Am 14. Juni beginnt die Fußball-Europameisterschaft in Deutschland. Die Turniere der vergangenen Jahre zeigen, dass Fußball inzwischen nicht mehr nur Spiel ist, sondern mehr denn je Politik. Über die Jahrzehnte betrachtet ist er auch Ausdruck nationaler Befindlichkeit.
Ein Beitrag von Rüdiger Rauls
Auferstehung
Im Verlauf eines Turniers oder bei Sieg und Niederlage werden mitunter unbewusste Wünsche oder Hoffnungen deutlich, die Fußball offenlegt oder erfüllt. Diese sind dem einzelnen nicht immer so klar und werden oftmals erst im Rückblick erkannt. Ein solches Ereignis war der Sieg der deutschen Nationalelf (Nationalmannschaft der BRD, Anm. d. Red.) von 1954, der erste Weltmeistertitel, der bis heute immer noch sehr verklärt wird.
Der Sieg beim WM-Turnier in der Schweiz war der Aufstieg des Phönix aus der Asche. „Wir sind wieder wer!“ Das war nun die vorherrschende Stimmung, nachdem die Niederlage im Krieg bis dahin sehr viele nicht hatten verwinden können. Dabei ging es wirtschaftlich wieder bergauf. Das Wirtschaftswunder war in großen Teilen der Bevölkerung bereits zu spüren, und doch hatte der deutschen Volksseele bis zum „Wunder von Bern“ etwas gefehlt.
Der Sieg in einer Fußball-Weltmeisterschaft war für viele die Wiedergutmachung für die Schmach der Kriegsniederlage. Diese war so unverständlich und unglaublich gewesen nach all den Prophezeiungen und Versicherungen der Vorsehung, dass der Traum vom Endsieg noch Jahre nach dem Krieg in vielen Köpfen weiter spukte. (überwiegend im Westen Deutschlands, Anm. d. Red.). Dabei war eines für die meisten Kriegsteilnehmer vollkommen klar: Es hatte nicht am deutschen Landser gelegen. Der war sauber und ehrlich gewesen, hatte heldenhaft gekämpft und hatte sich keine Vorwürfe zu machen weder für die Niederlage noch für alles, was im Krieg geschehen war.
Aber alle Zweifel, Demütigungen und Schuldzuweisungen waren vergessen nach dem Sieg in Bern. Er war der Wundverband für die geschundene deutsche Seele. „Wir sind wieder wer! Wir lassen nicht länger auf uns herumtrampeln“ In dieser erlösten Stimmung standen Hunderttausende an der Bahnstrecke, bei Durchfahrt und Ankunft in den Bahnhöfen (in Westdeutschland, Anm. d. Red.) und jubelten dem „roten Blitz“ zu, jenem Zug mit den Siegern und Helden von Bern. Im Überschwang des Siegesgefühls erscholl aus Hunderttausenden Kehlen das Deutschlandlied, die erste Strophe, die Deutschlands Größe besang, hier als Auferstehung.
Dabei ging es nicht um die geographische, es ging um die wieder errungene nationale Größe. Es war der verspätete Triumphzug heimkehrender Helden. Wenn sie auch nicht als Sieger aus der Sowjetunion heimkehrten, so doch nach einer vergleichbaren Schlacht, in der niemand mit dem Sieg der Kriegsverlierer gerechnet hatte. Es war ein zweites „Deutschland erwache!“ Man hatte der Welt gezeigt, dass man siegen konnte. Deutschland-West schwamm auf einer Welle des Nationalstolzes und der Genugtuung. Der Sieg in Bern war für viele (Westdeutsche, Anm. d. Red.) die Wiedergutmachung für die Niederlage im Krieg.
Gute Nachbarn
Unter einem ganz anderen Stern und einer davon vollkommen verschiedenen Stimmung fand die Fußball-Weltmeisterschaft 1974 in Deutschland (in der damaligen BRD, Anm. d. Red.) statt. Der Krieg war für die meisten lange vorbei. Eine junge Generation war herangewachsen, eine moderne, aufmüpfige. Die Studentenbewegung hatte das Land durchgeschüttelt. Alte Zöpfe waren ab, man trug das Haar offen, auch die Männer. Sexualität und Lust, Lebensfreude und Wohlstand waren die Themen der Zeit. Deutschland (die BRD, Anm. d. Red.) zelebrierte Weltoffenheit. (in der DDR zelebrierte man 1973 mit den Weltfestspielen der Jugend und Studenten zeitgleich eine andere Art von „deutscher“ Weltoffenheit – eine antifaschistisch-antiimperialistische, Anm. d. Red.)
Die Deutschen waren sympathisch geworden. Willy Brandt suchte die Aussöhnung mit den Nachbarn im Osten. (Zeitgleich war die Aussöhnung der DDR mit ihren östlichen Nachbarn bereits eine über Jahrzehnte gelebte, freundschaftliche Realität geworden, Anm. d. Red.) In Warschau hatte er vor den Opfern von Krieg und Faschismus niedergekniet und um Vergebung gebeten. Die Entspannungspolitik gegenüber der Sowjetunion sollte die Gefahr eines Atomkriegs mindern. „Wir wollen ein Volk von guten Nachbarn sein“, hatte Brandt das Ziel seiner Politik beschrieben, und so war auch die Fußball-WM 1974 in Deutschland (in der damaligen BRD, Anm. d. Red.). Sie passte zur Stimmung im Land, in Europa und in der Welt. Die Kriegsgegner von einst waren Freunde geworden, zumindest im Westen. (Im Osten waren sie es bereits seit Jahrzehnten, manifestiert im „Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe – RGW – und im Verteidigungsbündnis „Warschauer Vertrag“, Anm. d. Red.) Seit dreißig Jahren herrschte nun Frieden in Europa.
Wenn auch in anderen Teilen der Welt, besonders in Vietnam noch immer erbittert gekämpft wurde, so war doch 1974 schon zu erkennen: Vietnam und damit ganz Südostasien würden den Sieg davon tragen über den amerikanischen Imperialismus. Aber Vietnam war trotz seiner weltpolitischen Bedeutung für die meisten weit weg. In Europa herrschte Frieden und die Weltmeisterschaft in Deutschland (in der BRD, Anm. d. Red.) war verbunden mit der Hoffnung auf Frieden in der Welt. In guter Nachbarschaft lebten die Völker ohne größere nationale Spannungen zusammen und feierten die Spiele, den Sport, den Wettkampf und die Freude am Spiel.
Satte Nachbarn
Der Weltmeisterschaft 1990 in Italien brachte Deutschland den dritten Titel. Die gesellschaftliche Stimmung stand unter dem Eindruck der deutschen Wiedervereinigung. Die Mauer war gefallen, der kalte Krieg war übergegangen in einen lauwarmen Frieden. Deutschland war in Hochstimmung, weil endlich zusammenwachsen konnte, von dem man glaubte, dass es zusammen gehörte. Der Jubel der Wiedervereinigung schwang noch in der deutschen Volksseele.
Sie war ein unerwartetes und auch unverdientes Geschenk für die damals regierende CDU. Denn bis zum Zeitpunkt des Mauerfalls war die Stimmung eigentlich nicht mehr so rosig. Das Wirtschaftswunder hatte Glanz und Zauber verloren. Es ging zwar immer noch bergauf, aber mühsamer. Wirtschaftskrisen und Börsenkräche hatten Spuren im Gemüt hinterlassen. Es lief nicht schlecht in Deutschland (in der damaligen BRD, Anm. d. Red.), aber das Land dümpelte dahin wie das Spiel der deutschen Mannschaft in der Zeit davor.
Die Wiedervereinigung brachte neuen Schwung. Zudem hatte der deutsche Fußball durch die „Lichtgestalt“ Franz Beckenbauer einen neuen Hoffnungsträger gefunden nach den durchwachsenen Leistungen unter seinen Vorgängern. Der Weltmeister-Titel kam eher unerwartet. Die Aufbruchstimmung in der Gesellschaft und ein Wunsch nach Neuanfang hatten Rückenwind gegeben. Anders zwar als 1954 nach dem verlorenen Krieg war man wieder wer, aber nur weil Deutschland größer geworden war (durch die feindliche Übernahme der DDR durch seinen westdeutschen Konkurrenzstaat, Anm. d. Red.) Der WM-Titel und die (Übernahme der…, Anm. d. Red.) DDR waren das Zuckerl obendrauf für eine Gesellschaft, die schon ziemlich satt war.
Spielball der Werte
Mit welcher gesellschaftlichen Stimmung der WM-Titel von 2014 einher ging, ist schwer zu sagen. Vielleicht war es eine relative Sorglosigkeit, die sich noch einmal wohlig über das Land breitete. Die große Finanzkrise von 2008 war vorüber und glimpflicher verlaufen, als anfangs zu befürchten gewesen war. Unbekümmerte Unbeschwertheit war ihr nach den ersten Jahren vorsichtiger Erholung gefolgt. Es war doch alles nicht so schlimm gewesen, und es war noch einmal gutgegangen.
Mit der Weltmeisterschaft in Russland (gemeint ist die Russische Föderation, Anm. d. Red.) 2018 hatte sich ein Stimmungswandel angedeutet, der sich ganz deutlich bei der WM in Qatar 2022 offenbarte. Die deutsche Gesellschaft begann, unter dem wachsenden Einfluss der Missionare des Wertedenkens missmutig zu werden. Der innere Frieden und die Freude am Spiel hatten bereits 2018 unter dem Gemäkel und der Propaganda gegenüber dem Gastgeber Russland gelitten. Mehr oder weniger versteckte Vorwürfe gegenüber der Mannschaft wurden laut vonseiten der Hohepriester der Doppelmoral für deren Teilnahme an dem Turnier in Putins Autokratie.
In Katar wollte man es dann besser machen. Die Mannschaft trat auf als Botschafter einer Gesellschaft, in der Werte und Moral über allem standen, auch über dem Sport. Was schon zu Hause nicht gut ankam, wurde draußen in der Welt noch weniger geschätzt. Die deutsche Mannschaft trat unter dem Gespött derjenigen die Heimkehr an, die man in Sachen Diskriminierung hatte belehren und bekehren wollen. Der deutsche Fußball jedenfalls bot keine Lehrstunde wie noch 2014 in Brasilien und noch weniger hatte er die Welt zu einem besseren Ort machen können.
Neuer Geist?
Das kommende Turnier ist keine Weltmeisterschaft. Die deutsche Mannschaft muss sich nur mit europäischen Nachbarn vergleichen. Sie muss keine Mission erfüllen wie noch in Katar. In Europa (vermutlich ist die EU gemeint. Allerdings bildet die EU territorial gesehen nur eine Minderheit auf dem europäischen Kontinent, dessen größter Territorialstaat die Russische Föderation ist, Anm. d. Red.) sind die „Guten“ unter sich. Die Russen wurden ausgeladen. Im Moment kann noch nicht gesagt werden, ob und wie sich die miserable gesellschaftliche Stimmung in Deutschland auf Spiel und Geist der Mannschaft auswirkt.
Unter dem neuen Trainer Julian Nagelsmann scheint ein Neuanfang gelungen, der bisher schon länger hält als die gewöhnlichen Anfangserfolge der neuen Besen. Das zeigen die Siege gegen zumindest gleich starke Gegner wie Frankreich und die Niederlande. Vor allem aber beeindruckte, wie gewonnen wurde. Nagelsmann ist der jüngste Trainer in der Geschichte des Deutschen Fußball Bundes. Vielleicht wirkt er deshalb unverkrampft gegenüber den politischen und gesellschaftlichen Vorgängen und Stimmungen. Wie so viele seiner Altersgenossen scheinen ihn solche Themen wenig zu berühren.
Sein jugendliches Alter und das seines Co-Trainer Sandro Wagner ließen zuerst Zweifel aufkommen an ihrer Eignung. Aber Nagelsmann war schon in Hoffenheim, Leipzig und zuletzt beim FC Bayern München sehr erfolgreich gewesen. Als jedoch der prominentere Thomas Tuchel als Trainer frei wurde, musste Nagelsmann diesem Platz machen. Er nahm es gelassen und unaufgeregt. Tuchel war zwar nicht so erfolgreich wie Nagelsmann, aber bei den Bayern zählt nicht nur der Erfolg, sondern auch das „Mia san Mia“, das öffentliche Ansehen.
Nagelsmanns Vorgänger Hansi Flick und Joachim Löw waren andere Trainertypen. Aufgrund des Altersunterschieds waren sie eher Vaterfiguren. Dagegen sind Nagelsmann und Wagner eher der Typ des gleichaltrigen Mitspielers, haben sogar mit manchem der Spieler zusammen auf dem Platz gestanden. Eine ähnliche Situation liegt auch bei Xabi Alonso und Bayer Leverkusen vor. Vielleicht macht das ihren Erfolg aus und dass bei ihnen anscheinend andere Überlegungen als die rein sportlichen keine Rolle spielen. Wer gut spielt, steht auf dem Platz.
Findet unter ihnen ein Wandel im Verständnis von Spiel und Zusammenspiel statt? Sie treten auf wie eine boy-group ohne erkennbaren Chef und Leiter, mit flacher Hierarchie. Das ist vielleicht das Wesentliche ihrer Generation. Sie scheinen sich wenig zu scheren um das Urteil von anderen und deren Erwartungen. So etwas wie „work-live-balance“ liegt da in der Luft, Freude am Spiel scheint bedeutender zu sein als Image, große Namen, großes Geld oder sonstige Überlegungen.
Findet im Fußball eine Rückbesinnung auf das Wesentliche statt: Die Freude am Spiel statt der Missionierung durch Sport, auch wenn sich gerade im Verhältnis zu Russland und Weißrussland etwas anderes offenbart. Aber erst im Rückblick der Jahre wird sich zeigen, ob diese Annahmen sich als wahr herausstellen und ob sie die Stimmung in der Gesellschaft widerspiegelten. Auch in den gesellschaftlichen Diskussionen scheint diese Frage immer mehr in den Vordergrund zu rücken: Worauf kommt es an im Leben?
Rüdiger Rauls ist Reprofotograf und Buchautor. Er betreibt den Blog Politische Analyse
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