Wer Menschen mit dunkler Hautfarbe farbenblind begegnet, ist nicht etwa modern und aufgeklärt, sondern von gestern und rassistisch. Über den neuen Rassismus in der westlichen Welt.
Ein Beitrag von Roberto J. De Lapuente

Critical Race Theory (CRT): Schon mal gehört? Sie zählt mittlerweile zu den einflussreichsten »soziologischen« Strömungen – Behörden und sogenannte Nichtregierungsorganisationen haben diese Theorie längst verinnerlicht und statten deren Theoretiker mit Steuergeldern aus. Die CRT nimmt somit nicht nur Einfluss auf gesellschaftliche Debatten, sondern auch auf die Gesetzgebung.
Ihren Ursprung hat die CRT in den Siebzigerjahren. Damals wurde sie als juristische Theorie entwickelt. Ihre Befürworter sehen in ihr ein Instrument zur Aufdeckung verborgener Machtstrukturen. Kritiker werfen ihr hingegen vor, eine illiberale Weltanschauung zu sein, die Wissenschaft nicht nur politisiert, sondern auch zu Ergebnissen drängt, die objektiv nicht haltbar wären. Objektivität ist ein wichtiges Stichwort: Die Vertreter der CRT halten die objektive Schau auf Phänomene für per se rassistisch. Die Gegner dieser Theorie merken zudem an, dass die CRT neue Formen moralischer Orthopraxie schafft, die mit dem Rechtsstaat unvereinbar sind. Wie wurde aus der akademischen CRT das, was man heute getrost als neue Stufe des Rassismus bezeichnen könnte?
Von der Rechtsphilosophie zur Lebensphilosophie
Entstanden ist die CRT aus den Critical Legal Studies (CLS), einer kritischen Rechtslehre, die von Linksintellektuellen als eine neue Rechtsphilosophie ins Leben gerufen wurde. Diese Bewegung innerhalb der amerikanischen Rechtswissenschaft deutete Recht grundsätzlich als Produkt sozialer Machtverhältnisse – die Justiz sei also ein Instrument der Herrschaft. Dass Justiz immer auch Klassenjustiz ist, war als Gedanke nicht ganz neu – und falsch ist sie auch nicht. Gerade in den Vereinigten Staaten zeigte sich das überdeutlich, wo Geld vor Gericht grundsätzlich die besseren Karten vorwies – bis heute scheint es so zu sein. Diese theoretische Grundlage übernahmen einige afroamerikanische Juristen. Sie argumentierten, dass die Klassen- eigentlich eine Rassenjustiz sei. Für amerikanische Verhältnisse traf das sicherlich zu – und tut es wohl heute noch.
Die schwarzen Juristen bastelten sich jedoch Thesen zurecht, die teilweise mehr an ein Mantra, denn als Rechtsgrundsätze erinnerten. Der Jurist Derrick Bell formulierte etwa die These, wonach Rassismus ein dauerhaftes Element der US-Gesellschaft sei – er würde ständig Form und Ausdruck verändern, sei aber immer präsent. Auf die Spitze getrieben bedeutet das – und auf die Spitze wurde es längst getrieben –, dass alles, was weiße Menschen tun, nichts weiter als ein Rassismus in neuer Form sei; der Rassismus sei also unaufhörlich. Die Juristin und Bürgerrechtsaktivistin Kimberlé Crenshaw führte den Begriff der berühmt-berüchtigten Intersektionalität ein. Gemeint ist damit die Überschneidung mehrerer Diskriminierungsherde. Neben Rasse seien das beispielsweise das Geschlecht und die Sexualität. Darauf gründend hat die moderne CRT ein Ranking entwickelt, welche Gruppen mehr Anspruch auf Diskriminierungsschutz haben sollte und welche nicht so sehr. Wer schwarz, Frau oder diversgeschlechtlich und homosexuell ist, liegt weit vor Menschen, die zwar schwarz sind, aber ein weißes Elternteil haben, heterosexuell und männlich sind.
Die CRT strebt nicht die Gleichberechtigung an. Das anzunehmen ist einer der größten Irrtümer derer, die in der CRT eine Emanzipationsbewegung wittern, die die Gleichbehandlung als Grundlage haben soll. Die formale Gleichheit wird sogar als Gefahr für die Antidiskriminierung begriffen. Martin Luther King strebte noch eine farbenblinde Gesellschaft an – aber dieser Ansatz, so die Apologeten der CRT, würde Machtungleichheiten verschleiern. Gleichheit darf nicht formal, sie muss substantiell sein: Mittels Quoten ist eine solche Gleichheit durchzuführen. Besser noch: Die Gruppen, die historisch bevorteilt waren, eben weiße Menschen, sollen nun dezidiert Nachteile erfahren.
Vom Akademischen ins Staatliche
Eine weitere sehr zentrale Grundannahme der CRT betrifft die Rolle der Erfahrung. Persönliche Narrative marginalisierter Gruppen gelten als privilegierte Wissensquelle, weil sie angeblich Perspektiven offenlegen, die »dominante Diskurse« ausblenden. Hegemoniale Narrative sollen durch subjektiv erlebte Begebenheiten in Frage gestellt werden. Objektivität gilt demnach – wie eingangs erwähnt – als überholte Praxis, die von Weißen geschaffen wurde, um deren weiße Bevorteilung zu erhalten. Damit verschiebt sich freilich auch der Anspruch wissenschaftlicher Rationalität hin zu einem Relativismus, der mittels subjektiver Erfahrungsberichte forciert wird.
In den späten Neunzigern und dann verstärkt im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts, verließ die CRT dann den akademischen Elfenbeinturm. Nun integrierten Universitäten sie in den Sozialwissenschaften wie den sogenannten Gender Studies. »Nichtregierungsorganisationen« und Behörden griffen die Theorie auf und konzipierten Diversity, Equity und Inclusion für ihren internen – und später auch externen – Gebrauch. Besonders im Zuge der Black Lives Matters-Bewegung wurden CRT-Ansätze popularisiert und den westlichen Gesellschaften übergestülpt. Unternehmen, Ministerien und Bildungsinstitutionen beugten sich der CRT und wuschen sich gewissermaßen, indem sie es aussehen ließen, als hätten sie jetzt endgültig verstanden, wie schrecklich sie bis dahin agiert haben, porentief rein. Aus der Theorie wurde – mit Hilfe philanthropischer Gönner und deren globaler Netzwerke – ein Handlungsrahmen gesponnen, der das Verhalten innerhalb der Gesellschaft unter Bezugnahme auf moralistische Stigmatisierung anordnete.
Dieser Prozess ließ eine paradoxe Situation entstehen: Aus einer Theorie, die ursprünglich Macht analysieren wollte, entstand eine Quelle neuer normativer Macht. Die Parteigänger der CRT implementieren und etablieren neue Sprachregelungen und Verhaltenskodizes. Sie führten Begriffe wie white privilege in den Diskurs ein, die von Anfang an deutlich machen sollen, dass die neue Macht bei denen liegt, die die Theorie durchdrungen haben und sie in ihrem Leben praktisch zum Einsatz bringen. Zugleich sprechen sie von einem strukturellen Rassismus, der unterstreicht, dass die Schuld der »weißen Mehrheitsgesellschaft«, wie sie sie nennen, institutionalisiert ist. Wer Kritik an den »Konzepten« der CRT übt, wird als Rassist deklariert, der die alten schuldhaften Strukturen beibehalten will. Die Theorie wird damit gleichermaßen – unfehlbar.
Eine selbsterklärend unfehlbare Theorie
Die Kritiker der CRT stammen aus unterschiedlichen Lagern: Es sind Liberale, Marxisten und auch ganz klassische Bürgerrechtler, die vereint sind im Vorwurf, wonach diese Theorie die gesellschaftliche Spaltung vertiefe und Rationalität durch Moral ersetze. Wobei sie nicht nur einfach die Spaltung vertieft: Sie ist angelegt zu spalten – denn sie möchte ja unbedingt ein neues Ungleichgewicht verfestigen. Im Sinne sogenannter »historischer Gerechtigkeit«. Dieser Begriff ist kurios, denn Gerechtigkeit ist eigentlich primär gegenwartsbezogen – gegenüber längst verschwundenen Generationen kann man nicht mehr gerecht agieren. Tut man es doch, etwa durch ein neues Wording, ist dies kein Akt, der jenen dient, die damals Ungerechtigkeit erlebten, sondern lediglich eine Handlung, mit der man sich selbst der Tugendhaftigkeit versichern möchte. Die CRT hat empirische Wissenschaft durch ein machtmissbräuchliches System ersetzt.
Zentraler Kritikpunkt ist die Unfalsifizierbarkeit der CRT – die Unfehlbarkeit, denn ihre Aussagen oder Theorien kann nicht durch Beobachtung oder Experimente widerlegt werden. Wer es dennoch versucht, muss mit einer modernen Form des Prangers rechnen, mit der gesellschaftlichen und beruflichen Ächtung. Da die CRT Rassismus als universelles Strukturmerkmal begreift, wird jede Abweichung – etwa das Fehlen sichtbarer Diskriminierung – selbst zum Beweis der These. Im Amerikanischen würde man von einem klassischen Catch-22 sprechen. CRT ist demnach ein Glaubenssystem, in dem Diskriminierung hierarchisiert und Rationalität durch persönliche Erfahrungen ersetzt wird. Wenn also eine schwarze Person aus ihrem Leben erzählt, ist das höher zu hängen als eine dessen Aussagen entgegenstehende Statistik: Denn eine Statistik ist der Versuch, gewisse Phänomene zu objektivieren. Wer aber objektiv sein will, stützt das System des »weißen Teufels«, wie schon in den Sechzigerjahren die Black Muslims zu den Weißen sagten.
Auch politisch ist die CRT problematisch, weil sie den Begriff der Gleichheit umdeutet. Der Liberalismus verstand Gleichheit stets als Gleichheit vor dem Gesetz und der Freiheit, das eigene Leben unabhängig von seiner Herkunft gestalten zu können. Die CRT ersetzt diesen Universalismus durch Kollektividentitäten. Das Individuum wird Teil einer rassischen Gruppe – eigentlich eine Einordnung, die längst als überholt gegolten hat, zumindest in aufgeklärten Kreisen. Farbenblindheit in Bezug auf die Hautfarbe wird als Angriff auf die schwarze Identität umgedeutet. Weißsein ist wiederum keine Hautfarbe, sondern Ausdruck für Dominanz und Macht. Als gäbe es keine Armut bei Menschen mit weißer Hautfarbe, als seien sie alle mit politischer Macht ausgestattet. Weißsein ist eine Hypothek: Denn egal was der Weiße tut, er gilt per se als rassistisch – auch im Moment, da er auf einer Antirassismus-Demo für Gleichheit eintritt, genießt er vermeintlich die Vorteile seines Systems, das ihn rassisch bevorzugt. Oder um es mit einem Zitat von Angela Davis zu sagen, das der Pressesprecher der NGO »Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland« teilte: »Weiße Menschen, niemand verlangt von euch, dass ihr euch für eure Vorfahren entschuldigt, wir verlangen von euch, dass ihr das System, das sie aufgebaut haben, niederreißt und demontiert.«
Ein Antirassismus als neuer struktureller Rassismus
Die Übernahme CRT-basierter Konzepte in diversen Einrichtungen hat Konsequenzen: Es bringt den Rassismus zurück in den Alltag. So haben Trainings, die unbewusste Vorurteile aufdecken sollen, selbst diskriminierende Effekte, indem sie Individuen nach ethnischer Gruppenzugehörigkeit beurteilen. Öffentliche Verwaltungen, die eigentlich Neutralität und Rechtsgleichheit wahren sollen, laufen Gefahr auf diese Weise nicht nur einfach ideologisch, sondern gar rassistisch aufgeladen zu werden. Hinzu kommt: Wenn Verwaltungssprache, Einstellungsverfahren oder Projektförderungen auf sogenannte »antirassistische Sensibilisierung« ausgerichtet werden, verschiebt sich der Fokus von Leistung, Qualifikation und Kompetenz hin zu Identität und Haltung. Brutal ausgedrückt: Nur wer bereit ist, den Neorassismus zu adaptieren und ihn im Alltag auszuleben, hat auch Chancen in Betrieben mit CRT-Kultur.
In regierungsfinanzierten Nichtregierungsorganisationen und internationalen Organisationen wird zunehmend verlangt, Projekte entlang »dekolonialer« und »antirassistischer« Kriterien zu gestalten. Diese auf CRT gegründete administrative Praxis führt dazu, dass politische und empirische Diskussionen moralisch aufgeladen werden und so in Totalität verwässern. Der Anspruch auf Objektivität wird zum Verdachtsfall für Meldestellen, empirische Daten gelten als »weiße Wissenschaft«, Mathematik als »weißes Konzept«. Die Folge ist eine intellektuelle Verwahrlosung, die Kritik delegitimiert und jede Form von Selbstreflexion als schweren Frevel interpretiert. Der CRT-Rassismus schafft weiße Rassisten, denn es sich weiße Menschen, die sich im Zuge der Reaktanz auf ihre Hautfarbe zurückgeworfen fühlen. Das wirft man ihnen zwar dann vor, ist aber eigentlich die ethnische Auffassung, die die CRT begünstigt.
Die CRT versteht sich als moralische Finalität – man könnte auch sagen, sie hat Moral zu einer Waffe umfunktioniert, die diese Theorie in höchstem Maße kriegstüchtig macht. CRT will nicht einfach Missstände erklären, sondern als moralische Instanz über der Gesellschaft wachen: Sie agiert mit Schuldbekenntnissen, die noch nicht mal akzeptiert werden, und mit Läuterung, die nie enden darf. Der weiße Mensch bleibt privilegiert, auch wenn er in der Gosse landet. In dieser Form nützt diese Theorie nicht dem vermeintlichen Anliegen, Rassismus zu beenden – noch ist sie ein Beitrag zur Demokratieförderung. Im Gegenteil, sie wurde früh von zweifelhaften Egomanen gekapert, um einen kuscheligen Gutmenschenrassismus zu etablieren, der dazu geeignet ist, die letzten Bande gesellschaftlichen Gemeinsinns zu untergraben. Die CRT hat sich Strukturen geschaffen, die es in der Tat erlauben, den Vertretern der CRT guten Gewissens strukturellen Rassismus zu unterstellen.

Roberto J. De Lapuente, Jahrgang 1978, ist gelernter Industriemechaniker und betrieb acht Jahre lang den Blog »ad sinistram«. Von 2017 bis 2024 war er Mitherausgeber des Blogs »neulandrebellen«. Er war Kolumnist beim »Neuen Deutschland« und schrieb regelmäßig für »Makroskop«. Seit 2022 ist er Redakteur bei »Overton Magazin«. De Lapuente hat eine erwachsene Tochter und wohnt in Frankfurt am Main.
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