Es war ein heißer Abend – nicht nur was die Temperaturen im Kleinen Saal in der Görlitzer Stadthalle am vergangenen Montagabend betraf. Die Sächsische Landeszentrale für politische Bildung (SLfpB) hatte zum zweistündigen Stelldichein der Spitzenkandidaten im östlichsten Landkreis des Freistaats geladen. Für den aktuellen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer war es ein Heimspiel – genau wie für die anderen beiden bekannteren Gesichter auf dem Podium, das mit insgesamt sieben Politikern von CDU, AfD, Linke, Grüne, SPD, FDP und BSW besetzt war.
Ein Beitrag von Sven Brajer
Spätestens seit der Bürgermeisterwahl 2019 in der Neißestadt besitzt die aktuelle Vorsitzende der Grünenfraktion im sächsischen Landtag, Franziska Schubert sowie ihr damaliger Kontrahent von der AfD – mit dem sie auch diesmal wieder heftig aneinandergeraten sollte – Sebastian Wippel, überregionale Bekanntheit: Die Wirtschafts- und Sozialgeografin trat damals genau wie die Kandidatin der Partei die Linke im zweiten Wahlgang nicht mehr an, viele linke und grüne Wähler stimmten dann im zweiten Wahlgang für den CDU-Kandidaten Octavian Ursu, der sich gegen den Polizeikommissar, welcher im ersten Wahlgang noch die zweiten Stimmen auf sich vereinen konnte, mit knapper Mehrheit durchsetzen konnte.
Ursu war am Montag auch in der Stadthalle – und wurde vom Chef der SLfpB Roland Löffler begrüßt. Beim Blick auf die vier „Sponsoren“ der Veranstaltung stachen flankiert von den Sächsischen Volkshochschulen und der SLfpB die zwei großen Tageszeitungen im Freistaat, die Leipziger Volkszeitung sowie die Sächsische Zeitung auf dem riesigen Plakat: „Wahlforum zur Landtagswahl in Sachsen 2024“ ins Auge. Die Leipziger Volkszeitung gehört zur Madsack Mediengruppe mit Sitz in Hannover. Mit 23,1 Prozent Beteiligung ist dort die SPD größte Kommanditistin. Madsack hat seit Jahresbeginn auch die Sächsische Zeitung übernommen, oder wie man es auf der Homepage der Gesellschaft ausdrückt: „Leipziger Volkszeitung und Sächsische Zeitung bündeln ihre Kräfte und bilden eine der größten Regionalredaktionen Deutschlands“ – mediale Monopolisierung der sächsischen Zeitungslandschaft mit jeweils westdeutschen Chefs. Da überrascht es dann wenig, wenn Sebastian Beutler, Leiter der Redaktion der Sächsischen Zeitung in Görlitz die Moderation übernahm – zusammen mit Alexandra Gerlach die sich als „freischaffende Journalistin“, bekannt für ihre Arbeit für den Deutschlandfunk und Deutschlandradio, vorstellte.
Nach kurzer Einführung durften sich zuerst die Podiumsteilnehmer und dann Zuschauer zum Thema „An der Demokratie mitwirken“ äußern. Dazu wurde zunächst eine aktuelle Sachsen-Monitor-Umfrage zitiert, wonach 83 Prozent der befragten Sachsen die Demokratie gut finden, aber nur 41 Prozent zufrieden damit sind wie sie derzeit „durchgeführt wird“. Kurz darauf sagte der Ministerpräsident mit Blick auf seinen Nachbarn Sebastian Wippel, dessen Partei im Landkreis Görlitz mehr als ein Drittel der Wählerstimmen auf sich vereint: „Mit denen geht es nicht“ Die AfD-Gründerväter seien zwar „national“ gewesen und auch wirtschaftsliberal, doch was jetzt unter Björn Höcke als einer der führenden Figuren geschehe, sei nicht mehr akzeptabel. Wippel meinte zuvor er will die „Fehler, die seit 2015 passiert sind, aufarbeiten“. Bei dem Thema springt der Ministerpräsident immer an – man fragt sich welche Partei 2015 federführend die Grenzen geöffnet hat – und fordert beispielsweise eine „sächsische Grenzpolizei“ gegen illegale Migration und die im Landkreis Görlitz nach wie vor hohe Grenzkriminalität. Diesen „netten Wahlkampfgag“ kommentiert Wippel dahingehend, dass es nicht sein könne das der Bund hier auf Kosten des Freistaats sich aus der Verantwortung stehle. Man staunte auch nicht schlecht als Kretschmer statt einer möglichen Obergrenze von 300.000 Personen im Bund pro Jahr die Zahl von 30.000 als Obergrenze fordert, die pro Jahr legal nach Deutschland als Asylbewerber einreisen dürfen. Als Sachsen könne man das mit „mehr Polizei tun, denn mehr Stellen sind immer eine gute Idee“. Doch löst der Staat und damit noch mehr Bürokratie und höhere Steuern tatsächlich immer die Probleme? Gerade die zahlreichen selbständigen Mittelständler im Landkreis sehen das anders: Rasch fiel allerdings auf, dass sowohl die Politiker auf dem Forum als auch die Fragesteller aus dem Publikum fast alle in der Verwaltung, Justiz oder einem anderen Posten, der von Steuergeldern finanziert wird, stammen.
Linken-Kandidatin und Heilpädagogin Johanna Maria-Stiller setzt sich für den Hierarchieabbau in der Verwaltung ein, die Stärkung der Pflege, sowie generell mehr Inklusion. Rechtsanwalt Harald Baumann-Hasske (SPD) meint „Deutschland ist eines der sichersten Länder der Welt“, während Diplom-Ingenieur Toralf Einsle die „Verwaltung straffen“ und den Ausstieg aus der Braunkohle beschleunigen will. Grünen-Kandidatin Franziska Schubert sucht gern das Gespräch mit den Wählern und will die massive Polarisierung auch im Landkreis Görlitz abbauen – ein löbliches Anliegen, doch mit Blick auf den Bund (seit 2021) sowohl auch in Sachsen (seit 2019) zeigt sich, dass gerade dieses Schwarz-Weiß-Denken seit der Regierungsbeteiligung der Grünen – die medial durch eine dieser Partei nahe stehende Journalistengilde gepusht wurde und wird – besonders aufgeladen hat. Das konnte man exemplarisch nachverfolgen als Moderator Beutler die gebürtige Löbauerin und den AfD-Mann zum „Duell“ nach vorn bat: Wippel hätte gerne die deutschen Atomkraftwerke länger laufen lassen, Schubert warf ihm vor, dass gerade Atomstrom am meisten subventioniert wird. Das stimmt – laut der ersten Seite auf Google – auch, allerdings wirkten der Blick und der Tonfall der 42-jährigen gegenüber Wippel nicht gerade entpolarisierend. Den Applaus des Abends bekommt sie für die Feststellung, dass viele Sachsen „Angst“ vor Bedrohungsszenarios haben, die es beispielsweise vor wenigen Tagen beim CSD in Bautzen gab. Hinter der CSD-Parade liefen rund 700 Großteils in Schwarz gekleidete und teils vermummte Personen mit Reichsfahnen und anderen Symbolen der rechtsextremen Szene hinterher und grölten ausländerfeindliche Parolen. Zuvor kommentierte Kretschmer das Geschehen in Bautzen mit den Worten: „Wer diese Gestalten gesehen hat, die da durch Bautzen gelaufen sind – da bleibt keine Frage“. Wer dafür irgendeine Begründung suche, „stellt sich außerhalb jedes vernünftigen Konsenses“, so Kretschmer weiter. Basta, Thema erledigt. Etwas weniger emotional wirkte dagegen der BWS-Kandidat, den eine ganz andere Angelegenheit umtrieb: „Wir brauchen eine starke Stimme für den Frieden.“ Zwar wird das nicht auf Länderebene geklärt, Jens Hentschel-Thöricht machte aber unmissverständlich klar, dass nur eine Partei die auf Diplomatie und gegen Waffenlieferungen setze als Koalitionspartner für die von Sahra Wagenknecht initiierte Partei in Frage komme: Das weiß auch Michael Kretschmer, der nicht nur auf Wippel, sondern auch auf den BSW-Vertreter den ganzen Abend generell recht dünnhäutig reagierte. Denn klar ist: Mit transatlantischen „Falken“ wie Norbert Röttgen, Friedrich Merz und Roderich Kiesewetter in der Union wird eine Koalition mit dem BSW und dessen außenpolitischen Forderungen schwer zu realisieren sein. Eine Wiederholung von Schwarz-Rot-Grün als Regierung in Dresden steht mit Blick auf die aktuellen Umfragewerteallerdings ähnlich in den Sternen.
Das Sachsen mit der AfD sowie der Kleinstpartei Freie Sachsen tatsächlich über gleich zwei mobilisierungsstarke rechte bzw. in Teilen rechtsextreme Parteien verfügt ist real, es hat sich auch dank massenmedialer Verbreitung vom Spiegel bis zur Süddeutschen Zeitung bis nach Berlin, Köln und Stuttgart herumgesprochen und den Freistaat zum Inbegriff „Dunkeldeutschlands“ gemacht: Die Frage, warum diese Parteien und seit neuestem noch das BSW immer stärkeren Zuspruch erhalten, die „Ampel-Parteien“ in Sachsen dagegen laut einer aktuellen Umfrage auf absurd wirkende 14 Prozent (Grüne und SPD jeweils sechs, die FDP erhält noch zwei), kommen, spielt keine Rolle. Sie wird beispielsweise von den Herausgebern des jährlich erscheinenden Magazins „Sachsen rechts unten“ nie gestellt, genauso wenig wie „demokratisch“ es eigentlich ist, wenn man wie in Sachsen den offensichtlichen Wählerwillen von gut einem Drittel der Wähler bei jeder Regierungsbildung ignoriert. Warum stellt man sich nicht politisch der AfD und hinterfragt die offenbar eigene, missliebige Staatsführung, die mit einem selten dagewesenen historischen Vertrauensverlust der letzten Jahre einhergeht? Der hypermoralische Zeigefinger beispielsweise der Broschüre der den Grünen nahestehenden Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen („Weiterdenken“), dem Kulturbüro Sachsen e.V. sowie der Antonio-Amadeo-Stiftung wird stets auf den politischen Gegner, der dadurch zum Feind gemacht wird, gerichtet. In der Analyse stimmt zwar vieles, aber man fragt sich nicht, warum sich Menschen in die rechtsextreme Richtung entwickelt haben. Wenn man sein ganzes Berufsleben im kulturalistisch-akademischen Elfenbeinturm, finanziert von (Non-) Government Organisationen, staatsnahen Stiftungen und anderen Drittmittelprojekten verbringt, ist man offensichtlich irgendwann nicht mehr in der Lage aus der eigenen, woken Blase herauszuschauen. Dann würde man verstehen, warum gerade im vom Mittelstand geprägten Sachsen so viele Menschen unzufrieden mit den etablierten Parteien sind, sich spalten lassen und sich radikalisieren: Vor allem der alternativlose Umgang einer euphemistisch ausgedrückt paternalistischen Politik in Berlin und Dresden mit drei globalen Krisen hat massiv dazu beigetragen das Vertrauen der Sachsen, von denen viele noch zur DDR-Zeiten das „Zwischen den Zeilen Lesen“ bei politischen Verlautbarungen von Politbüro und Neuen Deutschland erlernt haben, zu erschüttern: Nach dem ungefragten Abschaffen der lang ersehnten D-Mark zugunsten eines seit seiner Einführung immer stärker an Wert verlierenden Euro, ist es vor allem die seit 2015 eskalierende Migrationskrise, die vielen Sachsen die Hutschnur platzen lässt, obwohl für viele unverrückbar fest steht, dass Menschen aus Kriegsgebieten zu helfen ist, zumeist genauso wie die Tatsache unumstößlich ist, dass das völlig überalterte Bundesland dringend Fachkräfte benötigt. Gerade in Bereichen wie der Altenpflege, Gastronomie, im Handwerk und dem verarbeitenden Gewerbe merkt man das auf Schritt und Tritt, doch auch Führungskräfte fehlen allerorten. Immer mehr Rentnern stehen immer weniger junge Leute gegenüber, was die Folge einer kinderfeindlichen Bundespolitik sowie einem auch nach 35 Jahren Wiedervereinigung stattfindenden massiven Braindrain junger Leute von Ost nach West ist. Dagegen kommen viele junge Männer aus Nordafrika und dem Nahen Osten auch nach Sachsen, vor allem in die Großstädte, und hoffen dort das gelobte Land zu finden. Das ist aus ihrer Sicht keineswegs verwerflich, für die aufnehmende Gesellschaft stellt das ganze allerdings dann ein Problem dar, wenn die Anzahl der Ankommenden schlichtweg zu groß wird – und die erhofften bzw. gesuchten Qualifikationen zumeist nicht da sind bzw. ein urdeutscher Bürokratismus das in Arbeit kommen dieser Menschen schlichtweg verhindert.
Die sogenannten „Maßnahmen“ während der Corona-Krise haben nicht nur Menschen ihre Grundrechte – die stets Abwehrmechanismen gegen den überbordenden Staat sind und waren – entzogen und Ihnen politisch motivierte Eingriffe in die Unversehrtheit ihrer Körper zugemutet sie waren auch der Startschuss zur größten Wirtschaftskrise mitsamt Rezession in der Geschichte der Bundesrepublik: Das niemand der Anwesenden in Görlitz eine Aufarbeitung der Politik der Jahre 2020 bis 2022, die auch die Gesellschaft in Sachsen bis heute wie selten zuvor spaltet, gefordert hat ist genauso wenig verständlich wie der fehlende Blick auf die aktuelle Wirtschaftskrise, der nicht zuletzt durch die seit 2022 anhaltenden Sanktionen gegen Russland und das Ende von Nordstream II gerade für den exportstarken Freistaat desaströs wirkt – genauso wie die Unsummen an Steuergeldern für Waffenlieferungen an die Ukraine.
Das Ursache-Wirkungs-Prinzip beim Erstarken der Rechten und Rechtsextremen wurde auch auf dem Podium in der Görlitzer Stadthalle nicht erkannt: AfD und Freie Sachsen sind nicht so stark, weil sie eine bessere Politik versprechen, sondern weil CDU, SPD, Grüne, FDP und Linke die Bundesrepublik und zum Teil auch Sachsen innerhalb weniger Jahre in einen teilweise desolaten Zustand verwandelt haben. Mit den Forderungen nach noch „mehr Staat“ und einem weiteren „Fahren auf Sicht“ a lá Angela Merkel wird man weder in der Staatskanzlei in Dresden noch im Görlitzer Kreistag die vielen Probleme lösen. Vielleicht wäre generell etwas weniger alternativlose Politik und dafür das Vertrauen in den mündigen Bürger ein Rezept, um aus dem politischen Moralgefängnis herauszukommen und endlich die Dinge anzugehen, die den Bürger wirklich bewegen. Dafür sollte nach dem ersten Schritt der offenen Diskussion wie in der Neißestadt nun der heutzutage leeren Worthülse „Demokratie“ wieder Leben eingehaucht werden, beispielsweise mit Volkentscheiden und repräsentativen Bürgerräten wie in der Schweiz. Auch ein bisschen mehr Demut und Erklärungswillen vor dem eigentlichen Souverän, dem Volk, würde den ein oder anderen Volksvertreter in der Dresdner Staatskanzlei ganz gut zu Gesicht stehen.
Zum Autor: Sven Brajer ist promovierter Historiker, freier Journalist sowie gelernter Einzelhandelskaufmann. Er stammt aus der Oberlausitz, hat in Göttingen und lange in Dresden gelebt, lebt derzeit in Berlin und Görlitz und betreibt den Blog www.imosten.org. Er interessiert sich für die deutsche und europäische Sozial-, Kultur- und Wirtschaftsgeschichte des 19.-21. Jahrhunderts, Revolutionsforschung, Geopolitik mit Schwerpunkt Mittel- und Osteuropa, aber auch für aktuelle (finanz-)politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen, insbesondere von Parteien und Bewegungen. 2023 erschien sein Buch: „Die (Selbst)Zerstörung der deutschen Linken. Von der Kapitalismuskritik zum woken Establishment“ im Promedia Verlag.
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