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Obszön, hässlich und laut

Obszön, hässlich, laut und grob, das ist in der Tat der Sud, der übrig bleibt, wenn man die gesellschaftspolitische Debatte unserer Tage und den Umgang der Menschen miteinander einmal kräftig durchsiebt. Es bleibt immer beim Grobschnitt unseres Alltagsstreifens, der voller Sprachverwirrungen und Missverständnisse ist, in dem die manipulativen Kräfte aus Medien und Politik ein ganzes Volk „kriegsverwendungsfähig“ impfen, in dem das Denunziantentum per Gesetz hoffähig wird und die niedrigste Intelligenzstufe für höchste Ämter qualifiziert, gepaart mit Skrupellosigkeit und Korruptionsbereitschaft. 

Ein Beitrag von Dirk C.Fleck

Shutterstock/ Triff
Bild: Shutterstock/ Triff

Der ungarische Schriftsteller Péter Nádas (82) hat fünf Jahre gebraucht, um sich nach einer Nahtoderfahrung wieder zurecht zu finden. In seinem Buch „Der eigene Tod“ beschreibt er, wie es sich anfühlt, wenn man gewaltsam ins Leben zurück geholt wird. Was die Ärzte als Erfolg verzeichneten, war für den „Geretteten“ nichts als eine kratzende Pein, als würde er wieder in eine alte, längst abgelegte rostige Rüstung gezwängt. „Es geht einen nichts mehr etwas an“, schreibt Nádas, „weder die Dinge, noch die anderen Menschen, weder das eigene Wissen, noch die eigene Lebensgeschichte. Ich konnte nicht mehr auf die Straße gehen. Alles war obszön. Auch die Menschen waren obszön, auch die Gegenstände. Alles war unglaublich hässlich, alles hat mich gestört. Es war zu laut, zu grob. Wir geben einander keine Zeit, wir hören einander nicht zu. Ich bin nie richtig zurückgekehrt.“

Péter Nádas lebt heute fernab von Trubel und Hektik in einem kleinen Dorf im Nordwesten Ungarns. Über die jenseitige Welt, die er nach der Abnabelung vom eigenen Körper kurz betreten durfte, macht er keine Angaben. In der Dokumentation „Grenzerfahrung Nahtod“ des ORF sagt er lediglich: „Gott ist leider ein peinlicher Irrtum, seine Verkörperung ist ein Irrtum. Aber die Schöpfungskraft ist kein Irrtum.“ Weiter hinaus traut er sich nicht. Nicht mit Worten.  

Die Ohnmacht der Worte muss auch Stefan Lampe erfahren. Immer noch. Dabei ist die Sprache sein Berufswerkzeug, Lampe predigt Gottes Wort von der Kanzel. Vor zwanzig Jahren erlitt er einen Autounfall, der ihn für wenige Sekunden aus der Welt schleuderte und immer noch sprachlos macht. Aus der Welt? Welcher Welt? Wir kennen den berühmten Holzstich „Wanderer am Weltenrand“ des französischen Astronomen Flammarion, der einen Mann zeigt, der durch das mit Sternen bestückte Firmament verzückt ins NICHTS starrt. Dieses NICHTS lebt, intensiver, als wir es uns vorzustellen vermögen. Die Crux ist, dass es sich dem Verstand und damit selbst der Sprachakrobatik eines katholischen Pfarrers entzieht.  

„Ich bin als Theologe zwar ein Mann des Wortes, aber hier strecke ich meine Waffen“, gestand Stefan Lampe in einem Gespräch mit Thanatos TV. „Es ist unmöglich, mit den armen Worten des Diesseits zu beschreiben, was ich in einer völlig zeitlosen Schau erfahren habe. Nur so viel: Es war eine unbedingte Zugabe von ICH. ICH plus unendlich mehr.“ 

Liebe von Unterhaltungsindustrie gemeuchelt

Und dann sagte er diesen Satz, den sich all jene, die ihre Nahtoderfahrung in den sozialen Netzwerken spektakulär ausschmücken und damit entzaubern, unbedingt merken sollten: „TRAU DICH, DEM UNVERWORTBAREN RAUM ZU GEBEN. Mit dem Denken kommt man da nicht hinterher.“ Unverwortbar – großartig. Der Prediger aus der beschaulichen Gemeinde Wohldenberg bei Hildesheim fügte noch etwas hinzu, was mich persönlich sehr berührt hat: „Ich habe die Verbundenheit gesehen. Es gibt nichts, was ich tue, das nicht in Verbindung steht mit allem.“ Auf der ersten Seite meiner Website befindet sich ein Text, den ich „Unsere Satzung“ genannt habe. In ihm heißt es: Wir sind die Spiegel, die ein wechselndes Panorama von Gedanken, Empfindungen, Gesichtern und Örtlichkeiten zeigen. Wir sind in Allem. Nichts ist vom Anderen so weit entfernt, das es nicht Verbindung mit ihm hätte.

Schön, dass die Kernsätze meiner Satzung auf diese Weise bestätigt werden. Aber zurück zu dem eingangs erwähnten Péter Nádas und seiner neu gewonnenen groben Weltsicht. Obszön, hässlich, laut und grob, das ist in der Tat der Sud, der übrig bleibt, wenn man die gesellschaftspolitische Debatte unserer Tage und den Umgang der Menschen miteinander einmal kräftig durchsiebt. Es bleibt immer beim Grobschnitt unseres Alltagsstreifens, der voller Sprachverwirrungen und Missverständnisse ist, in dem die manipulativen Kräfte aus Medien und Politik ein ganzes Volk „kriegsverwendungsfähig“ impfen, in dem das Denunziantentum per Gesetz hoffähig wird und die niedrigste Intelligenzstufe für höchste Ämter qualifiziert, gepaart mit Skrupellosigkeit und Korruptionsbereitschaft. Unser Wertekanon ist unter einer Flut obszöner politischer Statements begraben. Frieden ist Igitt und ebenso wenig vorstellbar wie der Atomkrieg, den die losgetretene Lawine aus menschlicher Dummheit geradezu herbeizwingt. Und die Liebe, die unser Leben laut Einstein doch im Innersten zusammenhält? Die Liebe wurde von der Unterhaltungsindustrie gemeuchelt, bis sie sich nur noch als pornografische Hülle mit affigem Augenausschlag darzustellen vermochte. Wir erleben einen geschlechtslosen Faschismus im rosa Kleidchen – wo man hinschaut und hinhört. Ekelhaft und grob. 

Misshandelt und gefoltert

Ich könnte Tausende von Beispielen nennen, die den Eindruck des ungarischen Schriftstellers, der an einer anderen Welt schnuppern durfte, bestätigen. Fast jede Information, die mich von draußen erreicht, ist dazu geeignet, mich in den Wahnsinn zu treiben. Dabei habe ich die Informationsstränge schon weitgehend gekappt. Dies hier kam noch durch: Am 6. Juni wurde in Oldenburg der Carl-von-Ossietzky-Preis an die Historikerin Anne Applebaum verliehen. Die Preisträgerin hat sich seit Beginn des Krieges in der Ukraine stets für die Lieferung schwerer Waffen, für die Ausweitung der NATO, gegen Verhandlungen und einen Siegfrieden über Russland ausgesprochen, sowie das Zögern von Bundeskanzler Scholz als Schwäche kritisiert.

Den Ossietzky-Preis an diese Frau zu vergeben macht mich sprachlos. Vor zwei Jahren war ich zu Besuch im Emsland. Ich nahm die Gelegenheit wahr, die Gedenkstätte Esterwegen zu besuchen. Das KZ Esterwegen diente ab 1933 als Strafgefangenenlager. Bis zum Kriegsende mussten die Häftlinge schwere Zwangsarbeit in der Moorkultivierung, in der Torf- und Rüstungsindustrie und auch in Bomben-Räumungskommandos leisten. Hier waren insgesamt über 70.000 Strafgefangene interniert. Mehr als 20.000 Menschen verhungerten oder starben an Erschöpfung. Einer der politischen Häftlinge von Esterwegen war der Friedensnobelpreisträger Carl von Ossietzky.

Im Herbst 1935 besuchte der Schweizer Diplomat Carl Jacob Burckhardt als Mitglied des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz das KZ Esterwegen. Dabei gelang es ihm, Ossietzky zu treffen, den er anschließend als ein „zitterndes, totenblasses Etwas, ein Wesen, das gefühllos zu sein schien, ein Auge verschwollen, die Zähne anscheinend eingeschlagen“ beschrieb. Ossietzky bat Burckhardt um Folgendes: „Sagen Sie den Freunden, ich sei am Ende, es ist bald vorüber, bald aus, das ist gut.

Eigensinn und trotziger Wille

In Wikipedia findet man folgenden Eintrag, den die Jury des Ossietzky-Preises doch sicher gelesen hat: „Als Herausgeber der Zeitschrift DIE WELTBÜHNE musste sich Ossietzky mehrfach wegen Artikeln, die illegale Zustände in der Weimarer Republik zum Thema hatten, vor Gericht verantworten. Im Weltbühne-Prozess wurde er 1931 wegen Spionage verurteilt, weil seine Zeitschrift auf die verbotene Aufrüstung der Reichswehr aufmerksam gemacht hatte. Kurz nach seiner Entlassung kamen die Nazis an die Macht. Ossietzky wurde am 28. Februar 1933 in die sogenannte Schutzhaft genommen. Als einer der prominentesten politischen Häftlinge wurde Ossietzky unter anderem im KZ Esterwegen besonderes Opfer nationalsozialistischer Willkür. Er wurde häufig misshandelt und gefoltert. 1936 erhielt Ossietzky in einer internationalen Hilfskampagne den Friedensnobelpreis. Im gleichen Jahr wurde er, durch die Torturen schwer erkrankt, unter Polizeiüberwachung in ein Berliner Krankenhaus verlegt. Dort starb er unter Bewachung zwei Jahre später.“

Zum Schluss einige tröstliche Worte von Hermann Hesse, die er vor über hundert Jahren formulierte: “Der ganze Weltzustand ist so morbid und drohend, dass man darüber wohl den Glauben an die Menschheit und die Lust an der Mitarbeit verlieren kann. Aber gerade aus dieser Depression heraus kommt mir auch immer wieder der Eigensinn und trotzige Wille, das scheinbar Unnütze weiter zu tun.”

Zum Autor: Dirk C. Fleck, Jahrgang 1943, studierte an der Deutschen Journalistenschule in München, volontierte beim Spandauer Volksblatt in Berlin, kreierte dort mit dem „Magazin“ die erste Wochenendbeilage einer deutschen Tageszeitung, war Lokalchef der Hamburger Morgenpost, sowie Redakteur bei Tempo, Merian und Die Woche. Er arbeitete als regelmäßiger Kolumnist für Die Welt und die Berliner Morgenpost und war für den Stern, den Spiegel und Geo als Autor tätig. Seit dem Jahr 2000 widmet sich Fleck ausschließlich seiner schriftstellerischen Tätigkeit. Für seine Romane „GO! — Die Ökodiktatur “ und „Das Tahiti Projekt“ erhielt er den renommierten Deutschen Science Fiction Preis. Flecks Hauptthema ist der drohende ökologische Kollaps und die Neuordnung der globalen Zivilgesellschaft.

Disclaimer: Berlin 24/7 bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion Berlin 24/7 widerspiegeln. Wir bemühen uns, unterschiedliche Sichtweisen von verschiedenen Autoren - auch zu den gleichen oder ähnlichen Themen - abzubilden, um weitere Betrachtungsweisen darzustellen oder zu eröffnen. 

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