Die Wiederkehr der grauen Herren

Arbeit neu denken: Das will die Bundesregierung unter Friedrich Merz – und die Arbeitszeiten »anpassen«. Dabei denken Personen Arbeit neu, die es weder mit dem Denken noch mit der Lohnarbeit haben.

Ein Beitrag von Roberto J. De Lapuente

Arbeitszeiterfassung
Bundesarchiv, B 145 Bild-F038809-0007 / Schaack, Lothar / CC-BY-SA 3.0CC BY-SA 3.0 DE, via Wikimedia Commons

CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann hat neulich nochmals erklärt, was sein Bundeskanzler plant – zusammenfassend legte er dar, dass Arbeit neu gedacht werden müsse. Das klingt harmlos, sogar ein bisschen vernünftig: Denn wer denkt, der geht bekanntlich mit Hirn an eine Sache. Vorher hat sein Chef, jener Friedrich Merz, im Bundestag klargemacht, welche Kraftanstrengung Deutschland nun leisten müsse. Für was genau, warum man jetzt Reserven mobilisieren sollte, blieb leicht schwammig bis ungesagt. Es könnte freilich etwas mit den Rüstungsausgaben zu tun haben: Wenn der Krieg in der Ukraine doch zu Ende gehen sollte, führt man eben einen Rüstungskrieg – und zwar gegen die eigene Bevölkerung. Besser gesagt: Gegen jene Teile der Bevölkerung, die sich als lohnabhängige Arbeitnehmer verdingen müssen.

Dafür wolle Merz auch den Begriff »Feierabend« symbolisch abschaffen – und es schwant einem, wie übel das ausgehen kann. Nicht nur, dass es keine Grenzen zwischen Werkbank und Parkbank, zwischen Werkshalle und Fitnesshalle und zwischen Wohnzimmer und Großraumbüro mehr geben könnte – am Ende kommt gar die Sprachpolizei und moniert, dass mal wieder jemand laut »Feierabend!« gerufen hat. Deutschland 2025 funktioniert halt auf diese Weise. Und Friedrich Merz ist eben auch ein Kulturkämpfer. Seine Kultur ist die des ungehobelten und lebens- und menschenfremden Finanzkapitals.

Angriff auf die zeitliche Autonomie der Arbeitnehmer

Wer noch immer von einer Vier-Tage-Woche träumt, sollte jetzt aufwachen: Die Steigerungen der Produktivität der letzten Jahrzehnte führt unter dieser Bundesregierung nicht etwa zu Überlegungen innovativer Arbeitszeitreformen, sondern zu einem Rollback: So soll die Begrenzung der täglichen Arbeitszeit von acht Stunden – in den Spitzen waren oder sind zehn Stunden am Tag möglich – weichen und einer Wochenarbeitszeit von 48 Stunden Platz machen. Damit wären also auch Zwölf-Stunden-Schichten oder längere Varianten davon möglich: Insofern wäre auch dies als eine Vier-Tage-Woche zu sehen – nur eben anders als jene, die sich Optimisten vorgestellt hatten.

Außerdem erteilte der Bundeskanzler einer starken Work-Life-Balance eine Abfuhr. Sie sei mit dem Wohlstand des Landes nicht vereinbar. Der Begriff der Work-Life-Balance ist freilich ein Modewort, das für allerlei Entwicklungen an Arbeitsplätzen herhalten musste. Wenn sich Unternehmen Klangschalen in einen Mitarbeiterraum stellten, wurde das gerne als Beitrag dazu verkauft. Grundsätzlich ist aber eine Arbeitswelt, die auch Rücksicht auf das Wohlbefinden der Angestellten legt, nur wünschenswert – und sicher auch unternehmerisch vernünftig. Merz‘ neue Härte wirkt seltsam deplatziert angesichts eines Arbeitsmarktes, der sich seit Jahren schwertut, weil es ihn an Arbeitskräften mangelt – wenn einem die Menschen fehlen, die die Arbeit verrichten sollen, sollte man mit denen, die man als Mitarbeiter hat, durchaus pfleglich umgehen.

Friedrich Merz‘ Offensive auf die Arbeitszeit von Arbeitnehmern ist eigentümlich antiquiert. So gutherrschaftlich mag man in Zeiten auftreten können, in denen es ein Überangebot qualifizierter Arbeitskräfte auf dem Markt gibt – und so trat er als »Reformer« auch in jenen Jahren auf, als die Arbeitsmarktreformen Schröders und Fischers ihm noch nicht weit genug gingen. Damals spielte man die Karte der »industriellen Reservearmee«, nutzte also den Umstand, dass ein Heer von Arbeitslosen die Arbeitnehmer unter Druck setzen konnte, weil die Arbeitgeber sie immer als Nachrücker in der Hinterhand behielten und ihren Belegschaften damit drohen konnten. Dieser Tage beschweren sich Unternehmen aber, dass sie nicht wissen, woher sie arbeitswillige und arbeitstüchtige Arbeitskräfte nehmen sollen – dass eine Regierung zum Angriff auf die zeitliche Autonomie von Werktätigen bläst, ist irrational und kontraproduktiv: So will doch keiner in Branchen wechseln, in denen die erwähnten Zwölf-Stunden-Schichten – oder noch längere Arbeitszeiten – realistisch werden könnten.

Der durchgetaktete Schichtarbeiter

Von Undankbarkeit soll gar nicht erst die Rede sein, die in einem solchen Reformvorhaben stecken. Dafür aber von der Arroganz. Denn dass hier Menschen »Arbeit neu denken« wollen, wie Linnemann es anwesenden Journalisten nochmals zusammenfassend darlegte, die überhaupt keinen blassen Schimmer haben von den Arbeitsmodellen des Großteiles der Gesellschaft, ist nun wirklich ein ungeheuerlicher Fall von elitärer Überheblichkeit. Carsten Linnemann sieht jedenfalls nicht wie ein Mann aus, der auch nur eine Acht-Stunden-Schicht in einer Werkshalle durchhält – etwa beim Fräsen sensibler Maschinenteile oder beim Zusammensetzen einer Fahrzeugkarosserie an einem Fließband. Und ob er es recht viele Stunden in einer Krankenstation aushalten würde, darf zumindest mal bezweifelt werden.

Es mag ja Berufe geben, bei denen lange Arbeitszeiten einigermaßen realistisch sind. Irgendein Bullshit-Metier vielleicht. Aber die Mehrzahl der Berufe sind einfach nicht so konzipiert, dass man ohne Unterlass durchackern könnte – und schon gar nicht in Dauerhaftigkeit. In Zeiten von Mehrarbeit ist es Arbeitgebern heute schon möglich, Überstunden verlangen zu können – aber das galt als Ausnahme. Die Arbeitszeitpläne von Merz wollen die Ausnahme normalisieren und standardisieren. Dabei wirft man einen verklärenden Blick zurück: Früher hätte man in Deutschland schließlich auch mehr rangeklotzt. Das stimmt natürlich, 1950 arbeiteten Werktätige durchschnittlich ungefähr 2.400 Stunden im Jahr, 1980 etwa 1.800 Stunden – und heute sind es nur noch 1.350 Stunden. Was aber in dieser Rechnung nicht aufgezählt wird: Auch wenn es 50-Stunden-Wochen gab – die Taktung, das Arbeitsvolumen war überschaubarer. Sicher, der Taylorismus erfasste auch schon in den Fünfzigern und Sechzigern, wie hoch Produktionszeiten anzusetzen seien. Aber damals waren die Abläufe längst nicht so lückenlos erfasst – und Arbeitnehmer wurden auch nicht mit allerlei neuen Aufgaben überfrachtet, die man ihnen erteilte, weil durch schnellere Arbeitsprozesse Zeitreserven freigesetzt wurden.

Ein kurzer persönlicher Exkurs: Ich habe meine Ausbildung in einer Werkshalle Anfang der Neunzigerjahre begonnen. In einem metallverarbeitenden Betrieb: Natürlich wurde dort schwer geschuftet – aber es blieben immer Zeitnischen unerfasst, in denen man auch mal länger zusammensitzen und schwatzen konnte. Die Zeiterfassung in den Produktionsabläufen wurde aber bereits stark angezogen und neue Vorgaben empörten die Facharbeiter – denn sie bedeuteten straffes Arbeiten bis auf Anschlag. Die Kollegen erzählten damals schon nostalgisch von einer verlorenen Zeit, von den Jahrzehnten zuvor: Da sei alles viel laxer gehandhabt worden, man habe einen Arbeitsauftrag erhalten, musste beispielsweise mehrere hundert Schienen fräsen und eine genaue Hochrechnung der Arbeitszeit gab es vorab nicht. Erst später ging man dazu über, jeden Handgriff zu messen. Es machte also einen beträchtlichen Unterschied, ob man zwölf Stunden in einer Werkshalle war, in der immer auch noch Freiräume existierten – oder ob man das heute müsste, da der zeitliche Druck weitaus höher ist und man mit Technologie das Arbeitspensum überwachen kann. Was man im Regelfall auch tut.

Die neue Härte

Diese Bundesregierung ist wenige Tage im Amt und hat schon klargemacht, für wen sie Politik betreibt. Während sie fünf Prozent des jährlichen Bruttoinlandsproduktes in die Rüstung stecken will, damit nachhaltig das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes aushöhlen wird, zeigt sie nebenher noch, wie sie es mit ihrer Fürsorge für arbeitende Menschen hält: Weil man sich innerhalb dieser Regierung offenbar verständigt hat, dem Land eine neue Härte zu verordnen, kokettiert man mit einer »gewaltigen Kraftanstrengung« und will nun die Weichen stellen, damit Arbeiter und Angestellte in Deutschland nicht einfach ihr Tagwerk verrichten können, sondern bis an ihre Erschöpfungsgrenze gehen müssen. Vermutlich wird man demnächst die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall anfassen – um die Selbstverteidigung schwer arbeitender und erschöpfter Menschen zuvorzukommen: die Krankschreibung.

Die Produktivität ist laut Statistischem Bundesamt seit dem Jahr 2000 pro Person mehr gestiegen als die Produktivität der Arbeitsstunde – was die Produktivität der Arbeitsstunden betrifft, ist auch eine gewisse Stagnation feststellbar, das muss man auch konstatieren. So drastisch ist dieser Stillstand jedoch nicht, um ein neuerliches Arbeitszeitregime einzuführen, das mehr an die endlosen Arbeitstage der Fünfziger- und Sechzigerjahre erinnert, als an einen modernen Industriestandort. Es ist ohnehin erstaunlich, dass immer wieder vor der Rückwärtsgewandtheit der Union unter Friedrich Merz gewarnt wird – etwa wenn es um die Rolle der Frau geht. Aber gleichzeitig findet man wenig Stimmen der veröffentlichten Meinung, die das Rückwärtige thematisieren, das in der Arbeitsmarktpolitik dieser neuen Regierung steckt.

Die tritt auf wie jene grauen Herren, die in Michael Endes Roman Momo an das Wertvollste wollten, was Menschen zu bieten haben: An ihre Zeit. Die saugten sie aus den Erwachsenen heraus, denn es war ihr Lebenselixier. Ihre Opfer verfielen in Hektik und Ruhelosigkeit. Eine schöne Parabel auf das Zeitregime, auf den Raub wertvoller Lebenszeit – die Mehrheit wird beraubt, eine Minderheit ruht sich auf der gestohlenen Zeit der Anderen aus. Friedrich Merz und seine Kumpane: So muss man sich die grauen Herren vorstellen. Natürlich müssen Volkswirtschaften Zeit aufbringen, um Wohlstand zu erarbeiten – aber bitte so, dass es ein Maß und ein Ziel hat. Das Arbeitsethos von dazumal war keine Stärke, wie das nun anklingt: Es war eine Zumutung – dazu oftmals auch noch gesundheitsgefährdend. Die grauen Herren sind Räuber – und das in vielen Bereichen. Dass sie auch noch an die Zeit der Bundesbürger wollen, muss man aber auch ganz klar als Diebstahl begreifen.

Roberto De Lapuente

Roberto J. De Lapuente, Jahrgang 1978, ist gelernter Industriemechaniker und betrieb acht Jahre lang den Blog »ad sinistram«. Von 2017 bis 2024 war er Mitherausgeber des Blogs »neulandrebellen«. Er war Kolumnist beim »Neuen Deutschland« und schrieb regelmäßig für »Makroskop«. Seit 2022 ist er Redakteur bei »Overton Magazin«. De Lapuente hat eine erwachsene Tochter und wohnt in Frankfurt am Main.

Disclaimer: Berlin 24/7 bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion Berlin 24/7 widerspiegeln. Wir bemühen uns, unterschiedliche Sichtweisen von verschiedenen Autoren – auch zu den gleichen oder ähnlichen Themen – abzubilden, um weitere Betrachtungsweisen darzustellen oder zu eröffnen.

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