Seit zahlreiche deutsche Politiker wie von Sinnen vor lauter Kriegsgeilheit sind, versuchen sie, Russlands Präsident Wladimir Putin zu verteufeln, wo es nur geht. Gern genommen, weil immer mit schockierender Wirkung, ist der Vergleich Putins mit Hitler. Doch tatsächlich steckt eine ganze Menge Hitler in Deutschland.
Ein Beitrag von Tom J. Wellbrock
Es ist nicht leicht, sich durch den Artikel „Unternehmen Barbarossa“ der Wikipedia zu arbeiten. Er ist lang und enthält viele Details, die für Historiker interessant sein mögen, dem „normalen“ politisch Interessierten aber wenig bringen. Trotzdem lohnt die Lektüre, im Artikel wird wiederholt behauptet, Hitler habe die Sowjetunion nicht aus einem Bedrohungsgefühl heraus angegriffen, sondern vor lauter Expansionsgier. Das mag stimmen, doch wie wurde dem deutschen Volk eigentlich der Krieg gegen die UdSSR erklärt?
Hitler und der Teufel
Laut Wikipedia sah Hitler die Sowjetunion so:
„Folglich komme ein Bündnis mit der Sowjetunion nicht in Frage; man könne ’nicht den Teufel mit dem Beelzebub austreiben‘. Ferner sei die bloße Rückeroberung von durch den Ersten Weltkrieg verlorenen deutschen Gebieten ‚politischer Unsinn‘. Es müsse vielmehr darum gehen, dem deutschen Volk für alle Zeit ‚den ihm gebührenden Grund und Boden auf dieser Erde zu sichern‘, der ihm wirtschaftliche Unabhängigkeit im kontinentalen Großraum Europa garantiere. Dieser Boden sei vor allem in Russland und dessen unterworfenen Randstaaten zu suchen.“
Man denke an „Putin will nicht verhandeln“ oder auch „Mit Putin kann man nicht verhandeln“. Niemand nennt Putin heute „Beelzebub“, das hängt aber eher damit zusammen, dass das Wort inzwischen veraltet ist, und außerdem ist der Hitler-Vergleich einfach griffiger.
Bezogen auf Hitlers Angriffspläne steht in der Wikipedia:
„1934 erwog er erstmals, zuerst Blitzkriege im Westen zu führen, um sich dann dem Osten zuwenden zu können, da die Westmächte Deutschland den Lebensraum nicht gönnen würden. Die Wehrmacht müsse in acht Jahren dazu bereit sein. Ab 1937 war er bereit, einen Krieg gegen Frankreich und Großbritannien zu wagen, um die Expansion nach Osten durchzuführen. In zwei großen Reichstagsreden 1937 und 1938 erklärte er, er führe unerbittlich den Kampf gegen den ‚jüdischen-internationalen Moskauer Bolschewismus‘.“
Acht Jahre wollte Hitler also sich und seiner Armee geben, bevor ein Blitzkrieg durchgeführt werden könnte. Die heutige Argumentation geht von einem ähnlichen Zeitraum aus, den Putin brauche, um Deutschland anzugreifen. Doch weder damals noch heute ging von der Sowjetunion bzw. Russland eine echte Gefahr aus, in diesem Punkt sind sich sogar die meisten Historiker einig, die ansonsten zu sehr unterschiedlichen Schlüssen bei der Einordnung des Nationalsozialismus im Allgemeinen und Hitler im Besonderen kommen.
Der Militärhistoriker Rolf-Dieter Müller will anhand von Tagebüchern von Hitler Generalstabschef Franz-Julius Halder nachgewiesen haben, dass dieser schon vor Hitler Zerstörungsfantasien in Richtung der UdSSR hatte. Bei Wikipedia heißt es dazu:
„Nach dem Zweiten Weltkrieg hätten sowohl Halder als auch sein ehemaliger Adjutant und ‚Barbarossa‘-Mitplaner Reinhard Gehlen, nun Chef des Bundesnachrichtendienstes, sowie Halders Chef der Operationsabteilung, Adolf Heusinger, unter Konrad Adenauer Generalinspekteur der Bundeswehr, aus persönlichem Interesse versucht, ‚Hitler als Alleinschuldigen für den Ostkrieg und das Scheitern eines vermeintlich genialen Feldzugsplans hinzustellen‘.“
Die „Aufarbeitung“ des Nationalsozialismus begann also direkt nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges unter Mitwirkung von Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) und Reinhard Gehlen, der zwar den Schreibtisch wechselte, aber sowohl im Nationalsozialismus beim „Unternehmen Barbarossa“ als auch in der Bundesrepublik als Chef des Bundesnachrichtendienstes eine tragende Rolle spielte.
Drang nach Westen
Hitler ignorierte die Hinweise aus seinem Umfeld, dass die Sowjetunion keinen Angriffswillen in Richtung Westen hege:
„Am 9. Januar 1941 bekräftigte Hitler gegenüber dem OKW seinen Kriegsentschluss damit, dass der ‚kluge Kopf‘ Stalin ’nicht offen gegen Deutschland auftreten‘ werde, aber künftig zunehmend Probleme bereiten werde, da er vom Drang nach Westen beseelt sei, das verarmte Europa beerben wolle und wisse, dass Hitlers voller Sieg in Europa seine Lage erschwere. Als nächste wichtigste feindliche Position müsse gemäß seinem bisherigen Vorgehen die Sowjetunion zerschlagen werden.“
Schon damals war das Szenario eines sowjetischen Angriffs Unsinn, heute ist es nicht anders. Doch die Argumente ähneln sich eklatant. Und nicht nur das, auch der Weg zum Krieg weist Parallelen zu heute auf:
„Trotz dieser Entscheidung wurde am 10. Januar 1941 noch ein weiteres deutsch-sowjetisches Wirtschaftsabkommen geschlossen, wonach die Sowjetunion Deutschland wichtige Rohstoffe wie Öl, Metallerze und große Mengen Getreide lieferte. Am 16. Januar 1941 bekräftigte Hitler gegenüber dem OKH seinen ‚Entschluß: Rußland so früh wie möglich zu Boden [zu] zwingen‘, weil Stalin immer mehr fordern werde und Deutschlands Sieg in Kontinentaleuropa für seine Ideologie inakzeptabel bleibe.“
Da klingelt schon wieder etwas. Aus einer wirtschaftlichen Zusammenarbeit wurde damals der Zweite Weltkrieg, heute wurde mit dem Beenden der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit Russland die Saat für einen weiteren heißen Krieg gesät.
Im Gespräch mit Chat-GPT
Man muss genau hinschauen, um festzustellen, wie ähnlich die Argumente Hitlers denen von heute sind. Auf der Wikipedia wird immer wieder auf Hitlers Aggression und Ausdehnungswut verwiesen. Um also Hitlers Argumentation näher zu kommen, sollte man dringend von der Wikipedia die Finger lassen und auf andere Literatur zurückgreifen, es gibt genug davon.
Man kann sich aber auch ein paar Minuten mit der Künstlichen Intelligenz „Chat-GPT“ unterhalten, sie plaudert einige interessante Dinge aus, die viel über die deutsche Propaganda verraten. Allerdings nur, um danach erstaunt festzustellen, irgendwie aufs Glatteis geführt worden zu sein und sich zügig wieder aus dieser unangenehmen Sache rauszuquatschen. Der folgende „Dialog“ ist durchaus aussagekräftig:
„Mit welcher Begründung hat Hitler die Sowjetunion angegriffen?“
Die Antwort von Chat-GPT:
„Hitler griff die Sowjetunion am 22. Juni 1941 mit dem Unternehmen Barbarossa an, weil er davon überzeugt war, dass die Sowjetunion eine Bedrohung für das Deutsche Reich darstellte und er den Kommunismus bekämpfen wollte. Er glaubte auch, dass ein erfolgreicher Angriff auf die Sowjetunion ihm Zugang zu wichtigen Ressourcen wie Öl und Land verschaffen würde. Außerdem war er der Meinung, dass die slawische Bevölkerung als minderwertig angesehen werden sollte und dass die Sowjetunion eine ideologische Gefahr für das nationalsozialistische Deutschland darstellte.“
Es folgt die Nachfrage:
„Hat er argumentiert, dass die Sowjetunion Deutschland angreifen würde?“
Und erneut reagiert die Künstliche Intelligenz selbstbewusst:
„Ja, Hitler argumentierte, dass die Sowjetunion Deutschland angreifen würde, wenn er nicht zuerst zuschlagen würde. Er behauptete, dass die Sowjetunion eine kommunistische Bedrohung darstellte und dass ein Präventivschlag notwendig sei, um die sowjetische Aggression abzuwehren. Er rechtfertigte den Angriff auf die Sowjetunion auch damit, dass er behauptete, die Sowjetunion plane, Europa zu erobern und den Kommunismus zu verbreiten. Hitler nutzte diese Argumente, um die deutsche Bevölkerung und die Wehrmacht zu mobilisieren und den Angriff auf die Sowjetunion zu rechtfertigen.“
Bei der nun folgenden Frage gerät Chat-GPT aber in die Enge und windet sich:
„Damit hat er wie die Bundesregierung heute argumentiert, richtig?“
Vom Tisch sind die Parallelen, die die Künstliche Intelligenz eben noch zugegeben hatte. Sie relativiert, wie es ein grüner Kriegshetzer nicht besser hätte machen können:
„Es gibt gewisse Parallelen zwischen den Argumenten, die Hitler für den Angriff auf die Sowjetunion verwendete, und den heutigen geopolitischen Diskussionen. Die Bundesregierung argumentiert oft für präventive Maßnahmen, um potenzielle Bedrohungen abzuwehren und die Sicherheit Deutschlands und Europas zu gewährleisten. Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass die Motive und Ziele von Hitler und der heutigen Bundesregierung sehr unterschiedlich sind. Hitler verfolgte expansionistische Ziele und eine rassistische Ideologie, während die heutige Bundesregierung sich für die Verteidigung demokratischer Werte und internationaler Zusammenarbeit einsetzt. Es ist daher wichtig, die historischen und politischen Kontexte zu berücksichtigen, um angemessene Vergleiche zu ziehen.“
Wir fragen weiter und stellen ein paar Dinge in den Raum:
„Aber der Westen hat doch den Krieg in der Ukraine nicht verhindert. Er wollte diesen Krieg.“
Den weiteren Verlauf des „Gesprächs“ ersparen wir uns. Die KI faselt dann noch etwas von der Annexion der Krim und dass Russland den Krieg 2014 begonnen habe. Alles in allem sei die Situation in der Ukraine aber komplex und man solle nichts verallgemeinern. Ganz auf NATO-Linie programmiert wehrt sich Chat-GPT aber gegen die Behauptung, der Westen habe den Krieg gewollt:
„Es ist wichtig, die spezifischen Handlungen und Motive der einzelnen Länder zu analysieren, um zu verstehen, warum der Westen möglicherweise nicht in der Lage war, den Krieg in der Ukraine zu verhindern. Es wäre falsch zu behaupten, dass der Westen den Krieg in der Ukraine gewollt hat, da dies eine Vereinfachung und Verzerrung der komplexen Realität des Konflikts darstellen würde.“
Fazit
Das Wissen dieser Version von Chat-GPT beruhte übrigens auf den Zeitraum bis Mitte 2021. Die Argumentation heute ist aber nahezu identisch, das heißt, es gibt nicht nur im Westen, sondern auch in dessen Informations- und Medienquellen faktisch keine Anpassung an die tatsächliche Lage. Das ist Realitätsverweigerung auf der einen Seite.
Es ist aber auch schlimmste Propaganda auf der anderen Seite. Die Erzählung des Westens ist in Stein gemeißelt und gestattet keinerlei Entwicklungsmöglichkeiten der eigenen Bewertung des Konfliktes. Daher sind die Versuche, die herrschende Politik von Verhandlungen und einem Ende des Krieges zu überzeugen, auch vergebliche Liebesmüh‘. Auf breiter politischer Ebene wurde schon vor dem 24. Februar 2022 entschieden, die Ukraine in einen langen und blutigen Krieg zu führen.
Dass in letzter Zeit vermehrt Putin-Hitler-Vergleiche in Deutschland und der EU zu vernehmen sind, ist schon ziemlich dreist. Denn die Propaganda des Westens, mit der die Fortführung dieses schrecklichen Krieges begründet wird, ist so perfide und skrupellos, dass Joseph Goebbels seine helle Freude daran gehabt hätte.
Wenn wir schon bei Vergleichen sind, darf dieser auf keinen Fall fehlen.
Tom J. Wellbrock ist Journalist, Sprecher, Autor, Moderator und Podcaster. Er betreibt gemeinsam mit Gert Ewen Ungar den Blog „neulandrebellen“ und den Podcast „wohlstandsneurotiker“. Wellbrock hat für zahlreiche Medien geschrieben und Interviews unter anderem mit Oskar Lafontaine, Dirk Pohlmann, Daniele Ganser, Lisa Fitz und Ulrike Guérot geführt.
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