Ob jung oder alt: Der woke Zeitgeist dominiert vor allem die unter 30-Jährigen, doch die aktiven Jungsenioren haben gelernt sich anzupassen. Für die Gesellschaft ist das keine gute Entwicklung.
Ein Meinungsbeitrag von Sven Brajer
Man findet sie überall: In Restaurants, auf Mallorca und in der Türkei, im Museum oder Theater: Keine Generation dominiert den öffentlichen Raum so massiv wie die Babyboomer. Das sind die Diejenigen, die in den 1950er und 1960er Jahren das Licht der Welt erblickten. In erster Linie die Westdeutschen, die heute von Politik bis Wirtschaft das Sagen haben. Das kommt nicht von ungefähr, denn in der prosperierenden BRD hatten sie viele Möglichkeiten: Es gab gut bezahlte Jobs, stabile Gewerkschaften sowie Ein- und Mehrfamilienhäuser. Dazu jede Menge transatlantische Propaganda des American Way of Life, den man in der Regel – ob 1968er oder nicht –, nicht zuletzt um sich von der nazistischen Elterngeneration abzuheben – willfährig anhimmelte.
Doch die Coca-Cola und Kaugummi-Boomer gehen in immer größerer Zahl in Rente und genießen ihren Lebensabend in vollen Zügen. Es sei Ihnen gegönnt, auch wenn sie jede globalistische Agenda der letzten zehn, zwanzig Jahre kritiklos mitgemacht haben. Im vermeintlich „besten Deutschland, dass es jemals gegeben hat“, wie ein sozialdemokratischer Bundespräsident Jahrgang 1956 inmitten der Corona-Maßnahmen-Zeit 2020, welche nicht nur die massivsten Freiheitseinschränkungen, sondern auch die größte Wirtschaftskrise seit Bestehen der BRD 1949 mit sich brachte, befand.
Auf der anderen Seite stehen die Generationen Y bzw. Z: Schimpften bekanntlich schon die alten Griechen über die wohlstandsverwahrloste Jugend, haben wir es hier laut dem Kommunikationswissenschaftler Michael Meyen mit einem besonders im „Wertewesten“ verbreiteten Phänomen zu tun: Den Aalglatten, Angepassten und Unkritischen, die sich viele Stunden täglich im Display ihres Handys spiegeln. Meyen wird oft gefragt: „Was ist da passiert, Herr Meyen? Warum machen die jungen Leute nicht das, was wir früher gemacht haben?“ (S. 9) Seine Antwort in seinem neuen Buch: „Dressierter Nachwuchs. Was ist mit der Jugend los?“ ist deutlich: „Die Jugend von heute, das ist meine wichtigste These, wurde eingefangen mit einer Ideologie, die Herrschaftsverhältnisse verschleiert, das Band zu den Älteren kappt und die Aufmerksamkeit auf Felder lenkt, die niemandem wehtun, der über Macht und Ressourcen verfügt und deshalb etwas verlieren würde, wenn tatsächlich alle mitreden dürften.“ (S. 13.) Über Macht und Reserven verfügen jedoch die Babyboomer – denen daher viele unter 30-Jährige indirekt in die Karten spielen. Einen großen Anteil daran haben die akademischen Elfenbeintürme im Verbund mit dem Silicon Valley: „Der ‚dressierte Nachwuchs‘, das ist mir dadurch noch klarer geworden, ist ein Produkt der Universitäten, der Metropolen und Medienstädte sowie der Verlockungen, die Staat und Bewusstseinsindustrie bieten.“ (S.16). Im Unterschied zu älteren Generationen kennen die Jungen kein Leben ohne Smartphones mehr. Ihr Leben findet zum großen Teil auf Bildschirmen statt, deren Botschaften von den woken Eliten dominiert werden – und das in Dauerschleife. Da die Boomer gelernt haben, dass es durchaus Vorteile haben kann sich dem Zeitgeist zu unterwerfen – finanziell wie moralisch – spielen sie auch dabei gerne mit: Sie essen gerne „Bio“ und vegetarisch, haben stets das neueste Handy von Apple sowie einen Tesla in der Garage stehen. Dazu wird „Awareness“ bei beiden Generationen großgeschrieben: Der Gegenüber wird wie ein rohes Ei behandelt, aus Angst gekränkt zu werden. So bleiben produktive und den Fortschritt voranbringende Diskurse auf der Strecke und der irre Zeitgeist verstetigt sich.
Dafür kann sich auch der ein oder andere Vierzigjährige mit Meyen – dem Boomer – identifizieren, wenn er schreibt: „Wer sich in der Kneipe und auf dem Bolzplatz bewährt hat, als er jung war, schüttelt den Kopf, wenn er hört, dass man auch dann in Tränen versinken kann, wenn nur ein falsches Wort fällt und die Fäuste in der Tasche bleiben.“ (S. 30). Noch viel besser bringt Meyen das ganze Dilemma in der Zusammenfassung mit dem Hinweis auf eine äußerst versierte Beobachterin des deutschen Zeitgeists auf den Punkt, die aus Meyens ureigensten Kosmos stammt – der heute mehr Macht denn je hat, den Medien:
„Wer Dystopien nicht mag, aber gute Geschichten liebt, der lese den Roman »Zwischen Welten« von Juli Zeh und Simon Urban, einen Briefwechsel zwischen einer Landwirtin aus Brandenburg und einem Topjournalisten aus Hamburg, der in Redaktionskonferenzen erlebt, wie die Jungen die Alten zum Schweigen bringen und alle Standards über Bord werfen, wenn es um Putin geht, um Geschlechtsumwandlungen und das Rederecht von denen, die sich dem Zeitgeist widersetzen. Dieser Karriereschreiber, Mitte 40, Kulturchef und auf dem Sprung nach ganz oben, tätowiert zwar auch private Mails und WhatsApp mit Sternchen versehend und setzt im Verlag eine Sonderausgabe zum Thema Klima durch, wird aber trotzdem überholt von einer Frau, Ende 20, mit Wurzeln in Simbabwe und unendlich vielen Followern auf YouTube. Dieser neue Star bringt zwei Aktivisten ins Haus, gerade 19 und völlig unbeleckt in Sachen Medienhandwerk, aber ganz vorn mit dabei an der Klimafront und der Anfang vom Ende des Chefredakteurs, ein Zeus der Journalismusgötter, der samt Familie durch einen absurden Rassismusvorwurf zerstört wird.“ (S. 32)
Der exorbitante Anstieg an Uni-Absolventen, mittlerweile studieren mehr als 50 Prozent jedes Schuljahrgangs, ist für Meyen ein Hauptgrund für seine Thesen. Denn die hohen Zahlen an Studenten gehen mit einer massiven Verflachung der Inhalte und des Anspruchs einher. Noch in den 2000er und frühen 2010er Jahren war dazu deutlich mehr ideologischer Austausch als heute möglich, erst recht in den Geistes- und Sozialwissenschaften: Heute ist die Spaltung massiv, frei nach der überdigitalisierten Gesellschaft konstatiert Meyen hier ein schwarz-weißes Weltbild dieser unter 30-Jährigen: Eins oder Null, gut oder böse – dazwischen gibt es nichts (S.58-69). Wie kommt man aus dieser Nummer wieder raus? Ein Schlüsselwort in diesem Büchlein heißt Bildung: „Die Dressur der Jugend war und ist ein Langzeitprojekt, bei dem es keineswegs nur um die Inhalte geht, sondern auch um die Form.“ (S. 77) Mit seiner Freien Medienakademie – die er zusammen mit seiner Frau Antje leitet – geht Meyen einen großen Schritt zur Vermittlung der einstigen Schlüsselkompetenzen für den journalistischen Nachwuchs voran. Man kann nur hoffen, dass ihm noch der ein oder andere kritische „Medienmensch“ folgen wird.
Zum Autor: Sven Brajer ist promovierter Historiker, freier Journalist sowie gelernter Einzelhandelskaufmann. Er stammt aus der Oberlausitz, hat in Göttingen und lange in Dresden gelebt, lebt derzeit in Berlin und Görlitz und betreibt den Blog www.imosten.org. Er interessiert sich für die deutsche und europäische Sozial-, Kultur- und Wirtschaftsgeschichte des 19.-21. Jahrhunderts, Revolutionsforschung, Geopolitik mit Schwerpunkt Mittel- und Osteuropa, aber auch für aktuelle (finanz-)politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen, insbesondere von Parteien und Bewegungen. 2023 erschien sein Buch: „Die (Selbst)Zerstörung der deutschen Linken. Von der Kapitalismuskritik zum woken Establishment“ im Promedia Verlag.
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