Das Ende der Opposition

  • MEINUNG
  • Juli 8, 2025
  • 0 Kommentare

Opposition ist hierzulande zu einem Schmuddelwort geworden. Denn wer opponiert, der kommt in die Quere und stört. Wie kam es, dass man Opposition für verzichtbar hielt?

Nachdenkliches von Roberto J. De Lapuente

shutterstock/Radu Bercan

Neulich bot mir YouTube ein Video an – eine alte Aufzeichnung der ARD, aus dem Jahr 1997, um es genauer zu sagen. Damals ist der berühmte Theaterintendant August Everding nach Rom gefahren, hat in vatikanischen Räumlichkeiten den Kardinalpräfekten besucht, um ihn zu interviewen. Ein recht bekannter Mann, der acht Jahre später wirklich weltbekannt werden sollte – unter seinem Papstnamen Benedikt XVI. Everding sprach also mit Joseph Kardinal Ratzinger. Und das auf eine so gekonnte Art, dass es ein Vergnügen ist, den beiden Männern zuzuhören.

Überhaupt wird einem beim Lauschen gewahr – mir schwant schon, was gleich hier an Ort und Stelle kommentiert wird –, welch großer Geist in dem Bayern steckte. Damals galt er vielen als Hardliner. Besonders den Insidern, denn 1997 war Ratzinger der deutschen Öffentlichkeit zwar nicht unbekannt, aber ein jedem Deutschen bekannter Kopf war er nun auch nicht gerade. Leute wie der Theologe Hans Küng hatten eine Meinung zum Kardinalpräfekten – und sie prägten damit das Bild dieses Mannes in der Öffentlichkeit: Der offizielle Nachfolger der Großinquisitoren sei er, damit mittelalterlich in seinen Auffassungen. Dass dabei die Inquisition gewollt und auch getrieben von Ahnungslosigkeit falsch verstanden wird, versteht sich von selbst – auch hier ist gut kalkulierbar, was unten gleich kommentiert wird.

NGOs gegen die Kirche?

Jedenfalls sagt dieser Ratzinger Dinge, die man aus der Warte von 2025 mit drei Ausrufezeichen versehen möchte. Man möchte den Kardinalpräfekten geradezu dankbar an beiden Händen packen und ihn als einen Menschen begrüßen, der querdenkt, der gegen den Zeitgeist schwimmt: Ja, der baldige Papst spricht dort wie jemand, dem man heute auf einer Demo gegen rechts ein anklägerisches Pappschild entgegenhalten würde, aber nicht etwa, weil er ein Rechter wäre, sondern weil er Dinge anspricht, die jeder Regierung, die ihr Maß und ihre Mitte verloren hat, wirklich Bauchschmerzen bereiten müssen. Ratzinger spricht dabei nicht wie ein Ankläger, sondern bleibt stets intellektuell überlegen.

Eine Sentenz bleibt besonders in Erinnerung. Everding konfrontiert ihn mit einem Ausspruch des italienischen Regisseurs Pier Paolo Pasolini, der mal meinte, die Kirche müsse in die Opposition gehen. Pasolini war seiner Zeit voraus, die Kirche ist heute in ihrem Beharren an die Tradition – nicht die katholische Kirche in der Bundesrepublik, versteht sich –, ein Hort der Opposition gegen die Beliebigkeiten und Spinnereien dieser Zeit. Sie ist es nicht unbedingt proaktiv, sie landete fast automatisch in dieser Rolle, weil sie sich in gewissen Vorstellungen treu blieb. Und man wird den Eindruck nicht los, dass bei den schon genannten Demonstrationen gegen rechts immer auch eines zentral ist: Der Kampf gegen ein Weltbild, das von christlichen Werten geprägt ist. Geht es zu weit, wenn man behauptet, dass die NGOs, die diese Kundgebungen choreographieren, auch einen Kampf gegen die Kirche führen?

Zurück zu Everding und seiner Frage. Ratzinger geht Pasolinis Forderung zu weit, die Kirche könne auch zustimmen und brauche nicht nur dagegen sein, erklärt er. Aber er gibt zu bedenken: Recht habe Pasolini darin, »dass jede Gesellschaft versucht ist, sich in Lebensformen einzuhausen, die dann ungerecht und unmenschlich werden – und dass daher Opposition immer nötig ist.« Das ist ein erstaunliches Zitat – 1997 war es das vielleicht noch nicht. Aber heute hat es eine wichtige Botschaft, denn wir haben als Gesellschaft verlernt zu verstehen, dass Fortschritte nicht einfach errungen werden und dann sind sie für alle Zeit in der Welt. Nein, man muss sie immer wieder verteidigen. Mit Kontrollmechanismen und indem man immer wieder gegen den Strich bürstet, wie man so sagt. Man scheint heute allerdings davon auszugehen, dass Errungenes keiner Pflege bedarf. Der Umgang mit dem Staatssystem, das man Demokratie nennt, zeigt das frappierend. Offenbar glaubt man hierzulande, dass die Demokratie unumstößlich ist. Schließlich gab es sie ja schon eine Weile. Wer will uns die noch streitig machen?

GroKo: Ein K.o. für die Opposition

Diesem Joseph Ratzinger war bewusst, dass ohne Opposition die Zustände besorgniserregend werden. Als er das formulierte, gab es noch eine Opposition in Bundestag. Ein Jahr später sollten die Opponenten die Ära Kohl beenden und selbst zur Bundesregierung werden. Was keiner 1998 ahnte: Die Sozialdemokratie, die damals seit 1982 in der Opposition saß, würde bis ins Jahr 2025 fast durchgehend Koalitionspartnerin sein – und so gut wie keine Opponentin mehr. Das dürfte Teil des Problems sein, warum wir im Laufe der Jahre verlernt haben, uns den politischen Betrieb als Streitkultur zwischen mindestens zwei Positionen vorstellen zu können. Die bundesdeutsche Öffentlichkeit hat regelrecht verlernt, dass der politische Betrieb vom Parteienstreit lebt.

Die Großen Koalitionen, die seit 2005 immer wieder das Land regierten, haben die politische Wahrnehmung massiv geprägt. Vor 20 Jahren wurde heftig diskutiert, ob eine Koalition zwischen den beiden damaligen Volksparteien überhaupt gut sei für die Gesellschaft. Man verwies auf die Koalition von Union und SPD von 1969, die man nur als Ausnahmefall betrachtete und die auf keinen Fall langfristig eine Neuauflage erfahren sollte, um nicht das Gefühl von Alternativlosigkeit entstehen zu lassen. Im Jahr 2013 erfuhr diese GroKo, wie man sie abkürzte, eine abermalige Neuauflage, die dann bis ins Jahr 2021 hielt. Schon da sprach kaum noch jemand kritisch über die Zusammenarbeit der beiden größten Parteienblöcke im Parlament. Im Gegenteil, plötzlich hob man hervor, welch Möglichkeiten so eine Koalition berge. Denn wenn es so gut wie keine Opposition gäbe, die sich ernstlich gegen Regierungsabsichten stemmen könne, müsse man sich nicht mit diesem lästigen Parteienstreit aufhalten, der den ganzen Betrieb doch bloß unnötig lähme.

Parteienstreit war ohnehin das Stichwort am Anfang des Jahrtausends. Die Medien prognostizierten eine große Politikverdrossenheit und schoben das auf den Zwist verschiedener Parteien im Bundestag, die den Reformprozess behinderten. Durch den Streit zwischen den Positionen würde Deutschland den Anschluss im internationalen Wettbewerb verlieren. Demokratische Streitkultur galt nun als Hemmnis. Daher benötige das Land nicht noch mehr von dieser Streitkultur, sondern endlich einen Sinn für pragmatische Lösungsansätze, die man nicht herbeidebattieren, sondern gewissermaßen exekutieren sollte: So sah das der Medienbetrieb seinerzeit mehrheitlich. Anders gesagt: Opposition störte. Und die GroKo eröffnete alle Chancen, diese Opposition so klein wie möglich zu halten und der leidigen Diskussionskultur Grenzen aufzuzeigen.

Wir sind Papst!

Letztlich könnte man attestieren, dass in Deutschland genau das geschah, wovor der Kardinalpräfekt und spätere Heilige Vater – in anderem, in generellerem Kontext – warnte: Dass nämlich »jede Gesellschaft versucht ist, sich in Lebensformen einzuhausen, die dann ungerecht und unmenschlich werden«. Aus diesem Grund benötigt man die Opposition, eine Entgegensetzung also, was das Wort auf Deutsch bedeutet. Sie auszuschalten – oder Schritt für Schritt einschlafen zu lassen, was für die zeitgenössische Bundesrepublik wohl besser zutrifft –, mündet in die Verstetigung der Ungerechtigkeit und Unmenschlichkeit. In diesem Stadium befinden wir uns in diesem Lande. Opposition wurde zu einem schmuddeligen Unwort umfunktioniert. Wer opponiert, der stört, steht im Weg, hemmt die Abläufe, der muss weg, soll endlich schweigen. Es ist für die, die herrschen, so viel schöner ohne eine Opposition, die diesen Namen auch verdient. Eine folkloristische Opposition nimmt man hingegen hin. Es soll doch schließlich alles ordentlich aussehen.

Dass ausgerechnet ein Kirchenmann Mitte der Neunzigerjahre so spricht, wie heute die Kritiker der Zustände in diesem Lande, mag viele überraschen – und wieder ahnt man bereits, was hier gleich für Kommentare abgesetzt werden –, aber es zeigt letztlich auf, wie die zeitgenössischen Medien die Wirklichkeit im Lande ausblenden. Denn während man katholischen Kirchenleuten vorhält, dass der Vatikan der letzte despotische Staat im zivilisierten Europa sei, war es jener Mann, den sie später Benedikt XVI. nannten, der mehr demokratisches Verständnis aufwies, als die Großzahl der Journalisten von heute, die vorgeben, im Dienste der demokratisch-freiheitlichen Grundordnung zu berichten. Mit ihrer einseitigen und stigmatisierenden »Berichterstattung« schalten sie jene Opposition aus, die im damaligen Interview − in eben jenem Vatikan – noch als so dringend notwendig gelobt wurde.

Überhaupt äußerte sich Joseph Kardinal Ratzinger noch an mehreren Stellen jenes Gespräches mit dem – ebenfalls wunderbar fragenden – August Everding auf eine Art, wie man das heute nur noch selten zu Ohren bekommt. Und wenn doch mal jemand so spricht, dann stammt er zumeist aus dem Lager derer, die heute opponieren und immer stärker marginalisiert werden. So auch Ratzingers Medienkritik, die wirklich und wahrhaftig à la bonheur ist: »Die Menschen sind ja beim Ereignis selbst nicht dabei. Aber sie sehen den Bericht über das Ereignis, der notwendigerweise schon eine Interpretation und eine Auswahl ist. Am Schluss wird der Bericht also wichtiger als das Faktum selbst. Das heißt: Wir fangen an, immer mehr vom Schein zu reden, von der Erscheinung – und damit sozusagen für die Erscheinung zu produzieren. Die Politiker – und auch die Kirchenleute – sind in Gefahr, dass sie nicht mehr fragen: Was ist jetzt das eigentlich Richtige?, sondern: Was wird ankommen? Wie wird es berichtet, wie wird es angenommen werden? Das heißt, dass man schon gar nicht mehr für die Wirklichkeit handelt, nach den Maßstäben, die einem das Gewissen vorgäbe, sondern für die Erscheinung handelt, die man machen wird.«

Mit solchen Sätzen liefe der Mann, der später Papst wurde, heute wirklich Gefahr, von der »Jugend ohne Gott«, dieser Generationen voller Sinnentleerung, die sich heute als allwissend aufspielen, als gefährlicher Opponent betrachtet zu werden. Anders gesagt, jeder kritische Freigeist müsste eigentlich nach Betrachtung des Interviews ausrufen: Wir sind Papst!

Roberto De Lapuente

Roberto J. De Lapuente, Jahrgang 1978, ist gelernter Industriemechaniker und betrieb acht Jahre lang den Blog »ad sinistram«. Von 2017 bis 2024 war er Mitherausgeber des Blogs »neulandrebellen«. Er war Kolumnist beim »Neuen Deutschland« und schrieb regelmäßig für »Makroskop«. Seit 2022 ist er Redakteur bei »Overton Magazin«. De Lapuente hat eine erwachsene Tochter und wohnt in Frankfurt am Main.
Mehr Beiträge von Roberto De Lapuente →

Disclaimer: Berlin 24/7 bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion Berlin 24/7 widerspiegeln. Wir bemühen uns, unterschiedliche Sichtweisen von verschiedenen Autoren – auch zu den gleichen oder ähnlichen Themen – abzubilden, um weitere Betrachtungsweisen darzustellen oder zu eröffnen.

Related Posts

Westliche Mythen: Russland hat keine Million Soldaten verloren, neues zu BRICS und mehr

Pepe Escobar, renommierter Journalist und Analyst, gab in einem kürzlichen Interview mit Judge Andrew Napolitano auf „Judging Freedom“ tiefgehende Einblicke in geopolitische Spannungen. Das Gespräch, das am 1. Juli 2025…

Entlarvende Offenbarung

Der deutsche Bundeskanzler dankt Israel, dass es für uns die Drecksarbeit macht. Auch die Ukraine verteidigt mit dem Blut ihrer Bürger unsere Freiheit. Was aber sagen solche Sichtweisen aus über…

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

You Missed

Das Ende der Opposition

  • Juli 8, 2025
  • 5 views
Das Ende der Opposition

Westliche Mythen: Russland hat keine Million Soldaten verloren, neues zu BRICS und mehr

  • Juli 7, 2025
  • 84 views
Westliche Mythen: Russland hat keine Million Soldaten verloren, neues zu BRICS und mehr

Entlarvende Offenbarung

  • Juli 6, 2025
  • 72 views
Entlarvende Offenbarung

KI an Bord: Kampfpiloten leben länger

  • Juli 5, 2025
  • 23 views
KI an Bord: Kampfpiloten leben länger

Trump und der Kult des Todes

  • Juli 4, 2025
  • 25 views
Trump und der Kult des Todes

Die Bilderberger: Ein geheimes Zentrum der Macht transformiert die Welt

  • Juli 3, 2025
  • 28 views
Die Bilderberger: Ein geheimes Zentrum der Macht transformiert die Welt