Gold und Blech

Die ungarische Aprikosenstadt Kecskemét steht vor einer Zeitenwende: Wie behaupten sich Obst und Wein gegen den Giganten Mercedes-Benz?

Ein Beitrag von Éva Péli

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Foto: Mercedes-Benz Ungarn (Titelbild, CC BY-SA 4.0), Éva Péli

Mein Familienbesuch in Ungarn in diesem Sommer sollte mit einem Abstecher nach Kecskemét enden. Die Stadt liegt nur eine gute Stunde vom Flughafen Budapest entfernt – ideal also für einen Stopp auf der Rückreise nach Berlin. Ich kannte die Stadt von früher und hatte immer eine angenehme Vorstellung von ihr. Jetzt wollte ich sie richtig kennenlernen. Ich war neugierig, wie sich diese Stadt, die einst für ihr „flüssiges Gold“ bekannt war, unter dem Schatten eines globalen Giganten behauptet: der Mercedes-Benz-Fabrik.

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Eine Stadt im Zeichen der Frucht

In der ungarischen Puszta, wo die Sommer heiß und die Böden sandig sind, wurde genau dieser Sand zum Fundament einer einzigartigen Erfolgsgeschichte. Schon im 11. Jahrhundert zogen hier die Reben ihre Wurzeln in die Erde, und während der türkischen Herrschaft kam die Aprikose hinzu. Was einst als Versuch begann, den Flugsand zu bändigen, entwickelte sich zu einer florierenden Obst- und Weinkultur. Mit Fleiß verwandelten Bauern die karge Landschaft in ein Meer aus Obstgärten und Weinbergen.

Der Höhepunkt dieser goldenen Ära liegt im 19. und 20. Jahrhundert. Züchter schufen bis heute bekannte Sorten wie die Trauben „Csabagyöngye“, „Cserszegi Fűszeres“ und „Irsay Olivér“ sowie die Aprikosensorte „Rózsabarack“. Ihre Arbeit rettete sogar das berühmte Weinanbaugebiet Tokaj-Hegyalja nach einer Reblaus-Epidemie, weil gesunde Rebstöcke aus Kecskemét dorthin geliefert werden konnten. Zur Jahrhundertwende wurden auf dem mitternächtlichen Markt täglich bis zu 1.300 Tonnen Aprikosen per Zug in die Metropolen Europas geschickt. Die Aprikose wurde zu mehr als nur einer Frucht; sie wurde zum „flüssigen Gold“ – zu Barackpálinka (Aprikosenschnaps).

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Ein Märchen aus Keramik

Ein anderes Bild, das alle Ungarn mit dem Namen Kecskemét verbinden, ist der Cifra-Palast – auf Ungarisch „Cifrapalota“, was so viel wie „prunkvoller Palast“ bedeutet (Bild oben). Er wurde 1902 erbaut. Mehr als nur ein Gebäude, ist er eine Hymne an den ungarischen Jugendstil, ein schimmerndes, buntes Märchen aus Keramik und Licht. Die Fassade ist ein riesiges Kaleidoskop aus Tausenden von Majolikaplatten der berühmten Zsolnay-Manufaktur, die Motive aus der ungarischen Volkskunst zeigen. Die floralen Ornamente scheinen aus dem Gebäude herauszuwachsen. Selbst das Dach mit seinen grünen und hellbraunen Ziegeln trägt zur Magie bei, schimmernd wie die Schuppen eines Fabelwesens. Heute beherbergt dieser bunte Palast das József-Katona-Museum.

Ankunft des Giganten: Die Mercedes-Fabrik

Trotz dieser reichen Traditionen wird die Stadt heute oft mit etwas ganz anderem in Verbindung gebracht – mit der riesigen Autofabrik am Rand der Stadt. Sie hat seit ihrer Gründung 2008 die Region tiefgreifend verändert. Wo einst nur Maisfelder und sandige Wege waren, ist eine Industriezone entstanden. Wie ein Leuchtturm in einer strukturschwachen Region hat das Werk die Stadt in das Herz des ungarischen Wirtschaftsmotors verwandelt. 

Das Motiv für Mercedes ist klar: Finanzvorstand Harald Wilhelm bezifferte die Produktionskosten in Ungarn im Februar auf rund 70 Prozent gegenüber den deutschen Standorten. Dieses Lohngefälle zeigt sich auch ganz allgemein: Während ein deutscher Arbeitnehmer 2023 im Durchschnitt 50.998 Euro verdiente, lag das Jahresgehalt in Ungarn bei 16.895 Euro. Trotz dieser Unterschiede gilt die Arbeitsmoral der ungarischen Angestellten mit einer Wochenarbeitszeit von über 35 Stunden und deutlich weniger Krankheitstagen als außergewöhnlich hoch. Die Arbeitskräfte gelten als hochproduktiv.

Der Aufschwung hatte jedoch seinen Preis. Ein Immobilien-Boom trieb die Mieten und Kaufpreise in die Höhe, sodass viele Einheimische kaum noch bezahlbaren Wohnraum finden. Auch die Infrastruktur der Stadt – von den Straßen bis zum öffentlichen Nahverkehr – ächzt unter den Folgen des rasanten Wachstums.

Ein Alltag zwischen Tradition und Moderne

In Kecskemét angekommen, haben wir das überschaubare, aber charmante Stadtzentrum erkundet. Überall sahen wir Kirchen, prächtige Gebäude und Schüler in feierlicher Kleidung mit ihren Familien, die den Schulabschluss zelebrierten. Für den Abend hatten wir uns vorgenommen, in einem Restaurant einzukehren und den Urlaub bei einem Glas Wein und einem leckeren Gericht ausklingen zu lassen, das typisch ungarisch paprika-rot gefärbt war. Doch das von unserem Gastgeber empfohlene Restaurant war geschlossen und ein „Edelitaliener“ ausgebucht und teuer. Am Ende fanden wir in einer Gasse ein anderes italienisches Restaurant – das Preis-Leistungs-Verhältnis war wie in Deutschland. Von einer Stadt, die nach Einwohnerzahl die zweitgrößte in der südlichen Tiefebene ist, hatte ich etwas mehr kulinarische Vielfalt erwartet.

Die rasante Industrialisierung stellt die Identität der Stadt auf eine harte Probe. Eine Umfrage unter Einheimischen ergab ein gespaltenes Bild: Viele beklagen, Kecskemét sei eine „tote Stadt für Rentner“, ohne Nachtleben. Doch andere schätzen die kulturellen Möglichkeiten. Schließlich ist die Stadt die Heimat des berühmten Komponisten Zoltán Kodály, dessen Melodien das Glockenspiel des Rathauses spielt. Nur wenige Minuten von den Hightech-Produktionshallen entfernt beginnt die Puszta, wo Hirten Traditionen am Leben erhalten. Kecskemét steht an einem Scheideweg. Die Frage, was von der lokalen Identität im Schatten eines globalen Giganten bleibt, ist hier nicht leicht zu beantworten. Einerseits hat die Stadt ihren Aufstieg vorangetrieben, andererseits hat sie ihre Wurzeln in den weiten, grenzenlosen Ebenen der Puszta nicht vergessen. 

Ein Hoch auf die Geduld: Mercedes und Pálinka

In der Stadt, in der die Aprikose zum hochprozentigen Nationalgetränk wird, beginnt der Tag oft mit einem „Pálinkás jóreggelt!“ (guten Morgen mit Pálinka). Der Gruß hat eine lange Geschichte: Früher trank man schon morgens ein Gläschen des scharfen Obstbrandes, um in den Tag zu starten. Der Schnaps besiegelte auch Geschäfte, was ihm den Beinamen „Áldomás Pálinka“ (Segen-Schnaps) gab.

Für unseren Versuch, ein Taxi zu bestellen, hätte man an diesem Montagmorgen in Kecskemét wahrlich eine Flasche Pálinka verdient. Doch statt eines neuen Werks für Mercedes oder Rheinmetall hatten wir nur ein kleines, aber hart erkämpftes Ziel erreicht: endlich mobil zu sein. Der Taxifahrer lüftete das Geheimnis um unsere Geduldsprobe: Am selben Morgen waren 33 Taxis für die Mercedes-Fabrik bestellt worden, da es nicht ausreichend Busse gibt. So mussten wir als Besucher unsere Geduld auf die Probe stellen. Am Ende wurde die Wartezeit zum greifbaren Beweis, dass das deutsche Blech nicht nur die wirtschaftliche Zukunft der Stadt besiegelt, sondern auch ihren Alltag erheblich verändert hat.

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Quelle: https://www.freie-medienakademie.de/medien-plus/gold-und-blech

Éva Péli ist freie Journalistin und Übersetzerin mit Schwerpunktthemen aus Mittel- und Osteuropa, schreibt unter anderem für die nachdenkseiten, das Magazin Hintergrund und das ungarische Fachportal für den postsowjetischen Raum moszkvater.com.

Disclaimer: Berlin 24/7 bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion Berlin 24/7 widerspiegeln. Wir bemühen uns, unterschiedliche Sichtweisen von verschiedenen Autoren – auch zu den gleichen oder ähnlichen Themen – abzubilden, um weitere Betrachtungsweisen darzustellen oder zu eröffnen.

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