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Der Weg in die Multipolarität könnte ein blutiger sein

Der Krieg in der Ukraine ist weit mehr als ein Stellvertreterkrieg. Er markiert vielmehr die Trennlinie zwischen Unipolarität und Multipolarität. Das Ende der Unipolarität ist unumgänglich. Doch die USA wehren sich mit allem, was sie haben. Und scheinen dabei auch einen großen Krieg mit einzubeziehen. 

Ein Beitrag von Tom J. Wellbrock

Andy Gin / shutterstock
Bild: Andy Gin / shutterstock

Es ist ungefähr ein Jahr her, da konnte man in einigen großen Medien in Deutschland Berichte über das Ende der Unipolarität lesen. Das war nicht nur überraschend, sondern auch bemerkenswert, weil diese Berichte ziemlich unaufgeregt formuliert waren. Beinahe wirkte es, als habe sich zumindest die deutsche Medienlandschaft mit der kommenden Multipolarität abgefunden. Die Meldungen verschwanden wieder, die weltweite Eskalation ging weiter. 

Ein Brei aus Vorwürfen

Als sei es nie passiert: In Deutschland wird kollektiv verschwiegen, dass Russland vor dem Einmarsch in die Ukraine zahlreiche Bitten und Forderungen an den Westen gerichtet hatte, die das Sicherheitsbedürfnis Russland betrafen. Die NATO ignorierte bis zuletzt diese Forderungen nicht nur, sondern konterte, man werde sich bei der Frage eines NATO-Beitritts der Ukraine von Moskau nichts sagen lassen. Der Rest ist Geschichte, es kam, wie es kommen musste. 

Danach begann der Aufbau eines neuen Ukraine-Bildes. Hatten deutsche Medien vor dem 24. Februar 2022 noch äußerst kritisch über das korrupte und zu Teilen faschistische System in Kiew berichtet, änderte sich das mit den Einmarsch Russlands schlagartig. Es schien, als hätte man kurzerhand das ganze Land mit einem Radiergummi entfernt, um sogleich mit spitzer Feder ein neues zu zeichnen. Aus Blut und Tränen wurden Milch und Honig, aus faschistischen Zügen der demokratische Kampf der Ukraine. Nicht nur für sich selbst, sondern gleich für die gesamte westliche Wertegemeinschaft. 

Das Feindbild Russland wurden gehegt und gepflegt, immer wieder hieß es, Russland wolle die Ukraine auslöschen. Die Steigerung des Wahnsinns war die Behauptung, Putin wolle mit der Ukraine nicht aufhören, sondern nach deren Eroberung weiterziehen Richtung Berlin, Brüssel, Paris. Doch scheinbar wurde die Absurdität dieser Erzählung sogar den skrupellosesten Propagandisten langsam klar. Oder die Reaktionen der deutschen Bevölkerung in sozialen Medien zeigte Wirkung. 

Zuletzt war es der SPD-Politiker Sigmar Gabriel, der ein neues Bild an die Wand malte, das der durch den Westen wahrgenommenen Realität noch am nächsten kommt. Gabriel sprach von der weltweiten russischen Einflussnahme in allen möglichen Ländern, die den Westen schwäche. Das ist insofern falsch, als Russland durch seine internationalen Beziehungen nicht in erster Linie den Westen schwächen, sondern schlicht gute Beziehungen auf der Welt pflegen will. Es ist aber richtig, weil der westliche Einfluss global tatsächlich abnimmt. Das hängt aber vorrangig damit zusammen, dass die westlichen Länder sich über Jahrzehnte das Image einer verlogenen Bande aufgebaut haben, die alles, was sie tun, nur zu ihrem Vorteil machen und dabei die Interessen anderer Ländern ignoriere. 

Sigmar Gabriel war es auch, der in einer deutschen Talkshow sagte:

"Wir müssen Russland technologisch und politisch zerstören. Wie die Sowjetunion damals."

Selbstredend gab es keine kritische Nachfrage nach dieser Äußerung, aber es wird klar, dass der weltweite Einfluss in Gabriels Wahrnehmung beim Westen bleiben muss, und um dieses Ziel zu erreichen, scheint jedes Mittel recht zu sein. 

Eskalation in der Ukraine

Die vom Westen zu Teilen klar, zeitweise auch weniger konkret ausgesprochene Erlaubnis, von der Ukraine aus, auch russische Ziele anzugreifen, gepaart mit dem Wunsch des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, Bodentruppen in die Ukraine zu schicken, ist eine klare weitere Eskalation des Westens in Richtung Russland. Sie macht deutlich, dass die Ukraine militärisch nicht in der Lage ist, einen Sieg davonzutragen. Sie zeigt aber auch, dass der Westen gegenüber seinen Bevölkerungen in Erklärungsnot gerät. Schließlich haben sämtliche Waffenlieferungen bislang keine spürbaren Erfolge gebracht. Und die sind auch weiterhin nicht in Aussicht, schon aus dem schlichten Grund, dass der Ukraine langsam die Soldaten ausgehen und neue zu rekrutieren, immer schwieriger wird. Die ukrainische Regierung geht inzwischen beim Versuch, neues Personal zu besorgen, immer brutaler vor und schreckt auch nicht davor zurück, Alkoholiker und Drogenabhängige zum Dienst an der Waffe zu zwingen. Man muss kein Genie sein, dass solche Soldaten – getrieben vom staatlichen Zwang, nicht von überzeugtem Patriotismus – keine effektiven Kämpfer sein werden. 

Bodentruppen - ganz offiziell?

Egal, wie viele Signale der Verhandlungsbereitschaft Putin aussendet, sie werden ignoriert oder uminterpretiert. Jüngst wurden Gesprächsangebote Putins als "Kriegsrhetorik" abgetan, um deutlich zu machen, dass man diesem Mann nicht trauen kann. Hintergrund ist der westliche Unwille, den Ukraine-Krieg zu beenden. Nun ist aber ein Punkt erreicht, der existenziell ist und eine neue Qualität des Konfliktes beinhaltet. 

Denn wenn der Westen ukrainische Angriffe auf russisches Territorium erlaubt, so wären diese in der Mehrzahl wohl nur realisierbar, wenn westliches Personal die entsprechenden Waffen bedient. Damit wäre der Westen endgültig Kriegspartei. Im Falle einer Entsendung von Bodentruppen wäre die Frage der westlichen Kriegsbeteiligung rein rhetorischer Natur. Die neue Rolle des Westens als Kriegspartei hätte gravierenden Folgen. 

Denn faktisch könnte Russland nun auch westliche Ziele angreifen, worauf die NATO reagieren müsste. Denkt man ein solches Szenario zu Ende, wäre Russland in einer misslichen Situation, denn auf dem konventionellen Gebiet ist Russland dem Westen vermutlich unterlegen, auch wenn es durchaus berufene Stimmen gibt, die daran Zweifel haben. Man muss es aber in die Überlegungen einbeziehen, und falls es eine russische Unterlegung im konventionellen militärischen Bereich gäbe, müsste Russland sich mit dem Einsatz von Atomwaffen beschäftigen. Denn eine militärische Niederlage gegen den Westen und damit die Aufgabe Russland vor dem Westen ist etwas, das Putin – und auch sonst kein russischer Präsident – jemals zulassen würde. Die Russen haben nicht Napoleon und Hitler besiegt, um sich dann von einem in sich maroden Westen schlagen zu lassen. 

Atombombe oder Partnereinsatz

Anders als es in Deutschland rauf- und runtergebetet wird, ist Russland in der Welt keinesfalls isoliert. Diese Erzählung ist eine dünne Propagandalüge, die die verheerende deutsche Außenpolitik kaschieren soll. Das Gegenteil ist der Fall, speziell Deutschland steht global betrachtet auf ziemlich verlorenem Post, und das liegt nicht nur an der unglaubwürdigen Außenpolitik, der immer mehr Länder nicht mehr auf den Leim gehen. Es hängt auch mit der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock (die Grünen) zusammen, über die auf der ganzen Welt gelacht wird. Ausgestattet mit nicht einmal einem Mindestmaß an diplomatischen Fähigkeiten und einer geradezu erschreckenden intellektuellen Übersichtlichkeit nimmt kaum jemand auf der Welt diese Frau noch ernst. 

Dennoch muss man Baerbock und das restliche politische Personal des Westens ernst nehmen, denn es ist insbesondere das fehlende Verständnis für die Folgen des eigenen Handelns, die sie so gefährlich machen. Wer weitsichtig genug ist, die Konsequenzen der eigenen Handlungen zu bedenken, handelt besonnener als jemand, der sich seines Sieges gewiss und nicht in der Lage ist, von seiner Idealvorstellung abweichende Szenarien durchzuspielen. 

Der Einsatz von Atomwaffen mag etwas sein, das den Entscheidern in seiner vollen Konsequenz nicht bewusst ist. Den politischen Führungen anderer Länder geht es da aber anders. So dürfte etwa China klug genug sein, um die Gefahr atomarer Schläge realistisch einschätzen zu können, und Gleiches gilt für andere Länder, erst recht für die, die der BRICS-Gemeinschaft angehören. Zwar ist der Zweck von BRICS nicht und nie gewesen, als Militärbündnis aufzutreten, schließlich ist die Kernidee wirtschaftliche Zusammenarbeit der beteiligten Länder gewesen. Wenn aber die Befürchtung wächst, die ganze Konstruktion – nicht nur der BRICS-Gemeinschaft, sondern der Weltwirtschaft schlechthin – laufe Gefahr, durch verantwortungslose und machtbesessene Politik zerstört zu werden, dürfte ab einem gewissen Punkt die diplomatische Zurückhaltung aufgegeben werden. 

In diesem Szenario dürften die Atomwaffen dort bleiben, wo sie jetzt sind, aber die weltweite Lage würde sich grundlegend verändern, und auch ein konventioneller Krieg zwischen dem Westen und Teilen des Restes der Welt hätte verheerende Folgen. 

Unterm Strich muss man festhalten, dass der Wechsel zur Multipolarität aller Wahrscheinlichkeit nicht auf friedlichem Wege geschehen wird, und vermutlich war diese Vorstellung auch von Anfang an naiv. Die USA sind nach wie vor gewillt, ihre Rolle als unipolare Macht auf der Welt zu verteidigen, sie nehmen dafür auch die Zerstörung Europas in Kauf, in der Hoffnung, am Ende aus der Ferne wieder die Geschicke der Welt lenken zu können.

Vermutlich wird dieser Plan krachend scheitern, und in Anbetracht der zerstörerischen Politik der Vereinigten Staaten von Amerika ist das sicher auch besser so. Doch die USA wären nicht die USA, wenn sie nicht eine Schneise der Zerstörung auf ihrem Weg in die Bedeutungslosigkeit hinterlassen würden. 

Disclaimer: Berlin 24/7 bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion Berlin 24/7 widerspiegeln. Wir bemühen uns, unterschiedliche Sichtweisen von verschiedenen Autoren - auch zu den gleichen oder ähnlichen Themen - abzubilden, um weitere Betrachtungsweisen darzustellen oder zu eröffnen. 

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