MEISTKOMMENTIERT
MEISTGELESEN

Wird David Goliath besiegen?

Ungarn wird von vielen konservativen Kreisen als Vorbild angesehen. Mindestens ebenso viel Interesse weckt die Tatsache, dass Ungarn auf wundersame Weise eine konservative Insel geblieben ist, während ganz Europa von einem Meer des progressiven Liberalismus überschwemmt wurde. Das schreibt für Berlin247 der ungarische Auslandsjournalist und Analyst Gábor Stier. Er beleuchtet die Fragen, worum es bei den Europawahlen aus ungarischer Sicht geht und was Ministerpräsident Viktor Orbán erreichen will.

Ein Kommentar von Gábor Stier, aus dem Ungarischen von Éva Péli übersetzt

shutterstock/Juergen Nowak Berlin, 13. November 2023. Bundeskanzler Olaf Scholz empfängt den ungarischen Premierminister Victor Orbán im Kanzleramt mit EU-Ratspräsident Charles Michel.
Bild: shutterstock/Juergen Nowak Berlin, 13. November 2023. Bundeskanzler Olaf Scholz empfängt den ungarischen Premierminister Victor Orbán im Kanzleramt mit EU-Ratspräsident Charles Michel.

„Der progressiv-liberale Geist hat die Welt zu einem schlechteren Ort gemacht. Er hat Kriege geschürt, Chaos, Unruhen, Verwirrung und auch Verarmung gebracht, er hat versucht, Nationen zu zerstören. Die Verfechter dieses Denkens bauen ihre Macht auf die gleiche Weise aus wie die Kommunisten zu ihrer Zeit. Doch in diesem Jahr kann diese unrühmliche Ära der westlichen Zivilisation, die progressiv-liberale Weltordnung, beendet werden.“ Das sagte Viktor Orbán in einer Rede auf der CPAC-Konferenz (Conservative Political Action Conference) – einer Gruppe konservativer Denker – in Ungarn, die als Wahlkampfauftakt gesehen werden kann. Noch konkreter wurde der ungarische Ministerpräsident auf der Nationalen Konservativen Konferenz (NatCon) in Brüssel, wo er sagte, er wolle die Europäische Union in eine konservative umwandeln.

Viktor Orbán will nichts Geringeres erreichen, als die politische Elite des Mainstreams abzuwählen und die Europäische Union von innen heraus zu erneuern. Nicht um sie zu spalten, zu zerreißen und zu schwächen – wie viele dem ungarischen Ministerpräsidenten vorwerfen – sondern, um sie zu erneuern. „Brüssel muss von Grund auf umgestaltet werden“, lautet die Botschaft, mit der Orbán in den Europawahlkampf einsteigt. Er träumt von einem starken Europa, das auf den Grundsätzen des Christentums und auf einem Bündnis souveräner Staaten beruht. Die Woke-Ideologie hat darin keinen Platz, weil sie nicht auf föderalistischen Prinzipien basiert.

Bei den Europawahlen im Juni geht es also darum, wie sich das Kräfteverhältnis zwischen den etablierten linken und konservativen Liberalen und den nationalen Souveränisten entwickelt. Obwohl der Trend langfristig den Aufstieg souveränistischer und konservativer Parteien zeigt, ist bisher kein Durchbruch zu erwarten, und das Europäische Parlament könnte weiterhin von der gemäßigten rechten Volkspartei, den Sozialisten und den Liberalen dominiert werden. Die nationalsouveräne Seite ist auch durch interne Spaltungen geschwächt. Die konservative Gemeinschaft ist vor allem durch ihre Haltung zur Migration und zum Krieg in der Ukraine gespalten.

Dies erschwert auch den Beitritt von Fidesz, der ungarischen Regierungspartei, die sich aus der Europäischen Volkspartei (EVP) zurückgezogen hat. Es könnten sich zwei Alternativen herausbilden: die Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformisten (ECR) und die Fraktion „Identität und Demokratie“. Zu ersteren gehören die ehemalige polnische Regierungspartei, PiS, und die Fratelli d'Italia unter der Führung der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni an, ebenso wie die tschechische Demokratische Bürgerpartei, die spanische Vox und die Schwedendemokraten. Die zweite Fraktion wird vor allem von der französischen Rassemblement National (RN) unter der Führung von Marine Le Pen und der deutschen Alternative für Deutschland (AfD) geprägt. Am wahrscheinlichsten ist es, dass der Fidesz der ihr näherstehenden ECR-Parteienfamilie beitritt, was allerdings einen Kompromiss in der Ukraine- und Russlandfrage voraussetzt. Denn auch in diesem Kreis hörte man kopfschüttelnd Orbán zu, als er, übrigens als ein Realpolitiker im Interesse Europas, neulich die EU- und Nato-Mitgliedschaft der Ukraine harsch ablehnte. „Leute, ihr müsst verstehen, dass ihr ein Pufferzonenland seid. Ihr könnt eure Adressen nicht ändern“, sagte er in Kiew.

Ungarn wird von vielen konservativen Kreisen als Vorbild angesehen, nicht zuletzt, weil Viktor Orbán 2022 mit einer Zweidrittelmehrheit in seine vierte aufeinanderfolgende Amtszeit gestartet ist. Mindestens ebenso viel Interesse weckt die Tatsache, dass Ungarn auf wundersame Weise eine konservative Insel geblieben ist, während ganz Europa von einem Meer des progressiven Liberalismus überschwemmt wurde.

Es ist daher weder für die konservative Familie noch für Orbáns Position in Europa unwichtig, wie die souveränistische ungarische Regierung ihre aktuelle Krise überleben und ob sie die Erosion stoppen wird, die durch den Anfang des Jahres ausgebrochenen Begnadigungsskandal ausgelöst wurde. Im Moment sieht es so aus, als würde der Fidesz höchstens drei seiner derzeit 13 europäischen Sitze verlieren. Aber wenn er weit unter dem Ergebnis von 50 Prozent bleibt, das er bei den EP-Wahlen gewohnt ist, wird dies auch die Realität von Orbáns europäischen Ambitionen in Frage stellen. Es geht um die Frage, ob Ungarn die EU verändern wird oder umgekehrt. Sicher ist, dass Viktor Orban es genießt, sich als David zu inszenieren, der gegen den Goliath der EU kämpft. Ob David Goliath besiegen wird, bleibt abzuwarten. Dazu muss er zunächst zu Hause in umgekehrter Rolle als Goliath seine Stärke bewahren.

Disclaimer: Berlin 24/ 7 bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion Berlin 24/7 widerspiegeln.

Kommentare