„Seitenwechsel“: Zwischen Antifa, Fürstin und Kaffeefahrt gerät der Autor in eine Mischung aus politischer Aufgeregtheit und alter Buchmesse-Routine.
Ein Beitrag von Martin Sell

„Reden Sie, mit wem Sie wollen …“, lese ich in dem Buch. Ich stehe auf dem Bahnsteig in Halle (Saale) und warte auf den Zug. Leider war ich ein paar Minuten zu spät gekommen, weil mein Rucksack nicht gefunden werden konnte – aber dazu später mehr. Der Zug war weg, der Bahnsteig leer. Zum Glück hatte ich gerade erst ein Buch erworben, also begann ich zu lesen. „Lieber unerhört als ungehört“ von Gloria von Thurn und Taxis. Während ich also in die Lektüre vertieft bin und der Novemberkälte trotze, bemerke ich nicht, wie ich umringt werde. Zuerst erblicke ich Mädchenaugen, eine schwarze Kapuze und einen Schal vor Mund und Nase. Die Augen versuchen, den Titel des Buches zu erhaschen. Ich klappe das Buch zu und sehe mich von der Antifa umringt. Bei meiner Ankunft standen hier noch Polizisten. Hilfesuchend blicke ich mich um. Niemand weit und breit, der mich schützen könnte. Ich bin allein. „Verpiss dich, Fascho!“, höre ich. Oh, ha! Das kann ja lustig werden. Ich halte der jungen Frau das Buchcover entgegen und frage, ob sie die Fürstin kenne. Sie liest den Klappentext – immerhin. Beim Wort „Punk“ stutzt sie kurz, ihre Selbstsicherheit ist etwas dahin. Punk: gut, Rechts: böse. Wie soll sie mich jetzt einordnen?
Meine Versuche, ein Gespräch zu beginnen, scheitern am Wortführer – Typ „Besserwisser“, vermutlich früher Klassensprecher, heute Student oder NGO-Mitarbeiter. Er erklärt mir, wo ich da eben war: auf einem Treffen von Faschisten, von sogenannten Neurechten, die eine Diktatur in Deutschland planen. Schön, denke ich, den Rassisten und Antisemiten wirft man mir hier nicht vor. Ich erkläre ihm meinen ehrlichen Grund für den Besuch der Messe und meine lange Anreise aus München. Woher sie kommen, frage ich. Sie wollen aber weder etwas von sich preisgeben noch meine Sichtweise hören oder gar verstehen. Das Prinzip ist klar: Hass und Spaltung!
Mauerfall und Reichskristallnacht
Das Datum war mir von Anfang an unangenehm. Und so musste ich an diesem 9. November 2025 in den neuen Bundesländern eine jugendliche, fanatische Schlägertruppe erleben, die eben nicht an die Wiedervereinigung und die Überwindung der Mauer, des sogenannten Antifaschistischen Schutzwalls, erinnerte, sondern den Graben mit ihren schwarzen Stiefeln noch vertiefen wollte. Lasst sie trampeln, könnte man denken. Aber diese jungen Menschen sind unsere Zukunft! Auf der anderen Seite, und das ist vielleicht die noch bitterere Pille, sitzen überwiegend Rentner, die sich für ihr Unangepasstsein feiern. Während ich auf dem Bahnsteig der Alte bin, fühle ich mich in der Messehalle jung. Bin ich hier rechts, so dort zu links, dabei bin ich doch eigentlich genau in der Mitte. Was ist falsch an der Mitte?
In der Mitte lässt sich kein Geld verdienen – oder zumindest nicht so einfach. Und damit kommen wir zur Kaffeefahrt. Wir leben in einer Aufmerksamkeitsökonomie, und da braucht es den lauten Knall oder die kostenlose Busfahrt ins Grüne samt Schwarzwälder Kirschtorte, um den Rentnern die überteuerten Heizdecken zu verkaufen. Den an der Messe beteiligten Firmen geht es nicht um eine funktionierende Gesellschaft, eine lebendige Demokratie oder echtes Verstehen – nein, die Feindbilder stärken beide Seiten: Schlägertruppe wie Fangemeinde. Gut fürs Geschäft. Eine Messe ist und bleibt eben eine Werbeveranstaltung. Doch entsteht so wirklich etwas Neues?
Angelus mit Gloria und Frau Dagen singt
Aber der Reihe nach. Ich kam um 9:55 Uhr mit dem Zug an der Haltestelle Messe an und stieg mit einigen anderen zusammen aus. Schon auf dem Bahnsteig überraschte das Polizeiaufgebot – bestimmt eine Hundertschaft. Der ganze Weg zur Messe war gesäumt von Einsatzwagen. Eine Zufahrtsstraße zur Messe war gesperrt worden, dort hatte sich eine kleine Gruppe Gegendemonstranten positioniert. Auffällig viele Fotografen standen hinter Absperrungen, bewacht von Polizisten, und lichteten mit langen Linsen die Messebesucher ab. So viel Aufmerksamkeit!
Wir reihten uns in eine lange Schlange vor der Messehalle und warteten auf Einlass. Die Stimmung war gut und friedlich, allerdings wurde unsere Geduld auf eine lange Probe gestellt. Am Eingang sprach sich herum, dass Jacken, Mäntel, Taschen und Rucksäcke abgegeben werden mussten. Ohne Garderobe kein Zutritt. Die meisten nahmen es mit Humor. Schließlich gelangte auch ich hinein und verschaffte mir einen ersten Überblick. Was soll ich sagen? Was hatte ich erwartet? Es sah nicht anders aus als in Frankfurt oder Leipzig, nur kleiner und somit schon sympathischer. Die ewig gleichen Messestände. Das sich an ihnen vorbeischiebende Publikum. Der Lärm, die Luft, die Bühne.

Ein Programmpunkt nebst Buchvorstellung und Signierstunde sei kurz erwähnt. Um 12 Uhr sprach Alexander Kissler mit der Fürstin Gloria von Thurn und Taxis über ihr Buch „Lieber unerhört als ungehört“. In welche gefährliche Situation mich dieser spontane Kauf gebracht hat, habe ich anfangs bereits geschrieben. An dieser Stelle sei ein ausdrückliches Lob an die Veranstalter erlaubt, die nicht nur diese höchst „umstrittene“ Messe auf die Beine gestellt, sondern noch dazu ein sehr interessantes Rahmenprogramm auf die Bühne gebracht hatten. Organisatorin Susanne Dagen wurde deshalb von allen Teilnehmern für ihren Mut gefeiert – es fühlte sich teilweise tatsächlich wie eine Familienfeier an, zu der Tante Susanne geladen hatte.

Bild: Susanne Dagen im apolut-Messebericht
Am Abend dann der große Auftritt von Roland Tichy und Wolfgang Herles, nebst aus der Mottenkiste geholtem blauen Sofa. Eine Neuheit gab es dann doch: Susanne Dagen stimmte das Lied „Die Gedanken sind frei!“ an und rund tausend Besucher sangen aus Leibeskräften mit. Später auch noch „Kein schöner Land“. Da man gehen soll, wenn es am schönsten ist, machte ich mich kurz vor Schluss auf den Weg zur Garderobe. Leider waren die meisten Mitarbeiter schon im Feierabend. Das Wiederfinden meines Rucksacks geriet zur nervenaufreibenden Geduldsprobe.
Weniger Kommerz und mehr Woodstock, bitte!
Damit dieser Artikel nicht bleibt, was er selbst kritisiert (das immerwährende Gejammer, dass etwas bislang nicht gut genug ist oder irgendetwas schon mal besser war), versuche ich, die Kurve zu kratzen und gleichzeitig eine Hand meinen neuen Freunden von der Antifa hinzustrecken. Wie können wir uns wieder auf das Gemeinsame besinnen und uns nicht gegenseitig in den Dreck treten? Wie können wir uns gegenseitig verstehen wollen und zusammen Lösungen für die Probleme in unserem Land finden? Zwei spontane Ideen dazu, die gerne ergänzt, verworfen und weitergedacht werden dürfen. Ich freue mich über Zuspruch und Ablehnung.
1.) Verlagsangebot: Als Verleger vergebe ich einen Autorenvertrag inklusive professionellem Lektorat und Buchproduktion für einen U40-Autor aus dem linken Spektrum, der sich die Mühe macht, eine konstruktive Antwort auf die drängenden Fragen der sogenannten Neuen Rechten zu geben. Das Manuskript sollte zum 30. April eingereicht werden und wir präsentieren das Buch auf der nächsten Messe „Seitenwechsel“ in Halle 2026.
2.) Neues Messekonzept: Meiner Meinung nach ist das Konzept Messe veraltet, wir brauchen mehr Punk und Woodstock. Die jungen Leute sollen Spaß am Lesen und anschließenden Diskutieren haben. Da dürfen dann auch ein paar Rentner mit am Lagerfeuer sitzen, aber bitte keine Kaffeefahrten mehr. Ich biete mich als Veranstalter an oder als Garderobier. Gesucht wird eine große Wiese in der Mitte Deutschlands im Juli/August 2027. Keine teuren Hotelzimmer oder Messestände, sondern einfache Zelte, viele Bücher und Musik. Ich feiere meinen 50. Geburtstag, mein Verlag existiert hoffentlich noch und die Antifa schuhplattelt dazu.
Zwei Seiten derselben Medaille
In einem Beitrag von apolut über die Buchmesse „Seitenwechsel“ wird ein wesentlicher Punkt meiner Kritik anschaulich erklärt. Jedes Buch besteht aus linken und rechten Seiten. Wir beginnen meist links mit dem Lesen und blättern dann nach rechts weiter. Kein Buch besteht nur aus rechts bedruckten Seiten – auch nicht auf der angeblich „rechtsextremen Messe“. Genauso schauen wir im Verkehr erst nach links und rechts, bevor wir die Straße überqueren. Viele Messebesucher verstehen den Begriff „Seitenwechsel“ genau in diesem Sinne: als Einladung, den Blick zu weiten.

Umso enttäuschter bin ich von der Wochenzeitung Die ZEIT, die in ihrem Artikel über die Messe bewusst nur ganz einseitig über die rechten Verlage berichtet. Dadurch wird die Aufmerksamkeit des (linken) Mainstreams gerade auf diese doch eher kleine Gruppe gelenkt. Andererseits findet bei (linken) alternativen Medien genau das Gleiche statt – nur mit umgekehrten Vorzeichen. Im apolut-Beitrag werden die rechten Verlage schlicht ausgeklammert.
Gabor Steingart schreibt im The Pioneer Briefing über die Rezension seines neuen Buches:
„Stern-Chefredakteur Gregor Peter Schmitz […] zeigt in seiner Zeitschrift, dass man auch bei einem Millionenpublikum nicht auf Vereinfachung oder gar Simplifizierung setzen muss. Rede und Gegenrede, These und Antithese: So funktioniert Debatte. So funktioniert Demokratie. Dafür danke ich dem Stern.“
Genau diese Debattenkultur und dieses Demokratieverständnis wünsche ich mir auch für eine zukünftige Messe „Seitenwechsel“. Es wird nicht reichen, eine Alternative für sich zu proklamieren und gleichzeitig das System, das man kritisiert, nur zu spiegeln. Die Messestände sind für einen kleinen, unabhängigen Verlag schlicht zu teuer. Die Bühne wird von Menschen dominiert, die über genügend Geld, Popularität und damit Einfluss verfügen – oder stark polarisieren. Stichwort: Spiegel-Bestseller, Punk-Prinzessin und „hirnlose Wichsvorlage“. Ein neues Gesellschaftsbild und damit eine wirklich andere Seite der Medaille kommen so nicht zum Vorschein.
Dringende Alternativen zu unserem bestehenden Schulsystem und den Bildungseinrichtungen, zur Wirtschaft, die sich über Wachstum und Ausbeutung definiert, und ganz besonders zu unserem Geldsystem – etwa die Ideen von Silvio Gesell für eine natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld ohne Zins – gehen im Rummel leider unter.
Quelle: https://www.freie-medienakademie.de/medien-plus/buchmesse-mit-weitblick
Als Quereinsteiger hat Martin Sell den massel Verlag 2019 gegründet und das Programm seitdem kontinuierlich ausgebaut. Neben Kinderbüchern und Belletristik gehören Sachbücher zu gesellschaftsrelevanten Themen zum Programm, zum Beispiel „Vereinnahmte Wissenschaft – Die Corona-Protokolle des Robert-Koch-Instituts“ von Bastian Barucker.
Disclaimer: Berlin 24/7 bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion Berlin 24/7 widerspiegeln. Wir bemühen uns, unterschiedliche Sichtweisen von verschiedenen Autoren – auch zu den gleichen oder ähnlichen Themen – abzubilden, um weitere Betrachtungsweisen darzustellen oder zu eröffnen.






