Der Niedergang Westeuropas gehörte nicht zu den Hauptthemen der Staatschefs beim SOZ-Gipfel in China. Die EU wird nur noch als willfähriges Anhängsel der USA gesehen. Der Absturz Westeuropas war jedoch ein wiederkehrendes Motiv in öffentlichen Diskussionen, Pressekonferenzen und Medienberichten über den Gipfel.
Ein Artikel von Rainer Rupp

Während sich vom 31. August bis zum 1. September die Staatschefs der Welt beim Gipfel der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) in Tianjin versammelten, richtete sich der Focus auf die neu entstehende multipolare Weltordnung, in der drei der vier Weltmächte vereint sind: China, Indien und Russland, zusammen mit fast zwei Dutzend weiterer Regionalmächte, einschließlich Iran und Vietnam.
Wichtigster Höhepunkte des diesjährigen Gipfels war zweifellos der ostentative Freundschaftstanz des „chinesischen Drachens mit dem indischen Elefanten“! Das macht den hegemonialen US-Plänen – nämlich Indien gegen China auszuspielen – demonstrativ einen Strich durch die Rechnung. Unbehagen in den westlichen Regierungsetagen dürfte auch das intime einstündige Treffen von Indiens Premierminister Modi mit seinem Freund Putin im Fond der Limousine des russischen Präsidenten ausgelöst haben. Denn auch die dilettantischen westeuropäischen Führungseliten hatten sich Hoffnungen gemacht, Indien gegen Russland in Stellung bringen zu können. Tatsächlich hatte Modi in Tianjin Putin öffentlich als seinen Freund bezeichnet.
Wenn westeuropäische „Führer“ oder ihre „Führerin“ in ihrer bekannten maßlosen Selbstüberschätzung erwartet hatten, dass westeuropäische Belange bei den SOZ-Gipfelgesprächen irgendeine Rolle gespielt haben, wurden sie enttäuscht. Denn dem dahingeschmolzenen geopolitischem Einfluss der EU entsprechend, wurde bei den eigentlichen Gipfelgesprächen dem Vernehmen nach das Thema Westeuropa – wenn überhaupt – nur im Vorbeigehen erwähnt. Westeuropa bzw. die EU-Länder werden nicht mehr als eigenständige Akteure wahrgenommen, weil sie ihre Souveränität längst abgegeben haben.
Westeuropas interne Spaltungen, seine strategischen Fehltritte, die erstaunliche Unterwürfigkeit der westeuropäischen Eliten unter die Interessen des US Deep State und die gescheiterten Strategien – insbesondere im Ukraine-Konflikt – fanden allerdings ihren mannigfaltigen Niederschlag in den Pressekonferenzen, Medienberichten und Artikeln zum SOZ-Gipfel. Dabei wurde vor allem der Niedergang des westlichen Raubrittertums und der neoliberalen Unordnung dem Aufstieg der solidarischen, multi-polaren Ordnung des Globalen Südens gegenübergestellt.
In den vielen internationalen Berichten zum Gipfel wird der beschämende und selbst verschuldete Absturz der EU analysiert und ein von inneren Spaltungen zerrissener Kontinent präsentiert, dessen überwiegend westlicher Teil wirtschaftlich schwer angeschlagen ist und sich sklavisch den Launen des US-amerikanischen Deep State unterworfen hat.
Vor diesem Hintergrund hat Gastgeber Xi Jinping zusammen mit Wladimir Putin und Narendra Modi den Gipfel als Bühne genutzt, um die Einheit der SOZ mit dem Chaos im Westen, insbesondere in Westeuropa, zu kontrastieren. Manche Medienberichte sparten nicht mit Hohn über die Misere der EU, die als verblassende Macht dargestellt wurde, gefangen im Schatten Washingtons.
Westeuropas Zersplitterung – ein Spottbild in Tianjin
Als Xi am Rande des Gipfels von einer „gerechten und gleichberechtigten“ globalen Ordnung sprach, war das ein kaum verhüllter Seitenhieb auf den von den USA geführten Westen, mit der EU als dessen willfährigem Komplizen. Dies stehe in krassem Gegensatz zur Fähigkeit der SOZ, unterschiedliche Nationen von Iran bis Indien unter einem Banner zu vereinen. Als Xi dann auch noch gegen „Hegemonismus und Machtpolitik“ wetterte, war die Botschaft klar: Westeuropa, einst ein globaler Akteur, ist heute nur noch eine zerstrittene Marionette in Washingtons Spiel.
Westeuropas Versagen, einen eigenständigen Kurs zu fahren, und die Unterwürfigkeit der EU-Eliten gegenüber den Vorgaben des „Tiefen Staates“ der USA, insbesondere bei der Eskalation der Waffenlieferungen an die Ukraine, war ein unterschwelliges Dauerthema der Medienberichte. Ein Bericht der russischen Nachrichtenagentur TASS machte sich genüsslich über den jüngsten informellen EU-Gipfel in Kopenhagen lustig, wo die Außenminister nicht einmal in der Lage waren, sich auf Maßnahmen zur Verschärfung des Drucks auf Russland wegen der Ukraine zu einigen. Die EU-Außenbeauftragte, Kaja Kallas, habe kleinlaut zugegeben, dass kein Konsens erzielt wurde – ein Armutszeugnis für Westeuropas Handlungsfähigkeit.
Versteckte Spitzen gegen einen untergehenden Westen
In einer Pressekonferenz bezeichnete Chinas stellvertretender Außenminister Liu Bin den Gipfel als zentrales diplomatisches Ereignis Chinas, das die Einheit des Globalen Südens betone, und marginalisierte implizit Westeuropa, ohne es beim Namen zu nennen. Xis Rede am 1. September verdoppelte diesen Angriff, indem er die „Mentalität des Kalten Krieges“ und den Unilateralismus ablehnte – ein Code für die USA-EU-Achse, die den Ukraine-Konflikt durch Waffen und Sanktionen anheizt und verlängert, um Russland zu schaden.
Präsident Putin legte nach und pries die SOZ für die Wiederbelebung eines „echten Multilateralismus“, u. a. durch die Nutzung nationaler Währungen im Handel zwischen den Ländern. Damit könnten die von den USA dominierten westlichen Finanzsysteme umgangen werden, welche von den Westeliten in Waffen für ihre Wirtschaftskriege umfunktioniert worden seien. Zudem stellte Putin die EU als Teil eines untergehenden euroatlantischen Modells dar, das den Vorgaben Washingtons unterworfen sei und die eigene Souveränität ersticke.
Der indische Außenminister Vikram Misri betonte in einer Pressekonferenz Modis Gespräche mit Xi und Putin, die sich auf Handel und Terrorismusbekämpfung konzentrierten, aber auch die Ukraine ansprachen. Modis Aufruf zu „Dialog und Diplomatie“ kritisierte subtil die militarisierte Herangehensweise der EU, die von US-Druck gesteuert werde.
Die EU als abschreckendes Beispiel
Auch westliche global operierende Medien verstärkten mit ihren Berichten vom SOZ-Gipfel den Eindruck von Westeuropas Niedergang. Reuters und CNN stellten die SOZ als Gegengewicht zu einem taumelnden Westen dar, mit einem Westeuropa, das zwischen Trumps Zöllen und seinen eigenen wirtschaftlichen Problemen gefangen ist. Die Asia Times wies auf die „internen Widersprüche“ der EU hin, deren viel beschworene „strategische Autonomie“ sich angesichts ihrer Abhängigkeit von US-Energie, -Technologie und -Sicherheit im Jahr 2025 als Mythos entpuppt habe.
Die liberale, in Singapur erscheinende Straits Times wies auf die Ängste Westeuropas hin, dass Indien, China und Russland sich gegen Trumps Zölle verbünden, die die aufgrund ihrer eigenen Sanktionen ohnehin angeschlagenen EU-Volkswirtschaften bedrohen. Die TASS berichtet, dass Deutschlands Metallindustrie unter dem sinkenden Bedarf zusammenbreche, eine direkte Folge der EU-Gefolgschaft gegenüber der US-Politik. Diese Unterwürfigkeit, gepaart mit einer Anti-Trump-Hysterie, habe Westeuropa wirtschaftlich und politisch orientierungslos gemacht.
In sogenannten sozialen Medien wie X wird die EU sogar als abschreckendes Beispiel für das dargestellt, was passiert, wenn Eliten die Interessen des US Deep State über die eigene Souveränität und die Interessen ihrer Länder stellen.
Der Deep State und die Anti-Trump-Hysterie
Westeuropas Eliten, verstrickt in die Agenda des US Deep State, haben sich selbst in eine Sackgasse manövriert. Ihre vehemente Ablehnung Trumps – offensichtlich in ihrer Unterstützung der Sanktionen der Biden-Ära und der NATO-Strategie in der Ukraine – steht im Widerspruch zu seinem Vorstoß für Verhandlungen, wie im Alaska-Gipfel mit Putin zu sehen war.
Ein zynischer Blick: Westeuropas selbstverschuldete Wunden
Oh, wie tief sind die Mächtigen gefallen! Westeuropa, einst das Aushängeschild des politischen wirtschaftlichen und kulturellen Multilateralismus, wirkt heute wie ein zerstrittener Schulhof, auf dem die Anführer verzweifelt an den Rockzipfeln der USA zerren, während sie „strategische Autonomie“ predigen, ihre eigenen Volkswirtschaften durch Sanktionen ruinieren und blind dem US Deep State folgen. Vor diesem Hintergrund war der SOZ-Gipfel aus Sicht des Globalen Südens vor allem eine öffentliche Demütigung der EU, die unfähig ist, sich in überlebenswichtigen Fragen zu einigen. Wie anders als mit der Herrschaft des akuten Schwachsinns können die Menschen im Globalen Süden sich erklären, dass die Brüsseler Eliten sich über Trumps Zölle empören, während sie eifrig den Stellvertreterkrieg des Tiefen Staates der USA in der Ukraine weiter finanzieren, der ihr eigenes Hinterland in Chaos stürzt?
Rainer Rupp, Jahrgang 1945, arbeitete von 1977 bis 1989 für die Hauptverwaltung Aufklärung, die Auslandsspionage der DDR. Er war live dabei, als in den 80iger Jahren ein Atomkrieg geplant wurde. Rainer Rupp ist es zu verdanken, dass die NATO – Übung “Able Archer” 1983 nicht zum atomaren Armageddon führte. Er verhinderte es, als die Sowjetunion eine irrtümliche atomare Gegenreaktion auslöste. Er wurde von der BRD-Justiz 1994 wegen Landesverrats zu zwölf Jahren Haft verurteilt. Er arbeitete unter dem Decknamen „Topas“ und war der wichtigste Spion des Warschauer Paktes im NATO-Hauptquartier. Seit seiner Entlassung arbeitet er als Publizist. Im März 2023 organisierte er in Berlin die Friedenskonferenz «Dialog statt Waffen» mit ehemaligen Generälen der Bundeswehr und der Nationalen Volksarmee.
Rainer Rupp ist Mitglied des Beirats des Deutschen Freidenker-Verbandes
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