Am 6. März 2024 schlug die Sprecherin des Oberhauses des russischen Parlaments, Walentina Iwanowna Matwijenko vor, die für Russland unrentablen internationalen Abkommen aufzugeben und zu kündigen, dies betrifft auch den 2+4 Vertrag. Es ist notwendig, alle unterzeichneten Dokumente zu analysieren und diejenigen zu kündigen, die nicht den nationalen Interessen entsprechen und unfreundlichen Ländern Vorteile bieten, sagte die Sprecherin des Sicherheitsrates.
Ein Beitrag von Dagmar Henn
Im russischen Parlament tauchte vor zwei Wochen die Forderung auf, den Zwei-plus-vier-Vertrag, der die Grundlage für die heutige Gestalt Deutschlands ist, zu kündigen. Der Vertrag wurde 1990 geschlossen, die Sowjetunion war einer der Vier. Geschicktes Trolling oder Ernst?
Auf den ersten Blick wirkt es wie eine Schnapsidee. Den Zwei-plus-vier-Vertrag aufkündigen, der 1990 die Grundlage für den Zusammenschluss der beiden deutschen Staaten war (das Ganze eine Wiedervereinigung zu nennen, widerstrebt mir)? Es sind doch schon bald 34 Jahre vergangen, eine ganze Generation, wie soll das überhaupt gehen? Und worauf zielt das Ganze, nur auf eine Schlagzeile, oder steckt mehr dahinter?
Dieser Vertrag, der einmal all die Bestimmungen der Vier-Mächte-Abkommen aufhob, ist jedenfalls lange genug her, dass man seinen Text nicht mehr jederzeit im Kopf hat. Aber es ist einfach genug, ihn zu finden. Und ich gebe zu, bei der Lektüre stolpert man sehr schnell über einige Stellen, gerade, wenn man die Debatte um die Taurus-Marschflugkörper beziehungsweise deren Lieferung in die Ukraine durch Deutschland im Ohr hat, und das, was die Berliner Zeitung in diesem Zusammenhang leise eingestand:
„Der Kanzler erklärte im Oktober, dass Deutschland Taurus vorerst nicht liefern werde. Dahinter steht die Befürchtung, die Flugkörper könnten russisches Territorium treffen und Russland könnte darin einen Angriff mit deutscher Beteiligung sehen. Weitere Bedenken sind, dass der Taurus-Einsatz die Anwesenheit deutscher Spezialisten im Kriegsgebiet erforderlich machen könnte, was die Berliner Regierung bislang zu vermeiden sucht.“
Das ist selbstverständlich nur die halbe Wahrheit, weil erstens die Aussage von russischer Seite bereits steht, dass das als Beteiligung gesehen würde, und zweitens all das andere Gerät, das schon längst in die Ukraine geliefert wurde, Patriots, Iris etc., mit genau dem gleichen Problem behaftet ist. Die von der Berliner Zeitung für die Zukunft befürchtete „Anwesenheit deutscher Spezialisten“ ist schon längst Wirklichkeit. Aber das ist nicht der entscheidende Punkt. Entscheidend sind vielmehr etwa einige Stellen, die sich in besagtem Vertrag finden lassen. In der Präambel beispielsweise (obwohl Präambeln als Absichtserklärung und nicht Teil des Vertragstexts nur die Interpretation des Textes selbst beeinflussen):
„ENTSCHLOSSEN, in Übereinstimmung mit ihren Verpflichtungen aus der Charta der Vereinten Nationen freundschaftliche, auf der Achtung vor dem Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker beruhende Beziehungen zwischen den Nationen zu entwickeln und andere geeignete Maßnahmen zur Festigung des Weltfriedens zu treffen, EINGEDENK der Prinzipien der in Helsinki unterzeichneten Schlußakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, IN ANERKENNUNG, daß diese Prinzipien feste Grundlagen für den Aufbau einer gerechten und dauerhaften Friedensordnung in Europa geschaffen haben, ENTSCHLOSSEN, die Sicherheitsinteressen eines jeden zu berücksichtigen, ÜBERZEUGT von der Notwendigkeit, Gegensätze endgültig zu überwinden und die Zusammenarbeit in Europa fortzuentwickeln“
Angesichts der Gegenwart klingt das schon wie eine romantische Fantasie, oder? Wie oft war in den letzten Monaten und Jahren zu hören, dass „Russland verlieren muss“, oder dass man „kriegsbereit“ werden müsse? Die Sicherheitsinteressen eines jeden berücksichtigen, Gegensätze endgültig überwinden, davon ist nicht mehr viel übrig. Stattdessen wird jede Phrase, jedes Schreckensbild aus den Zeiten des Kalten Krieges hervorgegraben, auch wenn es nicht einmal mehr die Rechtfertigung des Systemgegensatzes gibt – macht nichts, dann nehmen wir halt Transrechte. Oder betrachten wir Artikel 2, der nun wirklich Bestandteil des Vertrages ist (und ich versichere, danach ist auch Schluss mit langen Zitaten):
„Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik bekräftigen ihre Erklärungen, daß von deutschem Boden nur Frieden ausgehen wird. Nach der Verfassung des vereinten Deutschland sind Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, verfassungswidrig und strafbar. Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik erklären, daß das vereinte Deutschland keine seiner Waffen jemals einsetzen wird, es sei denn in Übereinstimmung mit seiner Verfassung und der Charta der Vereinten Nationen.“
Die Sache mit den Bomben auf Belgrad damals, das war doch ein eindeutiger Verstoß gegen die Charta der Vereinten Nationen. Es gab dann eine Klage beim Bundesverfassungsgericht, weil die Vorbereitung der Führung eines Angriffskrieges damals eben nach dem Text des Grundgesetzes untersagt war. Das Verfassungsgericht wies die Klage ab, weil ja nur von der Vorbereitung und nicht von der Führung eines Angriffskrieges die Rede war. Es ist eines der grundsätzlichen politischen Probleme des heutigen Deutschland, dass man sich nach Kräften weigert, jemals die Position des Gegenübers einzunehmen. Auch wenn das einer der wichtigsten Schritte ist, die man selbst im privaten Umgang beherrschen sollte, vom Umgang zwischen Völkern und Staaten ganz zu schweigen.
Das zumindest sollte man begreifen können: Wenn aus russischer Sicht der Kiewer Krieg gegen die Bevölkerung des Donbass ab 2014 ein versuchter Genozid war, was schwer zu bestreiten ist, wenn man die Ereignisse von Odessa gesehen hat, dann hat Deutschland mit seiner kritiklosen Unterstützung des Kiewer Regimes einen Genozid gefördert. Die Frage, wie dieser Krieg zu bewerten ist, liegt übrigens gerade (auf Betreiben der Ukraine, was für diese sehr nach hinten losgehen könnte) beim Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Und dass dort dieser eine Punkt der ukrainischen Klage nicht abgewiesen wurde, in dem Kiew forderte, Russland die Behauptung zu untersagen, Kiew habe im Donbass einen Genozid begangen, schafft nun die Gelegenheit, genau diese Frage in epischer Breite zu klären.
Das, was 2014 begann, war ein Bürgerkrieg, der vor allem durch den ständigen Beschuss der Städte des Donbass geprägt war. Zu Beginn hieß es Kiewer Kampfflugzeuge, Raketenwerfer und Panzer gegen Milizen mit Kalaschnikows. Berlin hat das immer wieder abgesegnet. Mehr noch, Ex-Kanzlerin Merkel hat längst bestätigt, dass Deutschland als eine der drei Garantiemächte der Minsker Abkommen, die im Februar 2015 geschlossen wurden, diese nur gefördert hat, um Zeit für Kiew zu schinden. „Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören.“
Es hätte viele, so viele Möglichkeiten gegeben, um all das zu stoppen, was zwischen 2014 und 2022 geschehen ist. Für Deutschland. Es hätte noch nicht einmal Geld gekostet. Über all die Jahre hinweg war Deutschland mindestens der zweitgrößte Geber der Bandera-Ukraine, und es gibt genug Momente, an denen man sich fragen musste, ob nun die Amerikaner oder die Deutschen die größeren Kriegstreiber in der Ukraine sind. „Das friedliche Zusammenleben der Völker.“ Alleine eine ordnungsgemäße Berichterstattung über den 2. Mai 2014 in Odessa hätte genügt. Das hätte womöglich die Bomben, die Granaten verhindert, die darauf folgten. Weil das der Augenblick war, in dem nach Kiew signalisiert wurde: „Ihr dürft alles.“ Carte blanche.
Das friedliche Zusammenleben der Völker, das setzt auch wechselseitigen Respekt voraus. Muss man hier noch die Zitate wiederholen, in denen von „den Russen“ die Rede ist? Aussagen, die vor einigen Jahren noch, in diesem Fall zutreffenderweise, als Volksverhetzung hätten verfolgt werden müssen, werden mittlerweile unbeanstandet von den täglichen Nachrichtensendungen frei Haus geliefert.
Das Problem dabei ist nur: mit der obigen Formulierung des Artikels 2 des Zwei-plus-vier-Vertrags hat sich das damals künftige Deutschland verpflichtet, „dass vom deutschen Boden nur Frieden ausgehen wird“. Das ist ungefähr so, als würde ich meinem Nachbarn notariell beglaubigt zusichern, dass ich ihn immer freundlich behandeln werde. Die deutsche Politik handelt seit Jahren so, als wäre der Text dieses Vertrags nur eine Sonntagspredigt, die man schon beim Frühschoppen danach wieder vergisst. Aber es ist ein Vertrag. Und der Unterschied zwischen einem Vertrag und einer Sonntagspredigt ist nun einmal, dass der Bruch eines Vertrags höchst irdische Konsequenzen hat.
In der wirklichen Welt will die Mehrheit des deutschen Parlaments gerade beschließen, an eine in jeder denkbaren Hinsicht zweifelhafte ukrainische Regierung, der dank der abgesagten Wahlen demnächst sogar das formelle Minimum demokratischer Legitimität abgeht, von Mordanschlägen, Todeslisten, Parteiverboten, politischen Gefangenen ganz zu schweigen (den Mord an Gonzalo Lira nicht zu vergessen), deutsche Raketen zu liefern, die von ukrainischem Gebiet aus selbst Moskau erreichen könnten. Deutsche Raketen auf Moskau als Ergebnis des Zwei-plus-vier-Vertrags? Das kann nicht in Ordnung sein.
Der Umgang mit den Minsker Abkommen dürfte übrigens gut dazu beigetragen haben, dass ein derartiger Schritt, wie ihn die Ankündigung einer solchen Aufkündigung darstellt, aus russischer Sicht Sinn macht. Diese Abkommen waren damals vom UN-Sicherheitsrat übernommen worden, was bedeutet, sie wurden mit der höchsten völkerrechtlichen Qualität versehen. Bindend für alle Beteiligten. Und auch wenn die unmittelbaren Vertragsparteien nur die Donbassrepubliken und Kiew waren, bedeutet die Stellung Deutschlands als Garantiemacht durchaus eine Verpflichtung, zur Umsetzung dieses Völkerrechts beizutragen.
Statt dessen wurde schon in der Berichterstattung über den Inhalt dieses Abkommens gelogen, dass sich die Balken bogen. Mehr noch, es wurden, mindestens unter der Beteiligung Deutschlands, durch die EU Sanktionen gegen Russland verhängt, weil es die Minsker Abkommen nicht umsetze. Dabei war der erste Schritt, nach einer Waffenruhe und dem Rückzug des schweren Geräts von der Kontaktlinie, die Verabschiedung einer Verfassungsänderung im Parlament von Kiew, die den Status der russischen Sprache wieder herstellt und einer Föderalisierung der Ukraine den Weg bereitet. Nicht einmal der Rückzug des schweren Geräts wurde von ukrainischer Seite eingehalten. Über Jahre hinweg durften nicht nur die Milizen, sondern auch die Zivilbevölkerung ukrainischen Beschuss genießen, auf den keine Antwort erfolgen durfte. Tote, immer wieder Tote und Zerstörung, acht Jahre lang. Die deutsche Reaktion darauf? Neue Vorhaltungen gegen Russland und neue Lügen.
Wer immer die russischen Reaktionen auf internationale Krisen beobachtet hat, weiß, dass die Wiederherstellung des Völkerrechts einer der zentralen Punkte in der Außenpolitik des Landes ist. Während der Westen seine „regelbasierte Weltordnung“ vor sich herträgt, um noch das letzte Blutvergießen zu rechtfertigen, aber nie zu sagen, worin sich diese Regeln nun vom geltenden Völkerrecht unterscheiden, kann man auf russischer Seite, gleich, wie man zu den getroffenen Entscheidungen steht, immer einen Bezug zu den Vorgaben des Völkerrechts finden. Man mag darüber diskutieren, wie die einzelnen Bestimmungen interpretiert werden, und dabei völlig anderer Meinung sein, aber es ist nie ein Handeln im leeren Raum, für das dann irgendwelche unbekannten „Regeln“ aus dem Hut gezaubert werden. Und es ist oft, wie zum Beispiel im Falle des israelischen Genozids in Gaza, ein geradezu schmerzhaft langsames und vorsichtiges Vorgehen, weil die Geltung des Rechts als ein höheres Gut behandelt wird als die langfristig vernünftigere Lösung, auch wenn dies dazu zwingt, Schrecken wie derzeit in Gaza zu ertragen.
Wenn man davon ausgeht, dass genau das die russische Haltung ist, das Völkerrecht zu stärken; dass diese Haltung auch die Grundlage für das ganze Beziehungsgeflecht in BRICS bildet und damit für eine künftige, gleichere Welt, dann muss diese Haltung auch in Bezug auf das Verhältnis zu Deutschland gelten. Und wenn Deutschland mit seinem Vorgehen im Ukraine-Konflikt und Russland gegenüber das Völkerrecht ignoriert und bricht, was es mehrfach getan hat, und sich auch noch dafür preist, andere hintergangen zu haben, dann ist es nur konsequent, das als einen Bruch des Zwei-plus-vier-Vertrags zu behandeln und dementsprechend zu agieren.
Ob das praktische Konsequenzen hat und wenn ja, welche, muss sich noch zeigen. Aber es genügt, sich schon eine einzige Bundestagsdebatte anzuhören, um Klarheit darüber zu bekommen, dass das „friedliche Zusammenleben der Völker“ für das heutige Deutschland längst ein Fremdwort ist. Wenn man das Völkerrecht wirklich ernst nimmt, dann muss der Verstoß gegen diesen Artikel 2 zumindest klar als Bruch des Vertrags benannt werden.