Den Pflegenotstand werden wir vermutlich nie in den Griff kriegen. Was also tun? Die US-amerikanische Bestattungsbloggerin und Autorin Caitlin Doughty glaubt, dass wir die künstliche Verlängerung des Lebensalters um jeden Preis wenigstens überdenken sollten. Ja überhaupt sieht sie unsere moderne Haltung zum Tod problematisch.
Ein Beitrag con Roberto J. De Lapuente
Caitlin Doughty war schon immer ein morbider Charakter. Dass sie dann als junge Frau in der Bestattungsbranche landete, war nicht etwa konsequent, sondern einfach nur Zufall. Sie brauchte einen Job, um sich das Studium finanzieren zu können. Deswegen heuerte sie in einem Krematorium in Kalifornien an. Dort war sie dafür verantwortlich, die Leichname dem Feuer zu übergeben und die Verbrennung zu überwachen. Daher heißt das Buch, das ihren »nekrotischen Werdegang« beschreibt im englischen Original auch »Smoke Gets In Your Eyes & Other Lessons from the Crematory«.
In den deutschen Übersetzung heißt ihr Buch »Fragen Sie Ihren Bestatter. Lektionen aus dem Krematorium« – das ist eigentlich der Name von Dougthys YouTube-Kanal (»Ask a Mortitian«). Der englische Buchtitel beschreibt zutreffender, wie es vonstatten geht im Bestattungswesen. Das ist Doughty ein Anliegen, sie findet es problematisch, dass in den Industrieländern der Tod ausgeblendet und hinter die aufgeräumten Fassaden von Sterbeplätzen wie Heimen und Krankenhäusern verbannt wird. Wie man sich zum Tod stellt, so glaubt sie, so lebt man auch.
Koa scheene Leich‘
Der Tod ist nicht schön anzusehen. Anders als im TV. Caitlin Doughty erzählt, dass die Leichen, die einem das Fernsehen vorsetzt, ja schon wesentlich realistischer aussehen als früher. Aber im Vergleich dazu, wie ein toter Körper wirklich aussieht, sind sie immer noch adrett. Schonungslos erzählt sie den Lesern, wie die Haut schmierig wird oder sich das Gesicht schwarz verfärbt. Doughty berichtet vom Schrecken, von entstellten, von zerfetzten Leichen. Von Unfallopfern zum Beispiel. Aber besonders schlimm sind für sie jene Körperhüllen alter Menschen, die Dekubiti aufweisen, nekrotische Stellen also, die sich zu Lebzeiten tief wie Krater ins Fleisch gefressen haben.
Wenn Menschen bewegungsunfähig und bettlägrig werden, müssen sie regelmäßig umgebettet werden, um die Durchblutung zu gewährleisten. Leider geschieht das in den Altenheimen nicht immer zuverlässig. Stichwort: Personalmangel.
Die pure Häßlichkeit des Todes hat in den Vereinigten Staaten ein relativ neues Bestattungsritual entstehen lassen: Die Einbalsamierung. Seit dem Bürgerkrieg boomt die Branche. Die Eisenbahn wurde in jenem Krieg erstmals als Beförderungsmittel eingesetzt – man spricht daher auch vom ersten modernen Krieg der Menschheitsgeschichte. Denn es war von da an möglich, Massenheere durch die Lande zu befördern. Und damit auch massenweise die Leichen der Gefallenen zurückzubringen. Die Züge, die in die amerikanischen Städten einrollten, sollen gotterbärmlich nach Verwesung gestunken haben.
Was so ein Anblick für die Hinterbliebenen bedeutete, kann man sich vorstellen. Findige Unternehmer kamen dann auf die Idee, den toten Körper mit chemischen Spezialmischungen zu fluten, um den Zersetzungsprozess zu verschleppen. Manche Balsamierer hätten sogar »Leichen von unbekannten Gefallenen als Kostprobe ihrer Künste vor ihren Zelten zur Schau« ausgestellt, berichtet Doughty. Heute werben Thanatopraktiker damit, dass sie ein wichtiges Kulturerbe pflegten. Schon die Ägypter hätten ja bekanntlich balsamiert. Sie ignorierten jedoch »vorsätzlich die Quantenlücke zwischen der Ära Tutanchamuns und den Sechzigerjahren des 19. Jahrhunderts«, gibt die Autorin zu bedenken.
Die Kunst des Sterbens
Caitlin Doughty hatte als Mitarbeiterin in einem Krematorium viel Zeit um nachzudenken. Über den Tod und darüber, wie die moderne Gesellschaft damit umgeht. Er ist zu einem Mysterium geworden. Nicht in der Art, dass keiner weiß, wie und ob es danach noch was gibt. Nein, sondern damit wie wir mit ihm umgehen. Oder besser gesagt: Wie wir nicht mit ihm umgehen wollen. Denn so ein Ritus wie das Einbalsamieren sei letztlich die letzte Handlung einer generellen Haltung, die sich dem Grundgedanken, dass jeder von uns sterblich ist, entzieht. Der Gedanke daran, dass wir alle in Fragmente zerfallen und Biomasse werden, hat eine Industrie entstehen lassen, die zwar einerseits beim Tod tätig wird, aber andererseits suggeriert, dass selbst der Tod noch lange nicht Verfall bedeuten muss.
Totenwachen sind zudem nicht mehr üblich. Der Akt des Sterbens wird ausgelagert – heute stirbt kaum noch jemand daheim unter der Fürsorge seiner Familie. Man hat das Sterben anonymisiert. Früher war das durchaus anders.
Den Menschen im Mittelalter, ja auch weit darüber hinaus, war der Tod ein zuverlässiger Begleiter. Noch im Biedermeier brachten Eltern, die fünf Kinder auf die Welt setzten, vielleicht zwei, unter glücklicher Fügung drei Kinder ins Erwachsenenalter. Die Lebenserwartung war gering, Krankenhäuser stellten noch nicht die Regelversorgung sicher. Natürlich starben die Älteren im heimischen Umfeld. Und blieben dort zunächst liegen. Seuchen raffte außerdem Verwandte und Bekannte dahin.
Selbstverständlich ist es erfreulich, dass wir diese Umstände nicht mehr ertragen müssen. Leider hat sich aber ein Bewusstsein entwickelt, das auf ein ewiges Leben schielt und damit eigentlich bloß einen verlängerten Sterbeprozess meint. Das Siechtum, so meint Doughty, gab es früher äußerst selten. Wurde man seinerzeit im Alter bettlägrig, galt es vielleicht noch ein, zwei Jahre Lebenszeit zu füllen. Heute verlängern wir die Lebenszeit oft ohne die Lebensqualität zu berücksichtigen: Ein moralisches Dilemma fürwahr. Alles der Angst, ja der gesellschaftlich gewollten Unzugänglichkeit zum Tod geschuldet.
Forever old
Es ist fast nicht nachvollziehbar, dass die Industriegesellschaften ständig Debatten zum Pflegenotstand führen, ohne auch eine offene Debatte über die Vergänglichkeit anzustreben. Was in früherer Zeit, als noch media vita in morte sumus (»wir mitten im Leben vom Tod umgeben«) galt, die Familie in ein, zwei Jahren intensiverer Pflege leisten konnte, wird heute zum familiären und gesellschaftlichen Kraftakt, der zwanzig, ja dreißig Jahre andauern kann. Nein, ich will damit nicht sagen, dass man Menschen sterben lassen soll oder schlimmer noch, sie einschläfern – das will auch Doughty nicht. Dass der moderne Mensch aber stur so tut, als gehöre der Tod nicht einfach zum Leben, eben weil in jedem neuen Mensch schon ein Sterbevorgang angelegt ist, stellt uns vor gewaltige Probleme.
Wir können nicht auf unsterblich machen und in Werbeversprechen und Marketing galant so tun, als würde jeder von uns alle Zeiten überstehen und gleichzeitig nichts weiter als Wesen sein, die den längsten Sterbeprozess kennen, den es in der Menschheitsgeschichte je gab. Die Todesangst verschreckt, lässt uns reflexhaft werden und verweigert uns würdige Sterbeprozesse und Andenken.
Doughty berichtet von einem Gespräch mit einem Proktologen. Der schüttete ihr sein Herz aus. Die jungen Kollegen, so beklagte er sich, würden sich heute nicht mehr mit dem Tod auseinandersetzen. Dabei begleite er sie täglich bei der Arbeit. Manche jungen Ärzte bringen es nicht mal über sich, einen todgeweihten Patienten einfühlsam auf das einzustellen, was ihm droht. Sie verschweigen es, denn es ist ihnen unangenehm. Sie arbeiten als Sterbliche mit Sterblichen und weichen dem Metathema ihrer Arbeit aus. Das habe auch damit zu tun, dass die Leute der eigenen Sterblichkeit nicht mehr ins Auge sehen wollen. Auch Ärzte sind vor diesem Komplex nicht gefeit.
Selbst das Silicon Valley möchte ja mittlerweile den Tod überwinden. Google investiert nach wie vor Milliarden in Start-ups der Life Sciences. Als sei »für moderne Menschen […] der Tod vielmehr ein technisches Problem, das wir lösen können und lösen sollten«, um es mit den Worten des israelischen Historikers Yuval Noah Harari (»Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen«) zu sagen – damals, als er noch nicht zum mRNA-Apologeten und Messias der Transhumanisten transformiert war. Einen Unsterblichkeitsgläubigen kennt Doughty auch. Ein ihr bekannter Physiker, der glaubt, der Alterungsprozess sei aufhaltbar. Als sie ihn fragte, ob er glaube, dass Unsterblichkeit eine gute Idee für die Menschheit sei, antwortete er nur: »Es geht nicht um andere Leute [… ] Ich will ewig leben.« Und das alles, obwohl wir nur eine Erde haben.
Roberto J. De Lapuente, Jahrgang 1978, ist gelernter Industriemechaniker und betrieb acht Jahre lang den Blog ad sinistram. Von 2017 bis 2024 war er Mitherausgeber des Blogs neulandrebellen. Er war Kolumnist beim Neuen Deutschland und schrieb regelmäßig für Makroskop. Seit 2022 ist er Redakteur bei Overton Magazin. De Lapuente hat eine erwachsene Tochter und wohnt in Frankfurt am Main. Im März 2018 erschien sein Buch „Rechts gewinnt, weil links versagt“.
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