Der alte weiße Mann: Er ist grimmig und verbittert – und er ist schuld an dieser schlechten Welt. Ehrlich jetzt? Gibt es kein bisschen Gutes, das er bewirkt hat?
Ein Kommentar von Roberto J. De Lapuente
Eine Theorie ist zu einer der ganz großen Mythen in unserer an Mythen ausufernden Zeit geworden: Der weiße alte Mann nämlich – und wie er es mal so richtig verbockt hat! Weil er nicht mehr der ungestörte Meister des Universums sein kann, ist er angeblich mordssauer – denn er hat nur eines im Sinn, einen verwegenen Plan: Er will seine Deutungshoheit zurück. Was wirklich schlimm ist, denn er gilt bekanntlich als verantwortlich für eine mehr als 10.000 Jahre alte Menschheitsgeschichte voller Ausbeutung, Unterdrückung, Mord und Krieg.
Dass die Welt dieser schreckliche Ort ist, den wir alle kennen, in dem wir uns heute alle bewegen, hat nämlich mit dem Mann zu tun. Ja, mit dem Männlichen. Und ganz speziell mit dem weißen Cis-Mann und seinen männlichen Vorstellungen. So will es der Mythos – so gilt es mittlerweile als allgemein anerkannt.
Der Mann: Ein umgekehrter König Midas?
Dass der Mann an allem schuld sein soll, »lenkt ab von dem Umstand, dass auch viele der wichtigsten philosophischen, juristischen und politischen Waffen der Emanzipation wie zum Beispiel die Ideen der Aufklärung, die Deklaration der Menschenrechte, die Kritik der politischen Ökonomie oder auch die Gender-Theorie, von weißen Männern entwickelt wurden«, erklärte der Philosoph Robert Pfaller bereits vor einigen Jahren in einem Interview dem Dummy-Magazin (Ausgabe: Herbst 2018). So eindeutig sei die ganze Gemengelage nämlich gar nicht: Männer hätte auch Gutes bewerkstelligt. Die meisten Eltern des Grundgesetzes waren bekanntlich Väter – und wir beziehen uns doch gerne, auch weil es richtig und humanistisch nachvollziehbar ist, auf genau dieses Grundgesetz. Zumindest sonntags auf Podien, wenn man Redner ist.
Pfaller lässt an diesem »postmodernen Gerede« kein gutes Haar, denn er hält das für gefährlich. Man könne nämlich nicht so tun, als wären all diese Errungenschaften »entbehrlich und verzichtbar; ja als ob eine Befreiung ohne die mühsam dafür entwickelten und erkämpften Instrumente möglich wäre«. Die »postmodernen Militanten [kippen] die Emanzipation und den Anspruch auf Gleichheit auf den Müll«, mahnt er. Daher fand Pfaller damals, dass leider nicht nur die Rechten dumm seien – die normative Linke sei es auch, weil sie sich solcher postmaterialistischen Theorien verschrieben habe, ohne sie kritisch zu analysieren. Sie sei also quasi ideologisch verstrickt.
Habeas Corpus Act, Menschenrechtscharta, das Konzept der Nächstenliebe, der Versuch der Aufklärung, Grundgesetz: Mensch, für den weißen alten Mann ist das alles eigentlich nicht schlecht! Er war eben kein umgekehrter König Midas: Nicht alles was er anfasste wurde zwangsläufig zu Scheiße, wie es scheint. Er entwarf eine Welt, in der eben nicht nur Gewalt und Ausbeutung zelebriert wurde, sondern auch Fürsorge und Friedfertigkeit. Natürlich schuf er kein Paradies auf Erden, selbstverständlich wurden unter seiner Kuratel auch Ungerechtigkeiten, sexuelle Machtdemonstrationen und menschliche Offenbarungseide geleistet – überhaupt gar keine Frage. Und dass man diese Einseitigkeiten abzuschaffen trachtet, ist auch zu begrüßen. Aber so zu tun, als hätten die Altvorderen nur Scherben hinterlassen, aus denen man nichts mehr basteln könne: Das ist geschichtsvergessen und destruktiv.
Ein Licht geht auf
Und es ist ein fulminanter Betrug am Geschichtsverständnis – mehr noch: geradewegs eine Manipulation. Männer sind eben nicht nur vom Mars – sind also nicht durchweg und ohne Unterlass treue Vasallen des römischen Kriegsgottes gewesen. Die Welt, in der wir uns bewegen, sie ist im Guten wie im Schlechten eine Welt, die von den Menschen vor uns angetrieben wurde – vermmutlich meistens von Männern. Die Weltgeschichte nun in eine dunkle Zeit vor und eine erleuchtete Zeit danach einzuteilen, ist nicht statthaft – auch wenn so ein Vorgehen eine gewisse menschliche Konstante darstellt.
Denn als dunkle, ja neblige Zeit, wird auch das Mittelalter historisch in Szene gerückt. Dabei sei das nicht unbedingt auszumachen, wie der Historiker Andrej Pfeiffer-Perkuhn immer wieder erklärt. In gewisser Weise sei das Mittelalter erfunden worden, weil der Renaissance-Mensch sich von der Vergangenheit seiner Altvorderen abgrenzen wollte. Jahrhunderte später derselbe Kniff: Die Zeit der Aufklärung galt als angebrochen, in anderen europäischen Sprachen bemüht diese Epoche namentlich das Licht: »Siècle des Lumières« auf Französisch, »Illuminismo« auf Italienisch oder »Age of Enlightment« auf Englisch. Das Licht erfüllt hier den Zweck, die Zeiten davor als schattige Topoi zu skizzieren: Es ist die Metaphorik von Zeitgenossen, die sich selbst in einer ganz großen Zeit sehen und alles was vormals war, als lächerliches Vorspiel abtun, das mit ihnen nichts mehr zu tun hat – ja, nichts mehr zu tun haben soll.
Der alte weiße Mann, der jetzt seit etlichen Jahren bemüht wird, um die Unzufriedenheit vieler auf diesem Planeten erklärbar zu machen, ist in etwa ähnlich einzuschätzen wie der Kniff der Renaissance oder später der Aufklärung. Es ist der Versuch, das eigene Wirken in der Geschichte zu überhöhen, indem man die Vergangenheit und deren Protagonisten erniedrigt. Und es mag eine psychologische Komponente hineinspielen, die auch anno dazumal nicht irrelevant war: Je mehr man spürt, dass die eigenen großen Zeiten ebenso unzureichend sind, wie jene vorher, desto nachdrücklicher muss man betonen, wie bitter es die Ahnen in den Sand gesetzt haben. Wenn man an der eigenen Moral scheitert, heißt es mit Angriff zu verteidigen. So machten es die Jakobiner schließlich auch: Ihre alles umstülpende Moral fruchtete nicht. Daran konnten nur die Adligen, die Kleriker und alle jene schuld sein, die in der alten Welt wirkten und eine vollkommen schlechte Welt erschaffen und damit hinterlassen haben.
Frauen an der Macht
Zum großen Glück haben alte weiße Männer bewirkt, dass man die Methoden noch älterer weißer Männer nicht mehr umsetzt: Und nicht mehr Köpfe von Körpern guillotiniert. Was auch anzeigt: Alte weiße Männer wiesen in der menschlichen Geschichte immer auch die Fähigkeit auf, sich weiterzuentwickeln. Er war mitnichten der dumpfe Neandertaler, der durchweg die Kraft seiner Keule als Ende der Diskussion definierte. Er schuf das Vertragsrecht, die Absprache, die Koalitionsfähigkeit – und die Toleranz. Weil er als geschichtliches Subjekt ganz offenbar zu der Erkenntnis kam, dass seine Gewaltbereitschaft, sein Egoismus und sein Hang zur eigenen Vorteilnahme selten von dauerhaftem Erfolg gekrönt sein wird.
Damit ist selbstverständlich nicht gesagt, dass in a man’s world, die Zustände besser waren, als sie es heute sind. Sie wären heute aber auch nicht besser, wenn zunächst die Evolution, später gesellschaftliche Konventionen, das weibliche Geschlecht der Spezies Mensch begünstigt hätte. Das sieht man dieser Tage recht schön, wenn Frauen politische Macht innehaben und regieren, wie es alte weißer Männer nicht besser konnten – manchmal sind sie sogar schlimmer als alte weiße Männer. Das Europa unter Senioren wie Helmut Kohl oder François Mitterrand taumelte jedenfalls nicht am Rand eines Dritten Weltkrieges herum. Gäbe es diese Gefahr mit Mann an der EU-Spitze statt einer Frau von der Leyen nicht? Unfug! Natürlich gäbe es das auch! Die Dimension des Mütterlichen, mit der vor Jahren immer wieder die Wahl von Frauen in hohe Ämter schmackhaft gemacht werden sollte, hat ihre Wirkmächtigkeit doch längst verloren. Und je deutlicher das wurde, desto lauter installierte man die Kunstfigur des alten weißen Mannes ins Gedächtnis des öffentlichen Bewusstseins.
Treppenwitz dieser Betrachtung ist, dass jene Aktivisten, die besonders laut dem Männlichen den Kampf ansagen, sich auf Institutionen, Denkrichtungen und Ideologien berufen, die genau dieses Männliche erschaffen oder zumindest in die Wege geleitet hat. Dank ist dafür nicht nötig – aber ein bisschen historisches Bewusstsein wäre schon mal ein Anfang. Wir stehen hier nicht im Licht – wir stehen nur an einer anderen Stelle im Dunkeln. Die, die nach uns kommen, werden das sicherlich exakt so darstellen, wenn sie sich an ihren Ahnen – an uns – mit verächtlicher Retrospektive erinnern.
Roberto J. De Lapuente, Jahrgang 1978, ist gelernter Industriemechaniker und betrieb acht Jahre lang den Blog ad sinistram. Von 2017 bis 2024 war er Mitherausgeber des Blogs neulandrebellen. Er war Kolumnist beim Neuen Deutschland und schrieb regelmäßig für Makroskop. Seit 2022 ist er Redakteur bei Overton Magazin. De Lapuente hat eine erwachsene Tochter und wohnt in Frankfurt am Main. Im März 2018 erschien sein Buch „Rechts gewinnt, weil links versagt“.
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