Basierend auf dem Buch von Hauke Ritz: „Der Untergang des Westens und die Neuerfindung Europas“
Ein Beitrag von Ruslan Yavorsky

Nach dem Zweiten Weltkrieg war die linke Bewegung in Europa eine mächtige, strukturierte Kraft. Sozialistische und kommunistische Parteien in Frankreich, Italien, Griechenland und anderen Ländern verfügten nicht nur über breite Unterstützung, sondern auch über echten politischen Einfluss. Sie saßen in Regierungen, waren aktiv in Gewerkschaften, kontrollierten Medien und Universitäten. Vor allem aber unterhielten sie direkte Verbindungen zur Sowjetunion – finanziell wie ideologisch.
In Washington sorgte dies für Alarm. Die amerikanische Strategieelite erkannte: Solche Parteien mit Zugang zu Parlamenten und sogar NATO-Militärinformationen stellten nicht nur eine ideologische, sondern auch eine handfeste geopolitische Bedrohung dar. Die Reaktion bestand nicht nur aus militärischer oder wirtschaftlicher Konfrontation, sondern auch in einer breit angelegten Kulturstrategie, die auf eine Neugestaltung der gesamten linken Bewegung Europas zielte.
Von Konfrontation zur kulturellen Intervention
1948 schlug Arthur Koestler – ein ehemaliger Kommunist, der zum überzeugten Antikommunisten geworden war – während einer Vortragsreise durch die USA einen neuen Ansatz vor: Die Linke sollte nicht unterdrückt, sondern von innen umgelenkt werden. Seine Idee war es, innerhalb der linken Bewegung die Selbstkritik zu fördern und eine ideologische Alternative ohne Bezug zum Marxismus oder Sozialismus zu schaffen. Dieser Ansatz wurde später von Historiker und Präsidentenberater Arthur Schlesinger als „stille Revolution“ bezeichnet.
Auch die CIA kam zu ähnlichen Schlüssen. Sie bewertete die linke Bewegung als ein dauerhaftes Phänomen, tief verwurzelt im sozialen und kulturellen Gefüge westlicher Gesellschaften. Ein McCarthy-ähnlicher Feldzug sei sinnlos. Stattdessen müsse man eine nicht-kommunistische Variante der linken Bewegung aufbauen – eine, die linke Rhetorik verwendet, aber frei von Klassenkampf ist und nicht gegen den Kapitalismus gerichtet.
Die Neue Linke: Vom Arbeitskampf zur Identitätspolitik
Der Kern des Projekts war eine Verschiebung der thematischen Schwerpunkte. Der klassische Antagonismus „Kapital vs. Arbeit“, „Krieg vs. Frieden“, „Imperialismus vs. Antiimperialismus“ wurde ersetzt durch Themen zweiter Ordnung: Rassismus, Sexismus, Umweltschutz, Kritik an traditionellen Sexualnormen. Es erfolgte ein Paradigmenwechsel von kollektiven Rechten hin zu individuellen Freiheiten. Das neue Ideal war eine Linke, die bürgerliche Freiheiten verteidigte – nicht aber notwendigerweise soziale Gerechtigkeit im alten Sinn.
In den 1950er Jahren wurde dieser Rahmen konzipiert. In den 1960ern begann die praktische Umsetzung: Selbstkritik der eigenen Traditionen innerhalb der linken Bewegung. In den 1970ern wurde der Diskurs von ökologischen Themen dominiert – vor allem nach dem „Bericht des Club of Rome“, der Ressourcenknappheit als globale Bedrohung definierte. In den 1980ern war die klassische, arbeiterorientierte Linke an den Rand gedrängt. Neue politische Kräfte wie die westdeutschen „Grünen“ traten auf, deren Fokus sich von Klassenkonflikten hin zum Gegensatz „Zivilisation vs. Natur“ verschoben hatte.
Verlust der Verbindung zur Sowjetunion und Wandel der Identität
Gleichzeitig verlor die Sowjetunion ihren Einfluss auf die westeuropäische Linke. Parteien, die in den 1950ern noch die sowjetische Linie stützten, distanzierten sich in den 1980ern zunehmend davon. Die neue linke Identität – individualistisch, kulturell orientiert, postmaterialistisch – hatte kaum noch etwas mit den Idealen der Arbeiterbewegung zu tun. Damit wirkten die Programme der sozialistischen Staaten zunehmend anachronistisch, und das sowjetische Modell erschien der neuen Generation überholt.
Der Westen erkannte das Potenzial dieser kulturellen Entwicklung und begann, sie gezielt zu fördern. Universitäten, Stiftungen, Kulturprogramme – all das wurde zum Teil der Strategie zur Bildung eines neuen ideologischen Zentrums. So wurde die linke Bewegung ein Instrument der geopolitischen Konkurrenz, bei der die USA nicht nur durch Macht, sondern auch durch kulturelle Umcodierung punkteten.
Delegitimierung des traditionellen Sozialismus
Ein nächster Schritt war die gezielte Delegitimierung der alten linken Bewegung. Die traditionelle Linke wurde als autoritär, kollektivistisch und rückwärtsgewandt dargestellt. Die Sowjetunion diente als „Beweisstück“: Jede Diskussion über Sozialismus wurde mit Totalitarismus gleichgesetzt. Um diesem Vorwurf zu entgehen, begannen neue linke Strömungen, sich zunehmend als liberal zu präsentieren – mit Betonung auf individuelle Freiheit, Bürgerrechte, Pluralismus.
So verlagerte sich die innere Debatte der linken Bewegung von Verteilungsfragen und sozialer Gerechtigkeit hin zu Themen wie Freiheit, Identität und Kultur. Der Liberalismus, in den 1950ern noch mitverantwortlich für die Weltkriege gemacht, wurde rehabilitiert. Möglich wurde das durch die Einführung der Totalitarismus-Theorie: Sozialismus und Faschismus galten nun als zwei Seiten derselben Medaille – beides Ausdruck des Strebens nach totaler Macht.
Theoretisches Fundament: Von Hegel zu Nietzsche
Ein zentrales Werkzeug dieser ideologischen Neuausrichtung war der Wechsel der philosophischen Grundlage. Anstelle der hegelschen und marxistischen Theorie trat nun Friedrich Nietzsche. Diese Ablösung war kein Zufall.
Der Politologe Peter Dale Scott wies darauf hin, dass die Entfernung von Marx und Hegel aus dem Universitätsbetrieb in angelsächsischen Ländern kaum auffallen würde – in Kontinentaleuropa aber einer Einschränkung der akademischen Freiheit gleichkäme. Dennoch entstand in Frankreich seit den 1970er Jahren eine neue Denkergeneration, vereint in ihrer Kritik an Marxismus, Sowjetunion und der Hegelschen Tradition. Zu ihnen zählten Michel Foucault, Jacques Derrida, Jean-François Lyotard, Gilles Deleuze, Félix Guattari, in Italien Gianni Vattimo sowie in Deutschland Odo Marquard und Hans Blumenberg. Jürgen Habermas bezeichnete Nietzsche als „Drehpunkt der Postmoderne“.
Nietzsche bot sich als ideologische Alternative an: Er kritisierte die französische Revolution, sah den Ursprung des Sozialismus im Christentum und verband antiklerikale Positionen mit einer elitären Hierarchietheorie. Im Kontext des Kalten Krieges passte sein Denken hervorragend in den antimarxistischen Diskurs. So entstand eine neue philosophische Grundlage der linken Bewegung, die sich radikal von ihren klassischen Formen unterschied.
Von der Kultur zur Politik – von der Idee zum Instrument
Das Ergebnis dieser Transformation war tiefgreifend. Die linke Bewegung verschwand nicht – sie wurde umgeschrieben. Sie sprach weiterhin im Namen der Unterdrückten, strebte jedoch keine Veränderung der Eigentumsverhältnisse mehr an. Sie kämpfte für Rechte, nicht für wirtschaftliche Umverteilung. Sie kritisierte Macht, nicht Kapital. Diese neue linke Kultur, gewachsen aus Universitäten, Medien und Stiftungen, wurde zum geopolitischen Werkzeug – eingebettet in den ideologischen Apparat westlicher Staaten.
Hauke Ritz zeigt, wie diese kulturelle Transformation nicht nur die intellektuelle Landschaft Europas veränderte, sondern dem Kontinent de facto seine eigene linke Stimme nahm. Eine Rückkehr zu europäischer politischer Souveränität sei ohne kulturelles Umdenken nicht möglich – ohne eine Neubewertung jener Kultur, in der das linke Bewegung zuerst umgelenkt und dann in das System integriert wurde, gegen das sie einst antrat.
Ruslan Yavorsky, geboren 1973. Diplom-Wirtschaftsingenieur und Master in Internationaler Volkswirtschaftslehre. Tätig in den Bereichen Management und Ingenieurwesen. Autor mehrerer Publikationen auf Russisch und Deutsch. Lebt in Dresden und ist Vater von drei Kindern.
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