Asien im Zentrum – Deutschland im Abseits

Der Europäische Seidenstraßengipfel in Budapest ist zu Ende. Die geostrategischen Verschiebungen von West nach Ost schreitet voran. Der Westen gerät ins Abseits.

Eine Hintergrundberichterstattung von berlin 24/7 – Korrespondent Stephan Ossenkopp

Privat/ Stephan Ossenkopp


Wieso organisieren die Staaten Europas nicht gemeinsam einen großen Seidenstraßengipfel? Sie könnten selbst Vertreter aus China, Russland, Indien, Japan und weiteren Spitzenpolitikern asiatischer, afrikanischer und lateinamerikanischer Länder einladen. Auch die USA wären willkommen. So einfach könnte es sein, die wichtigsten geopolitischen und wirtschaftlichen Differenzen auszuräumen. Denker wie Gottfried Leibniz entwarfen bereits um 1700 die Vision, dass sich Europa und China die Hände reichen sollten, um die Regionen dazwischen gemeinsam zu entwickeln. Doch derzeit ist dieser Weg versperrt.

Dies wurde beim „European Silk Road Summit“ in der Donaumetropole Budapest deutlich. Unternehmer aus dem Frachtgeschäft pilgern jährlich zum „Seidenstraßen-Gipfel“ an wechselnden Orten. Das Format ist mit 150 Teilnehmern klein. Mit Regierungen und politischen Entscheidungsgremien hat diese Tagung kaum Berührungspunkte. Die Teilnehmer kommen überwiegend aus der Privatwirtschaft. Sie wollen Kontakte knüpfen und Geschäftsmöglichkeiten ausloten. 

Die Stimmung auf der Konferenz in Budapest zeigt wie unter einem Brennglas, welche geopolitischen Verschiebungen derzeit wahrzunehmen sind. Auf der strategischen Ebene geht es um die weitere Verlagerung des wirtschaftlichen Schwerpunktes weg von Westeuropa und den Anglo-Amerikanern, hin zum östlichen Teil Eurasiens mit China im Mittelpunkt. Auf der operativen Ebene dreht sich alles um die Entwicklung des Bahn-Güterverkehrs auf diesem riesigen Kontinent. Schwerpunkt: ein Korridor, der über Osteuropa, das Schwarze Meer und das Kaspische Meer bis nach Zentralasien und abschließend nach China führt. Die Eurasische Landbrücke, die auf nördlichem Weg über Russland verläuft, würde einen südlichen Halbbruder bekommen, der russisches Territorium umgeht.

Als ich auf der Projektionswand die Karten der Redner erblickte, war mir klar, welch große Anstrengungen der Ausbau dieser Strecken erfordern würde. Es ist ein Mammutprojekt mit potenziell weitreichenden Folgen. Da sind zunächst einmal die Länder, die sich entlang dieser Achse aufreihen. Von Ungarn aus gesehen gelangt man per Bahn zu rumänischen und bulgarischen Häfen. Nach der Überquerung des Schwarzen Meeres wird die Ladung über Georgien nach Aserbaidschan gebracht, wo sie wiederum über Seewege auf dem Kaspischen Meer zu den Häfen Kasachstans oder Turkmenistans verbracht wird. Über Kasachstan gelangt man dann nach China.

Der Korridor zieht auch Anrainerstaaten an. Die Türkei, aber auch Iran und Usbekistan befinden sich in seinem Einzugsgebiet und werden den weiteren Rahmen des Projekts mitgestalten wollen. Die neue Prominenz bei den West-Ost-Verbindungen ist diesen Staaten nicht einfach zugefallen. Die Brüsseler und Berliner Politik engt sich mit ihren Sanktionslisten den Güterverkehr zwischen Europa und Russland stark ein. Außerdem hält der Westen am Ziel fest, die Ukraine nahezu bedingungslos zu unterstützen und Russland zu schaden. Das verunsichert viele Unternehmen, die Güter von Westeuropa über Polen und Russland nach China schicken. Alles kann von heute auf morgen zu einem Gut mit „dual use“ erklärt werden, das angeblich sowohl in der zivilen als auch in der militärischen Produktion eingesetzt werden kann. Von solchen risikoreichen Geschäftsfeldern wendet sich natürlich jeder Unternehmer ab.

Die Branche richtet sich deshalb neu aus. Bahnunternehmer, Logistiker und Spediteur müssen neue Wege suchen. Der südliche Teil der Neuen Seidenstraße bzw. der sogenannte „Mittlere Korridor“ gerät stärker in den Fokus. Die durch die Sanktionen des Westens freiwerdenden Lücken füllen andere, allen voran die Chinesen, deren Auftragsbücher deutlich angeschwollen sind. Das ist für viele Firmen in Europa ein unwiederbringlicher Verlust.

Die Verlagerung der europäisch-chinesischen Güterverkehre vom Norden in die Mitte lässt sich nicht kurzfristig bewerkstelligen. Mit der Aufnahme zusätzlicher Frachtkapazitäten war diese neue Strecke schnell überfordert. Es fehlt noch an Investitionen in schlecht ausgebaute oder fehlende Streckenteile. Dadurch gewannen die Seehäfen an der Nordsee wieder große Marktanteile zurück. Die Preise für einen Container liegen derzeit außerdem bei einem historischen Tief und betragen nur ein Fünfzehntel dessen, was man auf dem Höhenpunkt der Corona-Epidemie dafür bezahlen musste. Aber kaum jemand hält die niedrigen Preise für dauerhaft. Auch aus diesem Grund suchen Unternehmen nach alternativen Landwegen.

Shutterstock/ Chayanuphol

Damit wird Ungarn immer wichtiger. Die dortigen Frachtunternehmen verfügen über exzellente Verbindungen zu europäischen Partnern in West- wie Osteuropa, einschließlich der großen Seehäfen in Nordeuropa. Dadurch kann Ungarn wie ein Drehkreuz die Frachtströme in Richtung zum Mittleren Korridor bündeln und weiterleiten. Auf halber Strecke findet Aserbaidschan sich ebenfalls plötzlich als Drehscheibe von Güterströmen wieder. Hier wird nicht nur der Transport von West nach Ost, sondern bald auch von Norden nach Süd stattfinden. Denn auch Länder wie Russland und Iran, die ebenfalls vom Westen mit Sanktionen belegt worden sind, orientieren sich neu. So werden viele große Summen in die Stärkung des Internationalen Nord-Süd Transport-Korridors (INSTC) gesteckt und so Russlands Regionen von Sankt Petersburg abwärts über Aserbaidschan oder über das Kaspische Meer mit dem Iran und letztlich mit Indien verbinden.

Beim Gipfeltreffen zur Belt and Road Initiative (BRI) in Peking hatte Russland seine strategische Antwort auf den Erfolg der chinesischen Initiative dargelegt. Dabei liegt die Überzeugung zugrunde, dass das Verhältnis zwischen Russland und dem Westen dauerhaft zerstört bleibt. Der Fokus Russlands im 21. Jahrhundert wird die Entwicklung des Fernen Ostens sein. Dazu werden auch Abschnitte der Transsibirischen Eisenbahn modernisiert und mehrere Nord-Süd-Korridore gebaut, die Russland dauerhaft strategisch mit China, Indien und darüber hinaus mit Ländern Südwest- und Südostasiens verbinden. Die neuen Städte und produktiven Zentren der Zukunft werden sich dementsprechend im weiten Raum des Eurasischen Südens herausbilden.

Die Vielzahl der Staaten des globalen Südens sieht dies als historische Chance, an langfristigen Wachstumsperspektiven teilzuhaben, die sie aus Rückständigkeit und Armut herausführen können. Die Welt wird sich damit bis zur Mitte des 21. Jahrhunderts stark verändern. Die BRICS+, die Shanghai Cooperation Organisation, die Afrikanische Union, der Mercosur, die Eurasische Wirtschaftsunion und andere multipolare Plattformen werden die Zukunft der menschlichen Zivilisation beherrschen. Die Staaten des globalen Südens bestimmen dann in neuen oder reformierten internationalen Institutionen die diplomatischen, wirtschaftlichen und kulturellen Parameter. Vor allem die von der blockfreien Bewegung formulierten Werte von territorialer Integrität, gegenseitigem Respekt und Nichteinmischung in den inneren Angelegenheiten werden eine deutlich größere Rolle spielen.

Wie werden die angloamerikanischen und westeuropäischen Sphäre darauf reagieren? Denn die Sanktionen haben ihr Ziel nicht erreicht, Russland zu „bestrafen“ oder gar zu „isolieren“. Auch die Idee eines Abkoppelns („decoupling“) von der chinesischen Wirtschaft und des Aufbaus von Lieferketten mit bevorzugten Staaten („friendshoring“) ist gefloppt. China ist und bleibt der wichtigste Handelspartner von über 120 Ländern und unverzichtbarer Lieferant von immer höherwertigen Produkten. Dies wird auch keine deutsche „China-Strategie“ und kein Gerede vom „de-risking“ innerhalb der EU-Bürokratie ändern.

Gerade in Deutschland muss dringend geklärt werden, wie lange wir uns teure Energie, marode Infrastruktur und explodierende Verteidigungslasten noch leisten können. Natürlich könnte Deutschland die Sanktionen gegen Russland aufheben und den Güterverkehr über die Nordroute wieder öffnen. Es sollte sich von der irrigen Vorstellung verabschieden, dass China und die Länder des globalen Südens der „werteorientierten“ deutschen Außenpolitik Priorität folgen. Dies wirkt heute wie reines Wunschdenken, aber der Druck auf Deutschland und den Westen wird zunehmen, den Weg der Kooperation einzuschlagen, oder sich mehr und mehr zu isolieren.

Die Entwicklung des Mittleren Korridors, dem auf der Budapester Seidenstraßen-Konferenz große Beachtung geschenkt wurde, ist ein Puzzleteil in dieser strategischen Dynamik hin zu neuen internationalen Partnerschaften. Es zeigt, dass sich die Nachbarländer Deutschlands strategisch neu aufstellen. Dies bringt Deutschland mehr und mehr ins Abseits. Deindustrialisierung und „Decoupling“ machen aus dem einstigen Konjunkturmotor ein Phoenix im Sturzflug.

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