Unzählige Menschen verzichten trotz Anspruch auf Sozialhilfe, weil sie Angst vor Stigmatisierung haben. Der Staat spart dadurch zwar Milliarden, doch der Schaden ist groß. Das schreibt Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) und Professor für Makroökonomie an der Humboldt-Universität zu Berlin, auf seinem Blog.
Der Sozialstaat wird zunehmend als wirtschaftliche Bremse und Problem für die Zukunftsfähigkeit Deutschlands dargestellt. Doch der Anstieg der Sozialausgaben ist nicht einer vermeintlichen Faulheit oder fehlenden Leistungsbereitschaft der Menschen geschuldet, sondern zuerst der Alterung unserer Gesellschaft. Darauf macht DIW-Präsident Marcel Fratzscher aufmerksam. Er kritisiert die populistische Behauptung, die Sozialausgaben in Deutschland seien zu großzügig und der Staat müsse Leistungen beschneiden. Dieses Narrativ widerspreche fast allen Fakten.
Oft werde vergessen, dass viele Menschen auf soziale Leistungen verzichten würden, erinnert der Wirtschaftsexperte. Er beruft sich auf eine Studie des DIW Berlin aus dem Jahr 2019, wonach 60 Prozent aller Rentnerinnen und Rentner mit Anspruch auf Grundsicherung im Alter diesen gar nicht geltend machen würden. Das sind laut der Studie etwa 625.000 Haushalte. Beim Bürgergeld könnte es anderen Studien zufolge mehr als ein Drittel aller Anspruchsberechtigten sein und beim Kinderzuschlag sogar zwei Drittel, die auf Sozialleistungen verzichten.Im Ergebnis spare der deutsche Sozialstaat sehr viel Geld dadurch, dass viele Menschen in Deutschland aus Scham, Angst und Selbstrespekt die ihnen zustehenden Leistungen ausschlagen, so Fratzscher.
Der Professor verweist auf eine Studie der Ernst-Abbe-Hochschule Jena aus dem Jahr 2023, die vier Hauptgründe nennt, warum Menschen im Alter die Grundsicherung nicht in Anspruch nehmen: Erstens die Stigmatisierung von Menschen, die soziale Leistungen erhalten. Eine zweite Erklärung ist demnach die Angst vor einer Überforderung und vor der Belastung, die ein Bezug bedeuten könnte. Die dritte und vierte Erklärung betreffen das Selbstbild der Anspruchsberechtigten. Viele würden im Bezug der Grundsicherung im Alter ein Eingeständnis des persönlichen Scheiterns sehen. Zudem würden zahlreiche Anspruchsberechtigte verzichten, weil es ihnen wichtig sei, selbstbestimmt und unabhängig zu leben.
Trotz vieler Verbesserungsmöglichkeiten sei der deutsche Sozialstaat effektiv, so Fratzscher. Es gebe heute weniger Bedürftige als vor 15 oder vor 30 Jahren. Der Niedriglohnsektor ist ihm zufolge in den vergangenen zehn Jahren deutlich geschrumpft und die Arbeitslosenquote gering. Die demografische Alterung der Gesellschaft bedeute, dass heute fast zwei Drittel des Sozialbudgets für Alter und Gesundheit ausgegeben werde, dagegen weniger als fünf Prozent für Bürgergeld und Arbeitslosigkeit.
Härtere Sanktionen beim Bürgergeld könnten dem Staat gewisse Einsparungen bringen, schreibt er. Was der Staat durch die Nichtinanspruchnahme sozialer Leistungen spare, dürfte jedoch um ein Vielfaches höher sein. Etwa 170 Millionen Euro pro Jahr durch Strafen beim Bürgergeld stehen laut dem DIW-Präsident zwei Milliarden Euro Einsparungen in Folge des Verzichts bei der Grundsicherung im Alter gegenüber.
Diese Einsparungen seien jedoch sowohl für die Betroffenen als auch für die Gesellschaft und den Sozialstaat als Ganzes schädlich, so Fratzscher. Denn soziale Leistungen sollen Menschen vor Armut schützen und ihnen eine soziale Teilhabe ermöglichen. Dies sei essenziell, damit vor allem Menschen im erwerbsfähigen Alter wieder in Arbeit kommen und selbstbestimmt leben können, betont der Wirtschaftsforscher.