Mehr Abfall wagen

Die Sozialdemokratie ist im Aufwind: Kein Wunder, hat sie doch ihre sozialpolitische Stärke wiederentdeckt – und möchte nun das Wühlen nach Lebensmitteln im Müll für jedermann legalisieren.

Ein Beitrag von Roberto J. De Lapuente

Hamburger Fischmarkt, Abfall
MailtosapCC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

Sage bitte keiner mehr, dass die SPD keine soziale Partei sei – ja doch, vielleicht hat sie wirklich manchmal wenig Taktgefühl im Umgang mit Menschen gezeigt, denen es im Leben nicht so gut geht, die für wenig Geld buckeln müssen und Schwierigkeiten haben, über die Runden zu kommen. Aber wenn es drauf ankommt, dann ist die Sozialdemokratie auf Seiten der Mittellosen, der Hungerleider und Habenichtse. So wie jetzt ganz aktuell: Die SPD zeigt Herz und Haltung und will den Zugang zu kostenlosen Lebensmitteln erleichtern.

Denn wir leben – das ist bekannt! – in großen Zeiten. Deutschland wird wieder wer, schlägt sich selbstbewusst auf die Brust: Kriegstüchtig war gestern – jetzt sind wir sogar kriegsbereit. Und bald schon kriegswillig? Oder kriegsselig? Vielen Leuten geht es trotz dieser glorreichen Tage schlecht, sie darben – und das, obgleich es ausgesprochen viel zu essen gibt in unserer Gesellschaft. Vieles davon liegt in Müllcontainern – fern vom Zugriff derer, die es gebrauchen könnten. Daher steht für die SPD fest: Containern soll legal werden! Denn das ist auch nachhaltig, klimaschonend, ja ein Beitrag zu einer besseren Welt.

Container sind für alle da

Den Vorschlag haben FDP und Grüne schon während der Scholz-Regierung zur Debatte gebracht. Die SPD hielt sich damals heraus, es schien seinerzeit so, als sei der Zugang zum Müllcontainer nicht ihr Anliegen. Die anderen beiden Parteien sprachen sich ganz klar dafür aus, dass man in Würde wühlen dürfen sollte. Rückblickend betrachtet war dies der einzige sozialpolitische Impuls jener grauen Zeit, die uns allerdings als lustiges Ampelfarbenspiel in Erinnerung bleiben wird. Während sich das Leben aus mannigfaltigen Gründen für die Bürger verteuerte, die Armut wuchs, die ersten Rentner in deutschen Fußgängerzonen ihr Pfandflaschenmartyrium um klassische Bettelei anreicherten, sinnierte man in Berlin über den Zugang zum Müll der Anderen – der Supermärkte und Discounter, genauer gesagt.

Großes Problem damals wie heute: Die stehen auf Privatgelände – und wer möchte, dass das, was weggeschmissen werden soll, frei zugänglich ist für die Müden, die Armen, die geknechteten Massen, der muss entweder den Hausfriedensbruch aussetzen – oder die Händler dazu verdonnern, ihren Müll so auszustellen, dass jedermann ohne Gesetzesbruch an das Wegzuschmeißende gelangen kann.

10,8 Millionen Tonnen Lebensmittel werden jährlich in Deutschland entsorgt. Die meisten Abfälle entstehen in den Privathaushalten – lediglich sieben Prozent fallen im Handel an. Da sind immerhin um die 756.000 Tonnen, die man gratis an diejenigen verteilen könnte, die es schwer haben über die Runden zu kommen. So leistet man also einen wertvollen – eigentlich aber nur: kleinen – Beitrag gegen die um sich greifende Armut und zeigt sich synchron dazu der Nachhaltigkeit verpflichtet: Win-win-Situation nennen Krämerseelen im Duktus amerikanisierter Businessbeschulung einen solchen Umstand gemeinhin. Das, was für die bezahlende Kunden nicht mehr gut genug ist, wofür sie kein Geld mehr ausgeben würden, was sie also als Müll betrachten, ist für die, die nichts haben, die milde Gabe eines Staates, der sich laut Grundgesetz auch als ein »sozialer Bundesstaat« verstehen muss.

Nicht mehr zeitgemäß?

Verräterisch sind die Erklärungen, die der zweite SPD-Fraktionssprecher Ezra-Leon Limbacher der Presse an die Hand gibt: Die Kriminalisierung des sogenannten Containerns sei nicht mehr zeitgemäß, lässt er sich zitieren. Daher müsse man jetzt mit einer Legalisierung reagieren. Politik soll gemeinhin gestalten. Diese Aufgabe bedeutet auch, dass man die Zeiten formen kann – wenn man es denn möchte. Selbstverständlich kann man sie auch hinnehmen und sich nach den Zeitenläuften ausrichten, ihnen geradezu hinterherhecheln. Kurz gesagt: Entweder regiert man – oder man reagiert. Letzteres ist weniger politisches Gestalten als bürokratisches Verwalten. Limbacher macht recht deutlich, wie die SPD-Fraktion als Teil der Bundesregierung ihren Regierungsauftrag auslegt: Anpassung an die Zeiten.

Man stelle sich vor, es gab mal eine Sozialdemokratie, die für heutige Zustände etwas atemberaubend Verwegenes anpackte: Sie wollte regieren – gestalten! Die Verhältnisse zu ändern, die Leben der Menschen zu verbessern, Reformen für die Bürger anzupacken und damit die Zeit zu prägen: Die heutigen Genossen sind meilenweit davon entfernt. Sie schielen auf die Zustände, auf die Zeiten und zucken mit den Achseln, als könnten sie gar nicht dagegen tun, außer mit ein bisschen Pragmatismus aufzuwarten. Warum soll es nicht mehr zeitgemäß sein, aus den Containern der Anderen verfallene Lebensmittel zu holen? Man könnte die Frage anders stellen und damit der vermeintlichen »Ohnmacht gegenüber der Zeit« ein Schnippchen schlagen: Warum erklären die Sozialdemokraten nicht, dass es nicht mehr zeitgemäß sein sollte, dass Menschen auf solche Lebensmittel angewiesen sind? Letzteres bedeutete schließlich aber auch, die Verhältnisse zu ändern, eine neue Agenda auszuformulieren: Die Agenda 2030, die sich an vielen Ecken und Enden neu ausrichten müsste. Und zwar innen- wie außenpolitisch.

Nicht mehr zeitgemäß: Das birgt den puren Fatalismus dieser politischen Generation. Immer gibt es höhere Mächte, die das Regieren unmöglich machen. Mal sind es die Märkte, dann Inzidenzen – jetzt eben die Zeiten, die so seien, wie sie seien. Unabwendbar. Nicht formbar – die Verhältnisse sind also starr und unabänderlich, man muss sie akzeptieren. Als hätte diese Berliner Republik rein gar nichts mit diesen Verhältnisse, mit diesen zum Himmel schreienden Missständen zu tun. Lieber simuliert man Fürsorge und erklärt, was man tun kann: Müll leichter zugänglich machen. Bei Konzernen rollt der Rubel – darf man das noch so sagen? Der Reichtum der Wenigen wächst, während diese Bundesregierung, zu der ebenjene SPD gehört, den Sozialstaat schrittweise ausmerzen möchte – weil, Achtung!, wieder höhere Umstände: diesmal ein ganz ordinärer Sachzwang – und was zeigt uns die SPD-Fraktion, diese Truppe, die vorgibt für die kleinen Leute einzustehen, als Alternative auf? Bedient euch an den Abfällen!

Das kann man doch noch essen!

Natürlich wird jetzt der eine oder andere einhaken und sagen: »Moment mal! Das kann man alles doch noch essen!« Und ja, das stimmt. Kann man tatsächlich. Mindesthaltbarkeit ist eben genau das: Mindesthaltbarkeit. Aber das ist nicht der Punkt – denn was wir als Abfall betrachten und was nicht, ist kein Naturgesetz, sondern ein gesellschaftliches Konzept. Und es wird normalerweise von allen akzeptiert, denn im Regelfall gibt niemand Geld für ein Produkt aus, dass diese Haltbarkeitsgrenze überschritten hat – auch wenn man an sich weiß, dass man das mit hoher Wahrscheinlichkeit noch essen kann. Dennoch konsumiert so gut wie jeder die Ware, die noch im Bereich der Mindesthaltbarkeit liegt – anders formuliert: Was darüber hinaus ist, kann in der Realität noch genießbar sein, dennoch unterliegt man der gesellschaftlichen Konvention, überschrittene Ware als Abfall zu betrachten.

Auf die Essbarkeit jener Ware zu verweisen, die nach Ablauf im Container landet, mag zwar in der Sache richtig sein, aber ist nicht zielführend. Die eigentliche Frage ist die der Wertschätzung – im Grunde haben wir es mit Ethik zu tun, genauer mit der Frage: Wie gehen wir in dieser Gesellschaft mit denen um, die wenig oder nichts haben? Ist es anständig und wertschätzend, den für die Gesellschaft erklärten Abfall an ausgewählte Bevölkerungsgruppen zu verteilen? Könnte man diese Ware nicht etwa auch heranziehen, um Staatsempfänge damit zu versorgen? Warum muss der Abfall der Anderen, der angeblich noch gut, noch essbar sei, das »Vorrecht« der Armen sein? Das wären übrigens auch zeitgemäße Fragen und ein zeitgemäßer Umgang mit der Problematik wachsender Armut im Lande.

Aber da das Zeitgemäße heute eher Munition bei sich trägt und weniger auf die vermeintliche Unantastbarkeit der Würde des Menschen schielt, muss natürlich eine möglichst billige Lösung her, um die eigene sozialpolitische Kontur betonen zu können. Am Ende steigen freilich ohnehin nicht die in den Container, die eine milde Gabe notwendig hätten – es werden bärtige Hipster mit nicht minder bebarteten Hipsteretten sein, die ein vorbildlich nachhaltiges Leben präsentieren wollen. Anders gesagt: Ohne Seniorenlift an den Containern im Hinterhof der Supermärkte, haben wir es wieder mal mit Reformabsichten zu tun, die denen zugutekommen, die es weit weniger nötig hätten. Tröstlich ist eigentlich nur, dass eine solche Legalisierung es hernach leichter macht, doch noch eine kleine Chance auf Nahrung zu erhalten, wenn der Hunger mitten im Krieg aufkommt und die Menschen auf Hamsterfahrten gehen.

Roberto De Lapuente

Roberto J. De Lapuente, Jahrgang 1978, ist gelernter Industriemechaniker und betrieb acht Jahre lang den Blog »ad sinistram«. Von 2017 bis 2024 war er Mitherausgeber des Blogs »neulandrebellen«. Er war Kolumnist beim »Neuen Deutschland« und schrieb regelmäßig für »Makroskop«. Seit 2022 ist er Redakteur bei »Overton Magazin«. De Lapuente hat eine erwachsene Tochter und wohnt in Frankfurt am Main.
Mehr Beiträge von Roberto De Lapuente →

Disclaimer: Berlin 24/7 bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion Berlin 24/7 widerspiegeln. Wir bemühen uns, unterschiedliche Sichtweisen von verschiedenen Autoren – auch zu den gleichen oder ähnlichen Themen – abzubilden, um weitere Betrachtungsweisen darzustellen oder zu eröffnen.

Related Posts

Beginn der Medienvielfalt – Kommt endlich die „Ostdeutsche Allgemeine“? 

Holger Friedrich will die Berliner Zeitung in den Osten bringen. Mit KI und möglicherweise gedruckt. Auf jeden Fall aber zwischen allen Stühlen. Ein Beitrag von Helge Buttkereit Foto: Arild Vågen,…

Unser allerbester Hochschulbetrieb

Trump will Fördermittel nur noch für Linientreue an amerikanischen Universitäten zulassen. Unglaublich, was sich der erlaubt! Ob er sich das von Deutschland abgeguckt hat? Ein Beitrag von Roberto J. De…

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

You Missed

Beginn der Medienvielfalt – Kommt endlich die „Ostdeutsche Allgemeine“? 

  • Oktober 13, 2025
  • 4 views
Beginn der Medienvielfalt – Kommt endlich die „Ostdeutsche Allgemeine“? 

Unser allerbester Hochschulbetrieb

  • Oktober 13, 2025
  • 7 views
Unser allerbester Hochschulbetrieb

Iran gegen USA/Israel

  • Oktober 13, 2025
  • 6 views
Iran gegen USA/Israel

Wie die USA die Linke in Europa umgestalteten: Eine Kulturstrategie des Kalten Krieges

  • Oktober 12, 2025
  • 8 views

Mehr Abfall wagen

  • Oktober 12, 2025
  • 8 views

Denken, glauben oder Nichtdenken, das ist hier die Frage

  • Oktober 12, 2025
  • 7 views
Denken, glauben oder Nichtdenken, das ist hier die Frage