den Rändern«).

Letztlich ging es den Münsteranern um Warnhinweise: Was sollen die Mitglieder der dortigen Stadtbücherei lesen? Wo lieber die Finger weglassen? Ausleihen konnte man sich die stigmatisierten Titel natürlich dennoch. Fraglich nur, ob ein Lesewilliger sich an den Tresen traut mit dem toxischen Lesefutter. Ach, Sie lesen den Baud, Frau Meier? Nun ja, müssen Sie wissen! Kann man sich im hiesigen Deutschland sicher sein, dass die Aufstellung der entliehenen Bücher nicht irgendwo die Runde macht? In den Vereinigten Staaten des Patriot Act waren diese Aufstellungen jedenfalls Teil des Profilings, mit dem man Terroristen auf die Spur kommen wollte – es traf freilich und wenig überraschend auch Menschen, die gar nicht terroristische Absichten hegten.

Demokratieversager, die auf Demokratierettung machen

Nun war der Fall der Stadtbücherei Münster ein Einzelfall. Aber alles ist ein Einzelfall, bis es kein Einzelfall mehr ist. Darum ist es sinnig, sich der Anfänge zu erwehren. Und auch mal nachzufragen – beispielsweise so: Ist es nicht grotesk, dass sich ausgerechnet eine Stadtbücherei im Anflug demokratischer Phantomschmerzen dazu aufschwingt, irgendeine krude Variante demokratischer Empfehlungskultur umzusetzen? Man denke bitte mal zurück, wie wenig Widerworte es gab, als der Gesetzgeber – Entschuldigung, nicht der Gesetzgeber, sondern die das Grundgesetz negierenden Entscheider irgendwelcher Phantasiekonferenzen! – Betretungsverbote auch für Stadtbüchereien erlies, die denen galten, die sich kein Serum spritzen lassen wollten.

Wie umgehen mit solchen Einrichtungen an den Rändern der Verfassungsmäßigkeit? Das wäre eine zentrale Frage in diesen Tagen – aber stattdessen erheben sich die Mitarbeiter solch demokratiedefizitärer Betriebe auf Steuer- und Beitragszahlerkosten und maßen sich an, als Herren und Herrinnen des guten demokratischen Geschmackes aufzutreten.

Aber derlei spielt in dieser Republik, in der sukzessive das Denken aberzogen und abtrainiert wird, überhaupt keine Rolle mehr. Ja, wer mal freundlich nachfragt, mit welcher Qualifikation man überhaupt dazu übergehen kann, sich als Ratgeber mit den besten Absichten aufzuspielen, wo man doch so vollkommen versagt hat, als guter Rat teuer war, der muss eher damit rechnen, dass sich irgendein Expertenzirkel zusammensetzt und einen neuen Warnhinweis entwirft, den man einem Fragensteller dann sogleich ans Revers heften kann. Wie kommt man eigentlich als jemand, der weiß, wie man Bücher alphabetisch in ein Regal stellen und in einem digitalen System erfassen muss, zu der Kompetenz, den Inhalt eines Buches auf eine Weise zu erfassen, die ihm erlaubt, Inhalte als wahrhaft und wertvoll und andere als bedenklich einzuordnen? Jemand, der in der Obst- und Gemüseabteilung des Supermarktes arbeitet, muss ja auch nicht zwangsläufig eine Minestrone zaubern können.

Vom mündigen Bürger zum Bürger als Mündel

Im April hat das Verwaltungsgericht Münster dann darüber entscheiden müssen, ob man sogenannte »umstrittene« Bücher nun auf diese Weise präsentieren darf oder nicht. Natürlich darf man – was haben Sie denn gedacht? Man muss es quasi sogar, weil man in diesem Land den Bürgern einfach nichts mehr zutraut. Letztlich wurde auch viel dafür getan, dass man den Bürgern nicht mehr arg viel zutrauen kann. Man hat sie zum Beispiel in die Schule gehen lassen. In die Art von Schule, die seit mehr oder weniger zwei Jahrzehnten für intellektuelle Defizite sorgt. Das Gericht erklärt nun, dass Stadtbüchereien einen Bildungsauftrag hätten. Daher dürften sie empfehlen und warnen. Muss man wirklich nochmal nachbohren und fragen, warum man diesen vermeintlich so grandiosen Bildungsauftrag weniger hoch hing, als bestimmte Leute nicht mehr reinkamen und man diese Brandmauer 3G nannte?

Norbert Häring weist aktuell darauf hin, dass sich eine Bibliotheksmitarbeiterin in Widerspruch übt. Ihren offenen Brief findet man auf Härings Website – er sei hiermit recht herzlich empfohlen. Dass sich der Bibliotheksverband freudig über das Urteil äußerte, will sie so nicht stehen lassen. Das ist mutig von der Frau. Womöglich hat man ihr schon einen Zettel ans Ohr gebunden, auf dem von ihr gewarnt wird …

Wie gesagt, es ist fast folgerichtig, dass deutsche Gerichte eine solche Art von Markierung für legitim erachten. Für legitim – und vielleicht auch für notwendig. Denn das Menschenbild in diesem Lande ist eindeutig: Der mündige Bürger ist für diese wohlmeinenden Kreise, für dieses Shitbürgertum – um einen Begriff zu zitieren, den ein berühmter Chefredakteur dieser Tage prägt und für dessen Wortschöpfung man ihm neidisch sein kann–, für diese im Schafspelz eingewickelten Landraubtiere, nichts weiter, als ein Mündelbürger. Ein Schutzbefohlener mit eingeschränktem Wahlrecht. Diese Sichtweise hat das Shitbürgertum so verinnerlicht, dass selbst Stadtbibliothekare glauben, sie müssten staatstragend auftreten und im vorauseilender Gedankenlosigkeit Duftmarken setzen, die dann von höherer Stelle wohlwollend zur Kenntnis genommen werden. Die Entscheidungsfreiheit des Bürgers, in der demokratischen Theorie – und nur da! – der wesentliche Aspekt dieser Ordnung, wird hierbei als vernachlässigbar betrachtet.

Der sukzessive Ausfall aller Hirnfunktionen

Das Mündel ist jedoch das Gegenteil der Mündigkeit. Über ein Mündel verfügt man mittels einer Vormundschaft. Es handelt sich dabei also um eine unmündige Person. Diese ist daher nicht selbstverantwortlich und nicht souverän. Der Mündelbürger ist nicht im demokratischen Prozess vorgesehen – nun ja, nicht in den Sonntagsreden zur Demokratie und nicht in der demokratischen Folklore. Dass die Wahrheit anders aussieht, dass Demokratie der Versuch der Eliten ist, dass alles so bleiben kann, wie es war, als sie noch nicht auf Parlamente schielen mussten, lässt sich von Sheldon Wolin bis Rainer Mausfeld lesen.

Den Shitbürgern schwebt ein Land vor, in dem sukzessive alle Hirnfunktionen derjenigen auszuschalten sind, die sie für Schafe halten – und  die daher eines Hirten bedürfen. Wer der Hirte ist, muss nicht weiter vertieft werden: Natürlich der Shitbürger selbst. Er weiß ganz genau was gut für die Mitmenschen ist – und was ganz generell gut ist. Würde man ihn fragen, wie er zu seinen Einsichten kommt, könnte er keine tiefergehenden Antworten liefern. Er kommt nicht auf das Gute, weil er es durchdacht, abgewogen, argumentativ erschlossen hätte. Es ist ein Gefühl, eine allgemeine Haltung, die er sich gegeben hat, weil er spürte, dass sie ihm guttut: Emotional und psychologisch, aber auch beruflich und – so er jung genug ist – auch schulisch. Er ist das Musterbeispiel des Ausfalles von diversen Hirnfunktionen, redet sich aber ein, dass er – der Shitbürger – der letzte verbliebene Denker auf deutschem Boden ist.

Und nach diesen Kriterien goutiert er Bücher – oder lehnt sich ab. Es ist ein bildungsfernes Treiben, das ihn den lieben langen Tag beschäftigt. Er trachtet danach, wo es geht Vorreiter in Sachen Haltung zu sein, weil ihm dieses schnelle Umsetzen von dem, was die politischen Shitbürger in Berlin oder den verschiedenen Staatskanzleien der Bundesländer oder auch nur in den örtlichen Rathäusern vorgeben, eine schnelles Lob verspricht – und wenn alles glatt läuft, dann sogar eine Aufstiegschance. Das nennt sich dann »ein Beitrag zur Demokratie« leisten. Klingt allemal besser als: »Der Macht in den Arsch zu kriechen«.

Roberto De Lapuente

Roberto J. De Lapuente, Jahrgang 1978, ist gelernter Industriemechaniker und betrieb acht Jahre lang den Blog »ad sinistram«. Von 2017 bis 2024 war er Mitherausgeber des Blogs »neulandrebellen«. Er war Kolumnist beim »Neuen Deutschland« und schrieb regelmäßig für »Makroskop«. Seit 2022 ist er Redakteur bei »Overton Magazin«. De Lapuente hat eine erwachsene Tochter und wohnt in Frankfurt am Main.
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Disclaimer: Berlin 24/7 bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion Berlin 24/7 widerspiegeln. Wir bemühen uns, unterschiedliche Sichtweisen von verschiedenen Autoren – auch zu den gleichen oder ähnlichen Themen – abzubilden, um weitere Betrachtungsweisen darzustellen oder zu eröffnen.

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