Trotz der verzweifelten Rufe der westlichen Eliten liegt Viktor Orbán mit seiner so genannten Friedensmission voll im globalen Trend. Auch wenn es noch niemand zu sagen wagt und die direkt oder indirekt beteiligten Parteien noch weit von ihren Zielen entfernt sind, rückt das Ende der intensiven Phase des Krieges langsam näher. So kann Orbán, der die globalen Trends gewöhnlich gut kennt, sein Image auf dieser Welle aufbauen, wie er es auch während der Migrantenkrise getan hat. Natürlich wird auch dies erst im Nachhinein und stillschweigend zur Kenntnis genommen. Aber daran sind wir ja gewöhnt.
Ein Beitrag Gábor Stier
Selenskyj, Putin, Xi Jinping, Erdogan, Trump … Und natürlich der Nato-Gipfel. Viktor Orbán hat sich mit allen wichtigen Akteuren der Umgestaltung der Welt getroffen und mit ihnen verhandelt. Das ist an sich schon eine große Leistung, die zeigt, dass Ungarns Ministerpräsident sich selbst auf der internationalen Bühne bereits weit über das eigentliche Gewicht Ungarns gestellt hat. Nicht das Land, denn in dieser Geschichte geht es wirklich um Viktor Orbán, und durch ihn natürlich auch um die Steigerung des Ansehens von Ungarn. Zumindest in gewisser Weise. So empfinde ich es, obwohl die hauptsächlich hysterischen Urteile aus der Europäischen Union von etwas anderem zeugen. In Wirklichkeit erreichen diese Kritiken jedoch nur, alles zu untermauern, was Orbán in diesen zwei Wochen getan hat. In der Tat ist dieser Hass eine indirekte Anerkennung seiner diplomatischen Leistung. Doch dieser Tsunami des Hasses war wohl von Orbán vorhergesehen und meiner Ansicht nach wurde in seine Strategie einkalkuliert. Diese Hysterie hat seine diplomatische Leistung, die nicht zu unterschätzen ist, zusätzlich aufpoliert.
Es ist offensichtlich, dass der ungarische Ministerpräsident in zwei Wochen mehr für den Frieden getan hat als der gesamte europäische Führungselite zusammengenommen. Das war natürlich nicht schwer, denn Brüssel ist an der Fortsetzung des Krieges interessiert. Insofern ist die Wut durchaus verständlich. Orbán hat wieder einmal den Sumpf aufgewühlt, und der stinkt. Natürlich geht es auch hier nicht darum, dass Ungarn eine Lösung des russisch-ukrainischen Konflikts herbeiführt, aber zumindest hat er einen winzigen Schritt in diese Richtung getan. Er hat dies getan, indem er die Frage des Waffenstillstands im globalen Umfeld unausweichlich gemacht hat. Denn genau darum ging es bei den Reaktionen, sowohl bei den Befürwortern als auch bei den Gegnern. Es ging um die Haltung. Und in recht chaotischen Verhältnissen ist die Klärung der Positionen eine ziemliche Leistung. Denn wir sehen sowohl die Verhandlungen bald kommen als auch die Eskalation entfalten, so dass die Reaktionen die Positionen aller Beteiligten zurechtrücken.
Jedenfalls im öffentlichen Raum. Aber Viktor Orbán hatte auch die Möglichkeit, mehr über die tatsächlichen Positionen und die möglichen Grenzen des Kompromisses zu erfahren, und er hat die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union darüber informiert. Für diese Informationsbeschaffung sollte der westliche Block Orbán dankbar sein, und sei es nur, weil es heutzutage nur wenige Politiker gibt, die in dem geopolitischen Raum, den der ungarische Ministerpräsident bereist hat, sofort zu Verhandlungen bereit wären.
Aber natürlich muss diese „Friedensmission“, die unter dem Banner des amtierenden Präsidenten der Europäischen Union durchgeführt wird – oder genauer gesagt, indem sie diesen Posten auch nicht gerade ethisch, aber nicht illegal durchgeführt wird –, auch in Übereinstimmung mit ihrem Gewicht und ihren Zielen in dem Sinne gehandhabt werden, dass dies auch die persönlichen politischen Ambitionen des ungarischen Ministerpräsidenten einschließt. Das ist natürlich kein großes Problem, wenn sie im Großen und Ganzen mit den Interessen Ungarns und der Europäischen Union übereinstimmen.
Das ungarische Interesse ist in dem Fall der Frieden, die europäische Sicherheit und die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit. Ich muss das nicht weiter ausführen, aber entgegen der Machtelite ist dies auch das europäische Interesse.
Wie auch immer, Viktor Orbán schreitet voran. Ja, er schwimmt gegen den Strom, denn die europäische Spitze betrachtet mit Nervösität seine diplomatischen Aktivitäten. Zum einen, weil sie es nicht gewohnt ist – und Orbán wie immer die Grenzen ausreizt – und zum anderen, weil sie sich das Beenden des russisch-ukrainischen Konflikts anders vorstellt. Brüssel und die Mehrheit der europäischen Staats- und Regierungschefs sind entschlossen, den Krieg fortzusetzen, Russland zu besiegen. Dabei kümmert es sie wenig, dass ein Land zerstört wird, Menschen sterben und die Wettbewerbsfähigkeit Europas dramatisch geschwächt wird. Letzteres liegt nicht nur im Interesse Russlands, sondern auch im Interesse der USA. Europas Elite will dies jedoch nur sehr ungern wahrhaben und rennt auf den Abgrund zu. Kopflos, wissentlich oder unwissentlich gegen die europäischen Interessen.
Viktor Orbán wusste schon zu Beginn seiner Tournee, dass er keinen Frieden bringen würde. Das hat er gesagt, genauso wie er gesagt hat, dass er nicht als amtierender Präsident der Europäischen Union verhandeln wird.
Er hat gesagt, dass die großen Akteure den Frieden bringen werden, aber Ungarn wird alles tun, um die Intensität des Krieges zu mildern und einem Waffenstillstand näher zu kommen. Eines können wir schon jetzt sagen: Wir sind diesem Ziel einen kleinen Schritt nähergekommen. Wenn auch nicht dank dieser Reise, doch gibt es ein schwach flackerndes Licht am Ende des Tunnels. In diesem Sinne fügt sich Orbáns „Friedensmission“ in den weltweiten Trend ein. Mehr denn je ist zu hören, dass dieser Krieg auf dem Verhandlungsweg beendet werden muss und dass die Möglichkeit einer diplomatischen Lösung heranreift.
So ist in der Ukraine bereits die Rede davon, Russland zum nächsten „globalen Friedensgipfel“ einzuladen. Außerdem „vergisst“ Wolodymyr Selenskyj langsam die Notwendigkeit, verlorene Gebiete zurückzugewinnen. Im Moment sieht der ukrainische Präsident die Erhaltung der Staatlichkeit und den Beitritt zum euro-atlantischen Raum als sein Ziel und damit als Sieg an. All dies bedeutet, dass sich die Ukraine langsam anschickt, die verlorenen Gebiete aufzugeben, und unter dem starken Druck der Realität beginnt, die so genannte Selenskyj-Formel zu vergessen.
Trotz der Ablehnung von Orbáns Vorschlag eines Waffenstillstands und anschließender Friedensgespräche durch Kiew liegen die beiden Positionen in Wirklichkeit gar nicht so weit auseinander. Es ist nur sehr schwer, das zuzugeben.
In der Tat ist es komplizierter, Moskau an den Verhandlungstisch zu bekommen, da der Kreml vor Orbáns Reise deutlich gemacht hat, worüber er bereit ist zu verhandeln und worüber nicht. Darüber hinaus wird Russland durch die abschließende Erklärung auf dem Nato-Jubiläumsgipfel, dass der Beitritt der Ukraine unumkehrbar sei, zur Fortsetzung des Krieges gedrängt. Die nordatlantische Gemeinschaft ist offenbar entschlossen, die Ukraine zu unterstützen und damit den Krieg fortzusetzen, und auch dies deutet nicht auf ein baldiges Ende der intensiven Phase der Kämpfe hin.
Betrachtet man jedoch das Ausmaß der praktischen Unterstützung, die Fähigkeiten und Möglichkeiten, die hinter der offensichtlichen Entschlossenheit stehen, so besteht eine größere Chance auf Verhandlungen. Außerdem darf nicht vergessen werden, dass eine Fortsetzung des Krieges – nicht einmal ein Sieg – viel mehr Unterstützung erfordern würde, als derzeit zur Verfügung steht, und dazu ist der westliche Block nicht bereit, um es gelinde auszudrücken. Ganz zu schweigen davon, dass auch die menschlichen Reserven der Ukraine endlich sind.
Klar ist, dass die dominierenden Mächte des westlichen Blocks keinen Krieg mit Russland wollen und, obwohl sie zu Recht die Verteidigung des Heimatlandes betonen, weiterhin ihre westlichen und vor allem US-amerikanischen Interessen gegenüber einer immer mehr ausblutenden Ukraine durchsetzen, indem sie die Gegenüberstellung der Demokratie und Diktatur verstärken und sich dahinter verstecken.
Nach den Erfahrungen der letzten drei Jahre und mehr als einem Jahrhundert westlicher Erfahrung ist es jedoch nicht ausgeschlossen, dass Washington angesichts des ausbleibenden Kampferfolgs auf die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine drängt und Moskau damit zu seinen eigenen Bedingungen an den Verhandlungstisch bringen will.
Die westlichen Staats- und Regierungschefs hoffen, dass die Russen bereit sein könnten, auf einige ihrer Forderungen zu verzichten, um eine tiefere euro-atlantische Integration der Ukraine zu verhindern. Zum Beispiel in Bezug auf die Entmilitarisierung der Ukraine, die einen gewissen Spielraum für eine weitere ukrainisch-westliche militärische Zusammenarbeit im Falle einer eventuellen Neutralisierung Kiews lassen würde.
Umgekehrt könnten die Russen versuchen, die Ukraine und den Westen zu einer De-facto-Neutralität zu bewegen, um im Gegenzug die wirtschaftliche Zusammenarbeit aufrechtzuerhalten, bevor Kiew weitere Gebietsverluste verbuchen muss, was die Russen als unvermeidlich ansehen.
Es ist also nicht eindeutig, dass sich die Dinge in Richtung Frieden bewegen. Zum jetzigen Zeitpunkt lässt sich nicht sagen, welche Seite eher zu Kompromissen bereit ist und wie weit sie zu gehen bereit ist, um ihre Ziele zu erreichen. Eins steht fest: Viktor Orbán hat seine vieldiskutierte „Friedensmission“ zu einem Zeitpunkt gestartet, an dem sich die Gelegenheit für eine Annäherung bietet. Und wenn er zumindest dazu beigetragen hat, die Positionen zu klären, dann sind wir einer Einigung einen Hauch nähergekommen. Und wenn dies der Fall ist, dann ist nicht zu leugnen, dass der ungarische Ministerpräsident auch versucht hat, sein eigenes politisches Image und das seines Landes zu verbessern. Das ist selbstverständlich und das tut jeder. Dies war auch der Grund, warum zum Beispiel Emmanuel Macron zu Beginn des Jahres die Gemüter erhitzte und zumindest rhetorisch die Ereignisse in Richtung einer Eskalation des Krieges trieb.
Es stimmt, dass Macrons Auftritt auch einen Sturm ausgelöst hat, aber bei weitem nicht so sehr wie Viktor Orbáns „Friedensmission“.
Aber während das eine „Spiel“ Europa in seinem persönlichen und nationalen Interesse in Richtung Krieg getrieben hat, hat das andere in Richtung Versöhnung und Stabilität gewirkt. Aber zumindest kann dem französischen Präsidenten keine Doppelzüngigkeit vorgeworfen werden, da er in Bezug auf die Verhandlungen des ungarischen Ministerpräsidenten die Souveränität betont und Orbán zumindest nicht offen angegriffen hat. Viele Menschen – nicht nur in den europäischen Gesellschaften, sondern auch in den Eliten – sind ebenfalls der Meinung, dass das, was der ungarische Ministerpräsident angesprochen hat, zumindest bedenkenswert ist. Natürlich ist dies weit entfernt von der Meinung des europäischen Mainstreams, so dass es nicht laut ausgesprochen werden kann. Aber wir sollten nicht vergessen, dass dies auch bei der Migrantenfrage der Fall war. Und was ist dann passiert?! Europa ist jetzt da, wo Orbán es 2015 schon gesehen hat.
Aus dem Ungarischen übersetzte Éva Péli.
Zum Autor: Gábor Stier, geboren 1961, ist ein ungarischer außenpolitischer Journalist, Analyst und Publizist. Er ist Fachjournalist für Außenpolitik bei der ungarischen Wochenzeitschrift Demokrata sowie Gründungschefredakteur von #moszkvater, einem Internet-Portal über die slawischen Völker, insbesondere die Länder der ehemaligen Sowjetunion. Davor war er 28 Jahre lang bis zu ihrer Auflösung bei der konservativen Tageszeitung Magyar Nemzet tätig, von 2000 bis 2017 als Leiter des außenpolitischen Ressorts. Er war der letzte Moskau-Korrespondent der Zeitung. Sein Interesse gilt dem postsowjetischen Raum und dessen aktuellen geopolitischen Entwicklungen. Stier schreibt regelmäßig für außenpolitische Fachzeitschriften und seine Beiträge und Interviews erscheinen regelmäßig in der mittel- und osteuropäischen Presse. Er ist Autor des Buches „Das Putin-Rätsel“ (2000) und seit 2009 ständiges Mitglied des Waldai-Klubs.
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