Es ist eine dumme Angewohnheit, nach Parallelen in der Vergangenheit für Phänomene von heute zu suchen. Auch wenn da nicht John Reed Lenin interviewt hat: Sollte Carlsons Interview zumindest ein paar Menschen im Westen ermöglichen, Russland mit menschlicheren Augen zu sehen, hat der Journalismus seine Pflicht erfüllt.
Ein Beitrag von Oleg Jassinski
Der amerikanische Journalist, der gerade Russland besucht hat, ist keineswegs John Reed, und sein Interviewpartner ist keineswegs Lenin, zumal diese Vergleiche keinem der beiden gefallen hätten. Interessant ist auch die von allen Seiten gleichzeitig betriebene globale PR für ein Interview, das schon lange vor seiner Veröffentlichung Geschichte gemacht hat.
Das soziologische Phänomen dieser Nachricht ist viel wichtiger als der politische Inhalt des Interviews, der kaum jemanden mit etwas unerwartet Neuem überraschen dürfte. Nicht nur in diesen zwei Jahren, sondern von dem Moment an, als Russland begann, eine vom Westen unabhängige Politik zu verfolgen, geriet es sofort und automatisch in eine internationale Informationsblockade, die ihresgleichen sucht. Die „seriöse Weltpresse“ verwandelte sich allmählich von einer nur einseitig-tendenziösen in die heutige Kloake voller Lügen über alles, was auch nur im Entferntesten mit Russland oder der russischen Politik zu tun hat. Infolgedessen sind viele anständige und gebildete Menschen in verschiedenen Ländern in unterschiedlichem Maße von antirussischen Vorurteilen vergiftet und haben ein zutiefst fehlerhaftes und karikaturhaftes Bild von Russland. Das gilt sogar für viele unserer früheren sowjetischen Landsleute, die ihre Heimat in den düsteren 1990er Jahren verlassen und den Bezug zu hiesigen Realitäten verloren haben.
Tucker Carlson ist ganz und gar nicht mein journalistisches Idol, und bei seinem aktuellen beruflichen Projekt geht es nicht um die Rettung der Menschheit, sondern um die Unterstützung eines der Präsidentschaftskandidaten in den USA, für den ich auch nicht die geringste Sympathie empfinde. Aber da die Geschichte nicht linear verläuft, reißt die US-Wahl unerwartet ein kleines Fenster in die Lügenwand der globalen Mainstream-Medien.
Die Heuchelei des kollektiven Westens entlarvt in diesen Tagen nicht Julian Assange, sondern ein sensationsgieriger Ultrakonservativer, einer von denen, die noch vor nicht allzu langer Zeit das Rückgrat der aggressiven Außenpolitik des amerikanischen Imperiums waren. Hauptankläger gegen die Krieg gegen die Menschheit führenden transnationalen Konzerne ist nicht Noam Chomsky, sondern Wladimir Putin, der noch vor kurzem, wie die meisten Vertreter seiner sowjetischen Generation, naiv an die Möglichkeit glaubte, sich mit dem Westen zu einigen und echte globale Probleme gemeinsam mit ihm zu lösen. Ich würde gern glauben, dass dieser Glaube endgültig zerstört ist und nicht wiederbelebt werden kann.
Paradox, aber die völlige Unvergleichbarkeit von Tucker Carlson mit John Reed, von Wladimir Putin mit Wladimir Lenin, von Donald Trump mit Jean Jaurès oder Franklin Delano Roosevelt und so weiter und so fort, ist heute völlig irrelevant geworden. Die Geschichte erteilt uns eine weitere Lektion, die uns von der dummen Angewohnheit befreien soll, ständig alles mit allem zu vergleichen und so in den Dogmen der Vergangenheit gefangen zu bleiben.
Wenn Carlsons Putin-Interview es zumindest ein paar Menschen mehr im Westen ermöglicht, Russland zum ersten Mal mit menschlicheren Augen zu sehen, wenn es sie daran erinnert, dass die reale Welt immer komplexer ist als die Welt der Comics und Karikaturen, an die man uns gewöhnt hat, dann können wir behaupten, dass der Journalismus diesmal seine Pflicht erfüllt hat.
Anmerkung: John S. Reed (1887‒1920) war ein US-amerikanischer Journalist, der sich während der russischen Oktoberrevolution in Sankt Petersburg (damals Petrograd) aufhielt und später Lenin interviewte. Sein in viele Sprachen übersetztes Buch „Zehn Tage, die die Welt erschütterten“ gilt bis heute als die authentischste Beschreibung der Ereignisse von 1917. Reed starb in Moskau und ist auf dem Roten Platz an der Kreml-Mauer beigesetzt.
Zum Autor: Oleg Jassinski (englische Transliteration: Yasinsky), ein aus der Ukraine stammender Journalist, lebt überwiegend in Chile und schreibt für unabhängige lateinamerikanische Medien wie Pressenza.com und Desinformemonos.org. Man kann ihm auch auf seinem Telegram-Kanal folgen.