Mit der Ermordung des österreichischen Erzherzogs Franz Ferdinand am 28. Juni 1914 in Sarajewo begann der Countdown zum Ersten Weltkrieg. Kaum jemand fragte sich, welche Kräfte die minderjährigen Attentäter für diesen Terroranschlag instrumentalisiert und welche Motive hinter diesem Anschlag gestanden hatten (bis heute!). Die Märkte nahmen den Mord an dem österreichisch-ungarischen Thronfolgerpaar zunächst gelassen hin. Hatte es doch in jedem der drei vorangegangenen Sommer Balkankrisen bzw. Balkankriege gegeben, die alle nicht zu einem Großbrand geführt hatten – nicht zuletzt auch, weil Deutschland und Österreich-Ungarn immer wieder zwischen den Konfliktparteien vermittelt hatten.
Ein Beitrag von Wolfgang Effenberger.
„Das kriegerische Ultimatum Österreichs an Serbien am Donnerstagabend, den 23. Juli 1914, veränderte die Marktwahrnehmung des Kriegsrisikos. Dies war der ‚Minsky-Moment‘(1), in dem Gier in Angst umschlug – Kollateralschaden der diplomatischen Krise, bevor ein Schuss gefallen war“ so der britische Wirtschafts-Professor vom “Institute of Contemporary British History”, Richard Roberts: „Es gab ein sofortiges internationales Gerangel um Liquidität, d. h. die Veräußerung von Vermögenswerten und den Abzug von Krediten. Die Börsen auf dem Kontinent stürzten ab und es gab einen Ansturm auf die Sparkassen (nichtspekulative Banken)“(2). In London brachen die Devisen- und Geldmärkte ab Montag, ab dem 27. Juli 1914, zusammen.
Ende Juli 1914 musste die Londoner Börse erstmals in ihrer 117-jährigen Geschichte schließen.
Die englischen Aktienbanken, zu denen einige der größten Banken der Welt gehörten, machten sich zunehmend Sorgen über ihre Anfälligkeit bei einem Ansturm auf Einlagen. Ab Mittwoch, dem 29. Juli 1914, rationierten die Banken die Auszahlungen von Goldmünzen und gaben nur noch 5-Pfund-Noten der Bank of England, ihre kleinste Banknote, aus. Da eine 5-Pfund-Note in heutigem Geld etwa 400 Pfund entsprach, war sie für alltägliche Transaktionen unbrauchbar, sodass sich die Empfänger auf den Weg zur Bank of England machten, um ihre Banknoten in Gold-Sovereigns umzutauschen, wie es ihnen unter dem klassischen Goldstandard möglich war. Dies führte zu langen Warteschlangen, die den Anschein eines Ansturms auf die Bank erweckten. Ein Reporter der Financial Times fand “…eine Schlange von 200 bis 250 Menschen vor, die resigniert darauf warteten, an die Reihe zu kommen, um Zugang zu dem magischen Schalter zu erhalten, an dem Bargeld in einem stetigen Strom ausgeschüttet wurde…“(3). “Gold, Gold, Gold, Gold, hell und gelb; hart und kalt“.(4)
Am Freitag, dem 31. Juli 1914, schloss die Londoner Börse zum ersten Mal in ihrer 117-jährigen Geschichte für fünf Monate ihre Pforten. Es wurde befürchtet, dass ein Ansturm auf die Banken beginnt, der den Zahlungsverkehr und die Kreditmechanismen des Landes bedroht – und dies alles, während Großbritannien am Rande eines Krieges schwankt und dann in das Armageddon stürzt. Vertriebene Makler und Jobber tummelten sich in der Throgmorton Street wie Ameisenschwärme um den Schutthaufen, so Richard Roberts.
Während Europa sich aufmachte, in den Krieg zu ziehen, befand sich die “City of London” im Krieg mit sich selbst.(5)
Obwohl es damals niemandem bewusst war, markierten die sechs Wochen zwischen Sarajewo und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs das Ende der ersten Ära der Globalisierung, in deren Mittelpunkt London und der Goldstandard standen.(6)
In den anderen Metropolen wie Paris, St. Petersburg, Wien und Berlin wurde in der Folge auch der Goldstandard aufgehoben. In Deutschland beseitigten erst die Währungsgesetze vom 14. August 1914 den bis dahin geltenden Goldstandard.(7)
Neben den Finanzturbulenzen in der City of London löste die österreich-ungarische Kriegserklärung die lang vorbereiteten Kriegsplanungen aus – den französischen Kriegsplan Nr. XVII samt Stationierung eines britischen Expeditionskorps in Belgien, den Aufmarsch zweier russischer Armeen im Osten und Süden von Ostpreußen sowie den deutschen Schlieffen-Plan – und dadurch den Ersten Weltkrieg.
Alles eine unabwendbare Folge einer angeblichen Blankovollmacht, die der deutsche Kaiser Wilhelm II. Wien gegeben haben soll?
Nach der Bismarckschen Reichsverfassung war Wilhelm II. der Präsident des Bundesrates, nominell mit dem Titel Deutscher Kaiser. Die Behauptung von Fritz Fischer – als gefährlicher Nationalsozialist von den Alliierten bis 1947 im “automatischen Arrest” gehalten – und seinen Epigonen, der Kaiser habe den Österreichern einen Blankoscheck für den Krieg gegen Serbien ausgestellt, ist in keiner Weise nachzuvollziehen. Wilhelm II. war auf die Zustimmung des Bundesrates angewiesen, wobei die Königreiche Bayern, Sachsen, Württemberg etc. sehr auf Eigenständigkeit bedacht waren und einer Blankovollmacht für eine Kriegserklärung nicht zugestimmt hätten. Als weitere Voraussetzung für eine Kriegserklärung musste der Reichstag den Kriegskrediten zustimmen. Ohne Geld kein Krieg, das wird aktuell ja immer wieder eindrucksvoll vor Augen geführt. Wilhelm II. war ohne Geld nicht einmal in der Lage, die preußischen Militäreinheiten mobil zu machen. Von dieser Regelung konnte nur bei einem Angriff von außen, der das Reich gefährdet, abgewichen werden. Da die Österreicher die bismarcksche Reichsverfassung kannten, war eine Missinterpretation der Äußerungen von Wilhelm II. als Blankoscheck gar nicht möglich.
110 Jahre später kettete der demokratisch legitimierte deutsche SPD-Bundeskanzler Olaf Scholz ohne Rücksicht auf das Grundgesetz und die darin verankerten föderativen Strukturen wie Bundesrat und Parlament mit einem auf zunächst 10 Jahre befristeten Sicherheitsabkommen samt Ankündigung eines milliardenschweren Militärhilfepakets Deutschlands Schicksal an das der Ukraine: „Deutschland ist unerschütterlich in seiner Unterstützung für die Unabhängigkeit, Souveränität und territoriale Unversehrtheit der Ukraine innerhalb der Grenzen, die seit 1991 international anerkannt sind, einschließlich des Küstenmeers und der freien (maritimen) Wirtschaftszone“.(8) Dieses “Sicherheitsabkommen” wurde unmittelbar nach der Unterzeichnung wirksam (16. Februar 2024). Und das alles ohne jegliche Bündnisverpflichtung! Das Parlament war nicht involviert. Am 27. Februar 2022 erklärte Scholz im Bundestag, der Überfall Russlands auf die Ukraine markiere „…eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents“.(9) Für die Sicherung des Friedens in Europa brauche die Bundeswehr „neue, starke Fähigkeiten“, gab Scholz zu und kündigte ein einmaliges „Sondervermögen“von 100 Milliarden Euro „für notwendige Investitionen und Rüstungsvorhaben“ an. Auch hier wurde das Parlament nicht gefragt – der Kaiser hingegen holte sich am 4. August 1914 vom Reichstag die Genehmigung der Kriegskredite. Der Euphemismus “Sondervermögen” steht natürlich auch für noch mehr Schulden.
Die Schwungscheibe des Krieges nimmt Fahrt auf
Am Mittag des 31. Juli 1914 teilte der russische Außenminister Sergei Sasonow dem deutschen Botschafter mit, dass die russische Mobilmachung gegen Österreich-Ungarn beschlossen sei und in wenigen Stunden veröffentlicht werden soll. Der Botschafter bezeichnete diesen Schritt als für den Frieden äußerst gefährlich und wies, wie er dies schon wiederholt an den vorhergehenden Tagen getan hatte, darauf hin, dass sich die Mobilmachung gegen Österreich-Ungarn auch gegen Deutschland richte, da Deutschlands vertragsmäßige Verpflichtungen gegen diese Macht allgemein bekannt seien. Noch am gleichen Tage wurde jedoch die russische Gesamtmobilmachung beschlossen(10).
Brief des Zaren an Kaiser Wilhelm II vom 31. Juli 1914(11)
„Ich danke Ihnen von Herzen für Ihre Vermittlung, die eine Hoffnung gibt, dass Alles noch friedlich enden könne. Es ist technisch unmöglich, unsere militärischen Vorbereitungen zu stoppen, die aufgrund der Mobilisierung Österreichs obligatorisch waren. [Mit dem gleichen Argument reagierte Deutschland auf die russische Mobilmachung an seinen Grenzen, W.E.] Wir sind weit davon entfernt, uns einen Krieg zu wünschen. Solange die Verhandlungen mit Österreich über Serbien stattfinden, dürfen meine Truppen keine provokativen Maßnahmen ergreifen. Ich gebe dir mein feierliches Wort dafür. Ich vertraue ganz auf Gottes Barmherzigkeit und hoffe auf Ihre erfolgreiche Vermittlung in Wien zum Wohl unserer Länder und zum Frieden Europas.
Dein liebevoller Nicky“ (12)
Die russische Mobilmachung hatte für Deutschland den sofortigen Krieg auf zwei Fronten gleichzeitig zur Folge. Der Aufmarsch der zahlenmäßig weit überlegenen russischen Streitkräfte bedeutete eine Bedrohung, welche die deutsche Regierung niemals und unter keinen Umständen untätig mit ansehen konnte.
Die Antwort von Kaiser Wilhelm II. an Zar Nikolaus am 31. Juli 1914 lautete(13)
„Danke für dein Telegramm. Ich habe gestern Ihre Regierung darauf hingewiesen, wie ein Krieg vermieden werden kann. Obwohl ich heute Mittag um eine Antwort gebeten habe, hat mich noch kein Telegramm meines Botschafters erreicht, das eine Antwort Ihrer Regierung übermittelt. Ich war daher gezwungen, meine Armee zu mobilisieren.
Eine sofortige, eindeutige und unmissverständliche Antwort Ihrer Regierung ist der einzige Weg, um endloses Elend zu vermeiden. Bis ich diese Antwort leider erhalten habe, kann ich das Thema Ihres Telegramms nicht besprechen. Tatsächlich muss ich Sie auffordern, Ihren Truppen sofort zu befehlen, nicht die geringste Verletzung unserer Grenzen zu begehen.
Willy“(14)
Doch das Räderwerk der Bündnisautomatismen war bereits in Gang gesetzt.
So telegrafierte Viviani am Abend des 31. Juli 1914 nach Petersburg: „Ich habe nicht die Absicht, dem deutschen Botschafter eine Erklärung über Frankreichs Haltung im Falle eines Konfliktes zwischen Deutschland und Russland abzugeben, und ich werde mich darauf beschränken, ihm zu sagen, Frankreich werde sich durch seine Interessen leiten lassen. Die Regierung der Republik schuldet in der Tat nur ihren Verbündeten über ihre Absichten Rechenschaft“.(15)
In diesem Sinn antwortete Paris sybillinisch auf die Frage des deutschen Botschafters, wie sich Frankreich in einer russisch-deutschen Auseinandersetzung verhalten werde: Man werde den französischen Interessen entsprechend handeln. Es folgten unmittelbar deutsche Ultimaten an Frankreich und Russland.
Im Verlauf des 31. Juli 1914 hatte der englische Außenminister Grey in Berlin und Paris anfragen lassen, „…wie sich die Regierungen zur belgischen Neutralität stellen und ließ gleich wissen, dass England erwarte, Belgien werde seine Neutralität bis zur Grenze seiner Kräfte verteidigen“(16).
Deutschland spielte den Ball zurück und fragte England, ob es bei einem Verzicht Deutschlands auf den Durchmarsch durch Belgien gegenüber Deutschland Neutralität und Frieden wahren werde.(17) Doch London, das drei Tage später, nach dem Ablauf des Ultimatums an Berlin, seinen Kriegszustand mit der deutschen Verletzung der belgischen Neutralität begründete, war nicht bereit, auf den Krieg, der sich zusammenbraute, zugunsten Belgiens zu verzichten. Also sagte London auf diesem Höhepunkt der Krise weder Neutralität noch Frieden zu.(18)
Gegen 19.00 Uhr des 31. Juli 1914 befahl König Albert von Belgien die Mobilmachung. Dadurch wurden die Besatzung von Lüttich auf die Kriegsstärke von 32.000 Mann mit 150 Geschützen gebracht, Straßensperren errichtet, Dörfer verbarrikadiert und die Räume zwischen den Forts durch Schützengräben sowie Erdwälle verstärkt. Dazu wurden im unübersichtlichen Hügelland Drahtverhaue verlegt, während die vorgeschobenen Artilleriebeobachter der Panzerforts ihre Stellungen im Vorgelände bezogen.
Kurz vor Mitternacht eilte der österreichisch-ungarische Botschafter in Paris, Graf von Temerin-Szécsen in das Ministerium des Äußeren, wo er vom stellvertretenden politischen Direktor des Ministeriums, Berthelot, empfangen wurde. Szécsen hoffte, durch das Einlenken seines Außenministers und Vorsitzenden des K. u. K. Ministerrats Graf Leopold von Berchtold, Paris im Interesse des europäischen Friedens umstimmen zu können. Doch Berthelot erwiderte nur, „… dass es schon sehr spät wäre und dass man durch die Ereignisse mitgerissen sei“.(19)
Als Kaiser Wilhelm II. in der Nacht des 1. August 1914 plötzlich die für den Westen mobilisierten Truppen nach Osten umdirigieren wollte, verließ dem Chef des Generalstabes, Helmuth Moltke, genannt Moltke der Jüngere, der Mut, denn er befürchtete ein logistisches Chaos. Enttäuscht sagte der Kaiser zu Moltke: „Ihr Onkel hätte mir da eine andere Antwort gegeben“.(20)
Die Julikrise bleibt ein umstrittenes Kapitel der Geschichte und die Motive und Handlungen der beteiligten Mächte werden bis heute kontrovers diskutiert(21).
Am 1. August 1914 erfolgte um 16.55 Uhr die französische Mobilmachung und fünf Minuten später die deutsche. England mobilisierte die Flotte. Um 18.00 Uhr, nach Ablauf des deutschen Ultimatums an Russland, überreichte der deutsche Botschafter in Petersburg, Graf Pourtalès, dem russischen Außenminister Sergei Dmitrijewitsch Sasonow die deutsche Kriegserklärung. Am selben Abend besetzte eine russische Kosakenabteilung die deutsche Poststelle in Klein-Zwalinnen (südlich von Lötzen), eine andere russische Abteilung drang am 2. August 1914 in Sochen bei Soldau über die Grenze. (22)Und fast gleichzeitig überschreiten die ersten russischen Kavallerie-Aufklärungseinheiten die deutsche Grenze in Ostpreußen(23).
Bedeutung von Teil- oder Gesamtmobilmachungen
Hier muss die damalige Bedeutung von Teil- oder Gesamtmobilmachungen dargelegt werden. Anlässlich der Unterzeichnung der französisch-russischen Militärkonvention von 1892 schloss sich der russische General Nikolaj Obrucev seinem französischen Kollegen, General Boisdeffre hinsichtlich der Bedeutung von Mobilisierungen an: „Die Mobilisierungsbereitschaft bemisst sich nicht mehr in Wochen, sondern in Tagen und Stunden. Der Schritt zur Mobilisierung kann jetzt nicht mehr als eine noch friedliche Maßnahme gelten; sie ist im Gegenteil ein äußerst entschlossener Akt zum Krieg…“.(24) Daraus wird deutlich, dass dem Datum des Beginns der Mobilisierung eine entscheidende Rolle zukommt.
Anlässlich seiner Antrittsreise im August 1912 nach St. Petersburg hatte der neue Staatspräsident Poincaré seine militärischen Berater analysieren lassen, wo die Schwächen der russischen Armee lagen – und was Frankreich dagegen tun könne.
Das Ziel war klar: Deutschland sollte im Kriegsfall in eine politisch wie militärisch aussichtslose Position gedrängt werden. Dazu musste die Voraussetzung des deutschen Schlieffen-Plans (nördliche Umfassung von Paris) mittels eines Zweifrontenkriegs ausgehebelt werden. Poincaré drängte seine russischen Partner, massiv in Transportwege zu investieren, um die Mobilmachungszeit zu halbieren und den Schwerpunkt des Aufmarschs nicht gegen Österreich-Ungarn, sondern gegen Deutschland zu richten.(25) Dazu gewährte Frankreich Russland bis 1914 günstige Kredite in Höhe von 2,5 Milliarden Francs – die bis dahin höchsten Darlehen der Finanzgeschichte. Die Bahnlinien im Westen Russlands wurden zweispurig ausgebaut, die Präsenzstärke der zaristischen Armee auf zwei Millionen Mann erhöht. So hatte die von Russland am 25. Juli 1914 beschlossene Teilmobilmachung schon die Einberufung von 1,1 Millionen Mann zur Folge.(26)
„Mit den Weichenstellungen Poincarés war eine hochbrisante Situation entstanden“, urteilt der Historiker Rainer F. Schmidt: „Jeder Balkankonflikt, bei dem die Interessen Wiens oder St. Petersburgs unmittelbar tangiert wurden, konnte sich schnell zum europäischen Flächenbrand ausweiten, zu einem Krieg der Großmächte“. Genau dazu kam es nach den Schüssen von Sarajevo.
Noch in der Nacht zum 3. August 1914 tauchten Kosakeneinheiten bei Groß-Czymochen, nordöstliches Masuren im heutigen Polen auf. Die nahe gelegene Kreisstadt Marggrabowa kam am 14. August 1914 als erste deutsche Stadt in russische Hand. Es folgte am 19./20. August die Schlacht um Gumbinnen (heute die Stadt Gussew der Oblast Kaliningrad), in der die russischen Armeen die deutschen Truppen zum Rückzug zwingen konnten.
Der amerikanische Neuzeithistoriker William Leonard Langer (1896-1977), der sich speziell mit Bündnissystemen in der Zeit Bismarcks und der Wilhelminischen Periode und mit der Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs befasst hat, antwortete in einem Interview vom 29. September 2013 auf den Verweis des F.A.Z.-Journalisten Andreas Kilb zur Logik des deutschen Generalstabs “
Wir müssen jetzt die Russen schlagen, damit wir nicht in drei Jahren von ihnen geschlagen werden”:
In Deutschland gibt es seit dem Dreißigjährigen Krieg ein spezielles Trauma, das sich in jeder Generation erneuert: das Gefühl, durch die Lage in der Mitte Europas fremden Invasoren gegenüber verletzlich zu sein. Der Rest ist schiere Mathematik. Die franko-russische Allianz ist das aggressivste Bündnis auf dem europäischen Kontinent. Es existiert nur, um gemeinsam Krieg gegen eine dritte Macht zu führen: das Deutsche Reich. Wenn die Deutschen sich ausrechnen, wie viele Soldaten dieses Bündnis gegen sie aufbieten kann, wächst der Abstand mit jedem Jahr.(29)
Die Mobilmachung des mächtigen Zarenreichs führte in Berlin zu verstärkten Tätigkeiten im Generalstab und zu weiteren diplomatischen Anstrengungen. Bethmann Hollweg telegrafierte nach London: „Eine russische mobilisierte Armee an unserer Grenze, ohne dass wir mobilisiert haben, ist auch ohne ‚provocative action‘ eine Lebensgefahr für uns. Die Provokation, deren sich Russland dadurch schuldig gemacht hat, dass es in einem Augenblick gegen uns mobilisiert hat, wo wir auf seine Bitten in Wien vermitteln, ist überdies so stark, dass kein Deutscher es verstehen würde, wenn wir dagegen nicht mit scharfen Maßregeln antworteten“.(30)
Zu diesen Maßregeln gehörte auch die kategorische Forderung an die französische Regierung, zu erklären, ob sie in einem deutsch-russischen Krieg neutral bleiben würde. Eine Antwort wurde binnen 18 Stunden erwartet. Die Absicht war klar: Verweigert Frankreich die Neutralität und stellt es sich auf die Seite Russlands, könnte das Deutsche Reich schon am 2. August gegen Frankreich vorgehen.
Reichskanzler Bethmann-Hollweg hatte seinem Botschafter Schön in Paris noch eine geheime Nachschrift zukommen lassen:
„Wenn, wie nicht anzunehmen, französische Regierung erklärt, neutral zu bleiben, wollen Ew. Exzellenz französischer Regierung erklären, dass wir als Pfand für die Neutralität eine Überlassung der Festungen Toul und Verdun fordern müssen, die wir besetzen und nach Beendigung des Krieges mit Russland zurückgeben würden. Antwort auf letztere Frage müsste bis morgen (1. August, K.) Nachmittag 04.00 Uhr, hier sein.“(31)
Da die Neutralitätserklärung Frankreichs ausblieb, brauchte der Botschafter in dieser Sache nicht mehr aktiv zu werden.(32) Der sozialdemokratische Politiker Eduard David, Wegbereiter der Burgfriedenspolitik, sah im Vorgehen der deutschen Regierung durchaus einen Beweis für deren Friedensliebe.
„Die deutsche Regierung unternahm den Versuch, den Brand wenigstens auf den Osten zu beschränken. Das ist kein kleiner Faktor auf ihrem Verdienstkonto. Er war ernstlich gemeint. Darüber konnte kein Zweifel bestehen.“(33)
Im Gespräch mit dem deutschen Botschafter Karl Max von Lichnowsky am 1. August 1914 machte der britische Außenminister Edward Grey verwirrende Angaben und behauptete, er müsse seine Hände frei halten. Doch seine Hände waren nicht frei, denn es gab streng geheime Militärabsprachen mit Frankreich und Belgien und seit November 1912 gegenseitige Beistandsbriefe zwischen Grey und dem französischen Botschafter Paul Cambon, die dem Parlament trotz Nachfragen zwei Jahre lang verschwiegen worden waren. Und es gab sogar im Juni 1914 bezüglich der Marine Gespräche zwischen England und Russland, die Grey vor dem Unterhaus ebenfalls geheim hielt.(34)
2. August 1914: Deutsches Ultimatum an Belgien und Besetzung Luxemburgs.
Während am Vormittag des 2. August deutsche Truppen Luxemburg mit dem Ziel besetzten, die Eisenbahn unter Kontrolle zu bringen, wurde in Posen das Oberkommando der 8. Armee aufgestellt und tags darauf nach Marienburg verlegt.
Am gleichen Tag stießen russische Truppen in die Kreise Memel und Heydekrug vor. Während sich der überwiegende Teil der russischen Truppen diszipliniert und korrekt gegenüber der Zivilbevölkerung verhielt, kam es vielerorts zu Übergriffen, insbesondere durch Kosaken und sibirische Truppen. Aus den gefährdeten Grenzdörfern begannen die Einwohner zu fliehen. Während die 8. Armee die Verteidigung Ostpreußens aufnahm, machten sich die ersten Kompanien, Bataillone und Regimenter der 1. Armee abmarschbereit.
Großbritannien war am 2. August kriegsbereit und ohne jeglichen Spielraum für eine Verständigung. Noch ehe deutsche Truppen belgisches oder französisches Gebiet betraten (Luxemburg ausgenommen), gab England die Mobilmachung seiner schon seit Mitte Juli 1914 kriegsbereiten Flotte offiziell bekannt. Außerdem waren die Planungen für die britischen Expeditionsstreitkräfte abgeschlossen und warteten nur mehr auf den Befehl für die Anlandung auf dem Kontinent.
In London beugte sich am 2. August das englische Kabinett widerstrebend Greys Forderung, der französischen Flotte im Falle deutscher Angriffshandlungen gegen die französischen Küsten oder die französische Schifffahrt zu Hilfe zu kommen. Aufgrund der vorangegangenen Kriegsplanungen war das Gros der französischen Kriegsflotte im Mittelmeer zusammengezogen worden. Die englische Flotte sollte allein den Kanal sichern.
An diesem Nachmittag nun konnte Grey dem französischen Botschafter Cambon nachfolgenden Text überreichen: „Wenn die deutsche Flotte in den Kanal oder durch die Nordsee vorstößt, um feindliche Handlungen gegen die französischen Küsten oder die französische Schifffahrt zu begehen, wird die britische Flotte jeden in ihrer Macht stehenden Schutz gewähren.“(35)
Grey ließ nicht unerwähnt, dass aus diesem Text nicht das Versprechen abgeleitet werden könne, mit Frankreich in einen Krieg gegen Deutschland einzutreten.
Das konnten die Minister Lord Morley und John Burns nicht mehr umstimmen; sie traten empört zurück, während Lloyd George noch zweifelte. Nun schien die liberale Partei zu zerbrechen. Das veranlasste den Tatmenschen Churchill, auf eigene Verantwortung mit den Tories, seiner früheren Partei, zu verhandeln. Ziel war eine große Koalition zwischen Liberalen und Konservativen. Lord Balfour, der frühere konservative Premierminister, erklärte sich dazu bereit, damit das Land nicht durch eine Antikriegsbewegung gespalten würde.
Um Mitternacht des 2. August telegraphierte der deutsche Reichskanzler nach London:
„Nach absolut zuverlässigen Meldungen hat sich Frankreich heute gegen uns folgende Übergriffe erlaubt:
1. Französische Kavalleriepatrouillen haben heute am frühen Nachmittag die Grenze bei Altmünsterol im Elsass überschritten.
2. Ein französischer Fliegeroffizier ist bei Wesel aus der Luft geschossen worden.
3. Zwei Franzosen haben versucht, den Aachener Tunnel an der Moselbahn zu sprengen und sind dabei erschossen worden.
4. Französische Infanterie hat im Elsass die Grenze überschritten und geschossen.
Bitte das sofort dortiger Regierung mitteilen und Sir Edward Grey ernstlich vorhalten, in welche gefahrvolle Lage Deutschland durch diese wider Treu und Glauben erfolgenden Provokationen gebracht und zu den ernstesten Beschlüssen gedrängt werde. Ew. Exzellenz wird es, wie ich hoffe, gelingen, England davon zu überzeugen, dass Deutschland, nachdem es den Friedensgedanken bis an die äußerste Grenze des Möglichen vertreten hat, durch seine Gegner in die Rolle des Provozierten gedrängt wird, der, um seine Existenz zu wahren, zu den Waffen greifen muss“.(36)
3. August 1914: Deutsche Kriegserklärung an Frankreich.
Am 3. August überbrachte der deutsche Botschafter gegen 18.45 Uhr dem französischen Präsidenten die Kriegserklärung an Frankreich: Darin hieß es u.a.:
„Französische Truppen haben schon gestern bei Altmünsterol und auf Gebirgsstraßen in den Vogesen die deutsche Grenze überschritten und stehen noch auf deutschem Gebiet. Französischer Flieger, der belgisches Gebiet überflogen haben muss, wurde bei Versuch, Eisenbahn bei Wesel zu zerstören, schon gestern herabgeschossen. Mehrere andere französische Flugzeuge wurden gestern über dem Eifelgebiet zweifelsfrei festgestellt. Auch diese müssen belgisches Gebiet überflogen haben. Gestern warfen französische Flieger Bomben auf Bahnen bei Karlsruhe und Nürnberg. Frankreich hat uns somit in Kriegszustand versetzt.“(37)
Nun begannen die deutschen Generalstabsoffiziere, die Planungen für einen Zweifrontenkrieg umzusetzen. Während Frankreich ebenfalls mit Meldungen über Grenzverletzungen aufwarten konnte – die Bethmann Hollweg am 4. August in seiner Kriegsrede bestätigte – waren von deutscher Seite die Meldungen vor allem über die französischen Fliegerangriffe nicht verifiziert worden. Manche stellten sich später als Falschmeldungen heraus.
Am Vormittag des 3. August hatte sich Belgien entschlossen, seine 6 Divisionen kriegsbereit an der Landesgrenze zu Deutschland aufmarschieren zu lassen. Um 11.00 Uhr wurde die englische Regierung darüber informiert und nur eine halbe Stunde später traf beim Lordkanzler Haldane vom Führer der Konservativen eine Erklärung ein. Darin hieß es, dass es für die Ehre und Sicherheit des Vereinigten Königreiches verhängnisvoll sein werde, wenn man zögere, Frankreich und Russland zu unterstützen.(38) Das rückständige, autokratische Russland als Verbündeter – die Pogrome von 1905 ließen noch im Nachhinein erschaudern – war für die meisten liberalen Minister ein Bissen, der Brechreiz auslöste. So legten auch Sir John Simon und Lord Beauchamp ihre Ämter nieder.
Am Nachmittag gegen 15.00 Uhr trat Außenminister Grey vor das Unterhaus und erklärte in der ersten offiziellen und öffentlichen Stellungnahme der Regierung zur Krise den offensichtlich ahnungslosen Abgeordneten, dass sich England auf den in Europa beginnenden Krieg bisher in keiner Weise festgelegt habe. Nun musste Grey der „doppelte Rittberger“ gelingen: seine eigene pazifistische Partei von der Notwendigkeit des Krieges zu überzeugen und sein Land einig in den Krieg zu führen. Grey musste das älteste und geübteste Parlament der Welt dazu bewegen, Frankreich zu unterstützen, ohne dass es dazu verpflichtet war. Dazu brauchte er den deutschen Angriff auf Belgien als Vorwand. Darüber stülpte er einen Appell an die britische Ehre und den Verweis auf die Verteidigung von Englands ursächlichen Interessen.
Der geschickte Taktiker Grey hatte auf die öffentliche Meinung im Land und auch auf die Einstellung der meisten Minister Rücksicht genommen, die überzeugte Gegner einer Intervention waren. Auch traute ihm ein großer Teil seiner eigenen Partei außenpolitisch nicht über den Weg. Er konnte sich jedoch auf seine drei liberal-imperialistischen Partner verlassen: Asquith, Haldane und Churchill.(39) Und auf seinen Generalstab, der seit Jahren alle notwendigen Vorkehrungen bis ins kleinste Detail getroffen hatte. Der Umfang all dieser Vorbereitungen war den meisten Ministern und dem englischen Parlament vorenthalten worden. Das war in London genauso wie in Paris, St. Petersburg und in Berlin.
Es steht außer Frage, dass Deutschland mit dem Eindringen berittener Ulanen-Brigaden in Belgien in der Nacht vom 3. auf den 4. August 1914 die eigentlichen Kampfhandlungen begonnen hat.(40)
Die der Kriegserklärung zugrundeliegende Denkschrift der deutschen Regierung vom 3. August war schon am 2. August mittags abgeschlossen und somit manche der französischen Feindseligkeiten vorweggenommen worden. Das wirft natürlich kein gutes Licht auf die Friedensbereitschaft der deutschen Regierung.
4. August 1914: Großbritannien erklärt kurz vor Mitternacht Deutschland den Krieg
Nach der Kriegserklärung Großbritanniens am 4. August um 23.30 Uhr wurde bereits in der frühen Morgendämmerung in der Nordsee das deutsche Transatlantikkabel vor Emden gekappt und ein Teil herausgeschnitten. Damit war die deutsche Regierung zur Nachrichtenübermittlung auf eine Kabelverbindung der US-Botschaft in Berlin angewiesen, die über eine Relais-Station in England verlief und dort vom britischen Nachrichtendienst abgehört wurde.
Am 5. August 1914 titelte die “New York Times”: “England declares war on Germany – 17.000.000 men engaged in Great War of eight nations”.
In der gleichen Ausgabe veröffentlichte diese Tageszeitung eine Kolumne des britischen Propagandisten H.G. Wells, in der er schrieb, dass nun „…das Schwert für den Frieden gezogen“ sei und „nie ein Krieg so gerecht war wie der Krieg jetzt gegen Deutschland“. Wells war überzeugt, dass Deutschland in 2 bis 3 Monaten zerschmettert und reif für die Revolution sei.(41) Am 6. August 1914 erklärte Österreich-Ungarn Russland den Krieg.
Poincaré hatte im Zenit der Juli-Krise 1914 ähnlich wie Napoleon III. 1870 bei der Kriegserklärung gegen Preußen gehandelt. Der deutsche Militärhistoriker Wolfgang Schmidt bilanziert: „Die Weichen hatte er (Poincaré) seit 1912 gestellt, indem er den engen Schulter-schluss mit Russland und England herstellte. Die russischen Expansionsziele auf dem Balkan und im Bereich der osmanischen Meerengen legten hierfür die Basis, aber auch der feste Entschluss Londons, eine deutsche Dominanz auf dem Kontinent nicht zuzulassen.“ Es geht in Schmidts Aufsatz also weniger um eine Entlastung Deutschlands von der Verantwortung für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs, sondern um die Analyse riskanter Machtpolitik, die den großen Krieg bewusst in Kauf nahm. Das Ergebnis ist ein Lehrstück über die Eskalation einer gefährlichen Situation bis hin zur Katastrophe.
Kriegspläne
Die Kriegspläne der Großmächte waren teils durch ihre geo- und militärpolitische Lage, teils durch ihre Kriegsziele bedingt.
Russland – in Abstimmung mit Frankreich
Während die russische Hauptmacht – bestehend aus der 3., 4., 5. und 8. Armee – gegen Galizien aufmarschierten und dort die österreichisch-ungarische Armee durch drückende Übermacht niederzuwalzen hoffte, sollte die schwache deutsche 8. Armee in Ostpreußen durch einen Zangenangriff zermalmt werden. Der Angriff sollte von Osten her mit der 1. Armee (Njemen-Armee) unter General Paul von Rennenkampff und von Süden her mit der 2. Armee (Narew-Armee) unter General Alexander Samsonow geführt werden; die Vereinigung beider Armeen war in Königsberg vorgesehen. Danach sollte sich die russische “Dampfwalze” gegen Berlin bewegen.
Berlin kannte diese Gefahr – und nahm das Risiko in Kauf. Dem Schlieffen-Plan gemäß wurde Ostpreußen im Zweifrontenkrieg nur mit der schwachen 8. Armee verteidigt; in den ersten sechs Wochen sollte Frankreich rasch niedergeworfen werden, dann sollten sich die deutschen Hauptkräfte nach Osten wenden.
Der deutsche “Schlieffenplan”
Nachdem sich Österreich-Ungarn und Serbien im Krieg befanden, in Russland die Mobilmachungsmaßnahmen auf Hochtouren liefen und der Kaiser den Voralarm “Drohende Kriegsgefahr” ausgelöst hatte, dürfte in allen Generalstäben fieberhafte Hektik ausgebrochen sein. Nun war für die deutschen Strategen das wahr geworden, was Helmuth von Moltke (der Ältere, 1800-1891) und dessen Nachfolger Alfred Graf von Waldersee befürchtet hatten: Ein Zweifrontenkrieg. Beide hatten einen ersten Angriff der Hauptarmee gegen Russland geplant – unter gleichzeitiger Defensive gegenüber der als uneinnehmbar geltenden französischen Maaslinie.
Alfred Graf von Schlieffen dagegen hatte als Chef des Generalstabs des Feldheeres (1891-1905) – inzwischen war die Aufrüstung des Feldheeres mit schwerer Artillerie fortgeschritten – auf Grund seiner Lehre über die Vernichtungsschlacht von “Cannae” eine Denkschrift entworfen, die eine schnelle militärische Entscheidung an der Westfront vorsah.(42)
Unter Verletzung der holländischen, belgischen und luxemburgischen Neutralität gedachte Schlieffen mit einem starken rechten Flügel in einer riesigen Zangenbewegung überraschend über Belgien hinweg den französischen Festungsgürtel zwischen Verdun und Belfort nördlich zu umgehen, Paris zu umklammern und dann der französischen Armee in die Flanke zu fallen, sie zu packen und zu vernichten.(43) Zeitgleich sollte der schwache linke Flügel des Westheeres nötigenfalls sogar bis nach Süddeutschland zurückgezogen werden, um die französischen Armeen auf deutsches Gebiet zu locken. Dann sollte die Falle zuschnappen. In Ostpreußen hoffte Schlieffen, die langsame Mobilmachung der Zarenarmee auszunutzen, für die er 40 Tage veranschlagte. Eine schwache deutsche Armee sollte den russischen Vormarsch so lange aufhalten – nötigenfalls an der Weichsellinie, bis das nach 42 Tagen frei gewordene Westheer mit den Armeen Österreich-Ungarns im Osten einsatzbereit war. Ein Kriegseintritt Englands wurde nicht erwartet, aber in Kauf genommen. Man rechnete mit höchstens einem englischen Expeditionskorps, das ohnehin zu spät auf dem europäischen Kriegsschauplatz eintreffen würde. Nach der Schwächung Russlands im Russisch-Japanischen Krieg und den folgenden revolutionären Wirren wurde der Plan modifiziert und nun von einem Einfrontenkrieg ausgegangen. Schlieffens erste Fassung trug nun den unmissverständlichen Titel “Angriffskrieg gegen Frankreich”.(44) Im Zuge der ersten Marokkokrise sah Schlieffen den Zeitpunkt gekommen, den Plan umzusetzen, jedoch lehnte Kaiser Wilhelm II. einen Krieg ab.(45)
Unter Schlieffens Nachfolger, dem gleichnamigen Neffen des alten Moltke, war der Plan “verwässert” worden, indem die Armee in Lothringen auf Kosten des rechten Flügels in Belgien beträchtlich verstärkt wurde. Die Neutralität Hollands sollte nicht angetastet werden.
Moltke (der Jüngere, 1848-1916) wollte diese “Luftröhre” für die lebenswichtige Rohstoffversorgung neutraler Länder geöffnet halten.
Das erzwang auch den Verzicht auf einen Durchmarsch durch die Provinz Limburg, den weit nach Süden vorspringenden holländischen Zipfel, Nun konzentrierte sich ein geschwächter rechter Flügel auf den Eckpunkt des Städtedreiecks: Aachen im Osten, Maastricht im Westen und Lüttich mit seinem Festungsgürtel bestehend aus 12 Panzerforts im Süden.
Der französische Kriegsplan XVII
In diesen hektischen Tagen zeichnete sich für Berlin ab, dass ein Zweifrontenkrieg nicht mehr vermeidbar war. Die einzige Rettung schien in der Umsetzung des von Moltke modifizierten Schlieffenplans zu liegen. Dafür brauchten nun die deutschen Truppen von Belgien die Erlaubnis zum Durchmarsch. Und diese war sehr fraglich. Bei einer Verweigerung musste Lüttich im Handstreich genommen werden. Dagegen sicherte Viviani Großbritannien die Achtung der belgischen Neutralität zu. Das beeinträchtigte nicht die Kriegsplanungen Frankreichs, sah doch der französische Kriegsplan XVII ebenfalls eine offensive Kriegsstrategie vor.
Mit der Annäherung an England und Russland wurden die – ursprünglich mehr defensiv angelegten Kriegspläne XIV und XV – ab Mai 1909 offensiv ausgerichtet. Mit dem “Plan XVI” wurde die “5. Periode des militärstrategischen Konzepts” eingeleitet. Der Plan XVI sowie der Folgeplan XVII basierten auf der Unterstützung Englands, welches die Meeresgrenzen sichern und ein Expeditionskorps auf den Kontinent schicken würde. Der russische Verbündete war ausrüstungstechnisch und mobilmachungsmäßig besser gerüstet und in der Lage, den Deutschen an deren Nord- und Ostgrenze Paroli zu bieten.
Der vom Chef des Generalstabs General Ferdinand Foch konzipierte französische Offensivplan sah die Versammlung der französischen Hauptstreitkräfte in der bis zur Uneinnehmbarkeit befestigten Linie Belfort-Verdun vor. Die linke Flanke glaubte Foch durch Belgien, die englischen Hilfstruppen sowie seine Reservearmeen genügend gesichert. Während der linke Heeresflügel mit der 3., 4. und 5. Armee aus der Linie Verdun-Meziéres heraus dem von Metz aus erwarteten deutschen Angriff offensiv entgegentreten sollte, hatte der rechte Heeresflügel, bestehend aus 1. und 2. Armee, den Auftrag, zwischen den Vogesen und Metz durchzubrechen und vom Oberrhein in das Herz des Deutschen Reiches vorzustoßen.(46) Foch verlangte für die Umsetzung dieses anspruchsvollen Plans ein energisches, rücksichtsloses Vorgehen und beabsichtigte damit bei den Soldaten eine mystische Dynamik und einen heroischen Kampf-geist auszulösen, gemäß der herrschenden Militärdoktrin “Offensive à outrance”. Mit dieser “Offensive bis zum Äußersten” war Plan XVII – ebenso wie der Schlieffenplan – auf “Kante genäht” und hatte sich an der geo- und militärpolitischen Lage orientiert. Fochs Nachfolger Joseph Joffre hatte Plan XVII 1911 übernommen und weiterentwickelt.
Großbritannien
Hier sollten die Expeditionsstreitkräfte, also die gesamte Territorialarmee, nach Kriegsausbruch gemäß den Absprachen der Generalstäbe sofort nach Französisch-Flandern verlegt werden. Unter Ausnutzung der günstigen strategischen Seelage konnte man ohne Entscheidungsschlacht die deutsche Schlachtflotte durch “Zukorkung” der Nordsee von jeder Wirkung außerhalb der Deutschen Bucht abschließen.(47) In den britischen Stäben wurde in der deutschen Kriegsmarine zu keinem Zeitpunkt eine Gefahr gesehen, was sich über den gesamten Kriegsverlauf bestätigen sollte.
1914 konnte Großbritanniens auf ein “Imperiales Jahrhundert“ (1815-1914) zurückschauen. Nach dem Sieg über Frankreich hatte Großbritannien keine ernstzunehmenden Rivalen mehr, mit Ausnahme des Russischen Reiches in Zentralasien (daher ermunterten die Briten Japan, Russland 1904/05 in der Mandschurei anzugreifen) und dem aufsteigenden Deutschen Kaiserreich. Das Britische Weltreich war vom 17. bis zum 20. Jahrhundert das größte Kolonialreich der Geschichte und vom Ende der Napoleonischen Ära bis zum Ersten Weltkrieg die führende Weltmacht. Zum Zeitpunkt seiner größten Ausdehnung (1922) umfasste es mit 458 Millionen Einwohnern und ca. 33,67 Millionen km² sowohl ein Viertel der damaligen Weltbevölkerung als auch ein Viertel der Landfläche der Erde.(48)
Mit ihrer Politik der “Balance of Power” galt es, jede aufkommende Macht auch in West-eurasien zu verhindern. So musste der erstarkende deutsch-sprachige Raum zersplittert werden. Der Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn sollte durch einen von England abhängigen Vielvölkerstaat der Südslawen (Jugoslawien – siehe Konvention von Korfu 1917) ersetzt werden.
Bei Kriegsausbruch 1914 schrieb zu diesem Zeitpunkt seit über einem Jahr in München Oswald Spengler, der Mathematiklehrer außer Dienst am ersten Hauptteil seines Monumentalwerkes “Der Untergang des Abendlandes”. Von Goethe habe er die Methode, von Nietzsche die Fragestellungen übernommen und aus dessen Ausblick einen Überblick gemacht, erklärte er in der Einleitung seines 1923 erschienen Werkes.(49)
In seinen parallel entstandenen Notizen litt er, lamentierte, klagte über eine schwere Kindheit und eine noch schwerere Gegenwart und notiert täglich neu: „Es geht eine große Zeit zu Ende, merkt es denn keiner?“
Im Frühjahr 1914 war die Weltpolitik nicht nur vergiftet durch die lokalen Problemfelder Serbien, Polen, Elsass-Lothringen und die Türkei, sondern auch geprägt vom globalen Kampf um Wirtschaftsräume – und nirgendwo in den Kabinetten war der Wille zum Frieden zu spüren.
Die große Masse hatte dagegen eine tiefe Sehnsucht nach Frieden. Genauso wie heute hätte es nicht zum Krieg kommen müssen, wenn es in den jeweiligen Staaten nur nach den Bedürfnissen der Bürger gegangen wäre.
Teil 5: Die kurze Halbwertszeit von Kriegsplänen
Der Handstreich auf Lüttich: Deutschland stolpert in den Krieg
Hier die Links zu:
Teil 1: https://apolut.net/die-langen-schatten-des-ersten-weltkriegs-teil-1-von-wolfgang-effenberger/
Teil 2: https://apolut.net/die-langen-schatten-des-ersten-weltkriegs-teil-2-von-wolfgang-effenberger/
Teil 3: https://apolut.net/die-langen-schatten-des-ersten-weltkriegs-teil-3-von-wolfgang-effenberger/
Anmerkungen und Quellen
Wolfgang Effenberger, Jahrgang 1946, erhielt als Pionierhauptmann bei der Bundeswehr tiefere Einblicke in das von den USA vorbereitete “atomare Gefechtsfeld” in Europa. Nach zwölfjähriger Dienstzeit studierte er in München Politikwissenschaft sowie Höheres Lehramt (Bauwesen/Mathematik) und unterrichtete bis 2000 an der Fachschule für Bautechnik. Seitdem publiziert er zur jüngeren deutschen Geschichte und zur US-Geopolitik. Hier die Bücher zum Ersten Weltkrieg:
1) Ein Minsky-Moment ist der Beginn eines Marktzusammenbruchs, der durch spekulative Aktivitäten während einer nicht nachhaltigen Haussephase ausgelöst wird.
2) https://www.lbma.org.uk/alchemist/issue-73/the-great-financial-crisis-of-1914
3) Ebda.
4) Ebda.
5) https://www.lbma.org.uk/alchemist/issue-73/the-great-financial-crisis-of-1914
9) https://www.youtube.com/watch?v=FIk67l9Zp2
10) Rene Puaux: Les Etudes de la Guerre, Heft 2, S. 131
11) https://wwi.lib.byu.edu/index.php/3._Die_russische_Gesamtmobilmachung sowie https://de.alphahistory.com/worldwar1/Nicky-und-Willy-Telegramme-1914/
12) https://www.erster-weltkrieg.com/dokumente/buelow/05_03.html
13) https://de.alphahistory.com/worldwar1/Nicky-und-Willy-Telegramme-1914/
14) Ebda.
15) Bülow Grundlinien S. 99; Gelbbuch Nr. 117
16) Julius Hatschek (Hrsg.) et al.: Wörterbuch des Völkerrechts und der Diplomatie, Berlin/ Leipzig 1924, S. 122
17) Rhonhof 2003, 48
18) Stegemanns, 363
19) Französische Gelbbuch Nr. 120
20) Barbara Tuchman: Daheim wenn das Laub fällt, SPIEGEL 16/1964
21) https://de.wikipedia.org/wiki/Julikrise
22) Schlacht bei Gumbinnen 1914, Gumbinner Heimatbrief, Juni 2014, S. 36
23) Effenberger/ Wimmer 2014, S.
24) Markus Osterrieder, Welt im Umbruch, S. 760
25) https://www.welt.de/geschichte/article158923155/Wie-Frankreich-Deutschland-in-den-Krieg-trieb.html
26) Angelika Eberl hat in ihrem beeindruckende Artikel: Widerlegung der „Hauptschuld“ Deutschlands am 1. Weltkrieg vom 27. März 2019 unter https://fassadenkratzer.wordpress.com/2019/03/27/widerlegung-der-hauptschuld-deutschlands-am-1-weltkrieg/#more-5330 für die Mobilisierungsdaten folgende Werke herangezogen:– Dr. Jacob Ruchti: Zur Geschichte des Kriegsausbruches.– Markus Osterrieder, Welt im Umbruch, Stuttgart 2014.– Wolfgang Effenberger/Willy Wimmer: Widerkehr der Hasardeure, Höhr-Grenzhausen 2014.– Gerry Docherty/Jim Macgregor: Verborgene Geschichte, Rottenburg, 2017
Russland hat am 25. Juli 1914 die Teilmobilisation beschlossen (das bedeutete schon mal die Einberufung von 1,1 Millionen Mann, als Vorspiel zur Generalmobilmachung). (Ruchti, S. 16, Welt im Umbruch 6, S. 759).
Russland leugnete seine am 25. Juli beschlossene Teilmobilisation den Deutschen gegenüber zweimal unter Ehrenwort am 27. und am 29. Juli. „Unmittelbar nach der zweiten Ableugnung gaben sie dieselbe öffentlich bekannt.“ (Ruchti, S. 24).
„Auch in Frankreich begannen jetzt die Vorbereitungen zur Mobilmachung…“ (Welt im Umbruch, S. 759)
Serbien (!) mobilisierte schon am 25. Juli 1914, nachmittags, um 3 Uhr. (Ruchti, S. 18).Am 31. Juli erfolgte die russische Generalmobilmachung. (Ruchti, S. 32)
Am Freitag, 31. Juli verkündete Deutschland die „drohende Kriegsgefahr.“ (Wiederkehr der Hasardeure 7, S. 195). Das ist noch nicht die Generalmobilmachung gewesen.
Jacob Ruchti:„In Österreich erging der Befehl zur allgemeinen Mobilisation (Generalmobilmachung) am 1. August morgens; die Kriegserklärung an Russland folgte erst am 5. August.“ (Ruchti, S. 34). (Bei Welt im Umbruchstehen auf S. 761 für Österreich: Teilmobilmachung ab 25. Juli, als Reaktion auf russische Teilmobilmachung und 31. Juli Generalmobilmachung – allerdings gibt Osterrieder dafür keine Quellen an).
Deutsche Generalmobilmachung am 1. August 1914, um 17:00; (Welt im Umbruch, S. 763 und Verborgene Geschichte8, S. 360, Moltke, S. 110).
28) Effenberger/Wimmer 2014, S. 199f.
29) Andreas Kilb: “Alle diese Staaten waren Bösewichte” vom 29. September 2013, Kilb im Gespräch mit Christopher Clark in “Aktuell Feuilleton” der F.A.Z. unter http://www.faz.net/-gqz-7hsa5 [3. Januar 2014]
30) Bülow Grundlinien S. 92; Weißbuch Nr. 529
31) Karl Kautsky: Wie der Weltkrieg entstand. Folge 18: Die Kriegserklärung an Frankreich unter http://www.marxists.org/deutsch/archiv/kautsky/1919/krieg/18-kriegfrank.html
32) Ton und Inhalt der Forderung scheinen eine Replik auf die Garantieforderung von Napoleon II. zu sein. Am 12. Juli 1870 zog Hohenzollernprinz Leopold (aus dem süddeutschen Haus) auf Druck Frankreichs die Kandidatur für die spanische Krone zurück. Aber dieser Erfolg genügte den Machthabern in Paris nicht. Sie forderten von Preußen eine “Ewigkeitserklärung” –
nie mehr dürfe eine Hohenzollernprinz spanischer König werden – und verlangten dafür eine Garantieerklärung, die mit einer ähnlichen Pfandforderung untermauert wurde.
33) “Die Sozialdemokratie im Weltkriege”, S.80
34) Terry Boardman: The Battle for the Truth about the First World War, Min: 1:53:37 https://www.youtube.com/watch?v=_Hsb9SQ6Ayw
35) Tuchman, Barbara W: Daheim wenn das Laub fällt.Wie es zum Ersten Weltkrieg kam, 8. Fortsetzung und Schluß “In Europa gehen die Lichter aus” in der DER SPIEGEL 19/1964 unter http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-46173563.html
36) Karl Kautsky: Wie der Weltkrieg entstand. Folge 18
37) Karl Kautsky: Wie der Weltkrieg entstand. Cassirer, Berlin 1919, S. 149f
38) Tuchman, Barbara W: Daheim wenn das Laub fällt
Wie es zum Ersten Weltkrieg kam, 8. Fortsetzung und Schluß “In Europa gehen die Lichter aus” in der DER SPIEGEL 19/1964 unter http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-46173563.html
39) Christopher Clark: Die Schlafwandler, S. 630
40) https://www.welt.de/geschichte/article158923155/Wie-Frankreich-Deutschland-in-den-Krieg-trieb.html
41) Walter Millis: Road to War, America 1914 -1917, Boston/New York 1935, S. 47
42) Gerhard Ritter: Der Schlieffenplan. Kritik eines Mythos. Mit erstmaliger Veröffentlichung der Texte und 6 Kartenskizzen. Verlag R. Oldenbourg, München 1956, S. 141 ff.
43) Meyers Konversationslexikon Sp. 1228
44) Wolfgang J. Mommsen: Grossmachtstellung und Weltpolitik, Ullstein, Frankfurt am Main 1993, ISBN 3-548-33169-6, S. 168
45) Wolfgang J. Mommsen: Grossmachtstellung und Weltpolitik, Ullstein, Frankfurt am Main 1993, ISBN 3-548-33169-6, S. 170.
46) Meyers Lexikon, Zwölfter Band, Leipzig 1930, Sp. 1227 und 1228
47) Ende Mai 1916 wagte die deutsche Flotte sich aus ihren sicheren Häfen, um gegen gegnerische Handelsschifffahrt an der Südküste Norwegens vorzugehen. Am Nachmittag des 31. Mai trafen das deutsche und das britische Schlachtkreuzergeschwader aufeinander. Die Briten hatten deutlich höhere Verluste an Menschenleben und Schiffen zu beklagen, obwohl sie die stärkeren Kräfte in die Schlacht führten. Die Zahl der Toten belief sich bei den Briten auf 6.094, bei den Deutschen auf 2.551 Mann. An der Übermacht der Home Fleet und an ihrer Seeblockade änderte die Schlacht am Skagerrak jedoch nichts(https://www.dhm.de/lemo/kapitel/erster-weltkrieg/kriegsverlauf/seeschlacht-im-skagerrak-1916.html).
48) Angus Maddison: The World Economy: A Millennial Perspective. Hrsg.: OECD. 2001, ISBN 92-64-18654-9, S. 98, 242.
49) Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes, 2 Bände, hier Band I., München 1923, S .IX
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