Am 1. September gedenken wir des Zweiten Weltkrieges vor 85 Jahren, der mit dem Angriff Nazi-Deutschlands auf Polen begann. Er entwickelte sich zum grausamsten und blutigsten Krieg der modernen Geschichte, der um die 75 Millionen Menschen das Leben kostete – verbunden mit unermesslichem Leiden und unvorstellbarer Zerstörungen.
Ein Artikel von Michael von der Schulenburg und Ruth Firmenich.
Wie schon der Erste Weltkrieg, ging auch dieser Krieg vom europäischen Boden aus und erfasste nach und nach die ganze Welt. Man sollte hoffen, dass wir Europäer – und eben wir Deutsche insbesondere – aus einer daraus erwachsenen Verantwortung eine strikte Friedenspolitik im Sinne der nach den beiden Weltkriegen entstandenen UN-Charta verfolgen würden. Dem ist aber leider nicht so!
In der Ukraine herrscht nun wieder ein Krieg auf europäischem Boden. Es ist der weitaus größte und gefährlichste Krieg seit den beiden Weltkriegen, und auch er birgt das Risiko, sich zu einem Weltkrieg ausweiten zu können – dieses Mal gar zu einem Nuklearkrieg. Die Folgen für die Menschheit könnten so noch verheerender werden. Und dennoch setzt die EU weiterhin ausschließlich auf eine militärische “Lösung“ des Ukraine Krieges und nimmt alle damit entstehenden Gefahren für uns Europäer und die gesamte Menschheit billigend in Kauf und stößt damit international auf immer mehr Ablehnung.
Eine im Juli dieses Jahres im EU-Parlament mit großer Mehrheit angenommene Resolution „zur Unterstützung der Ukraine“ legt eine kompromisslose Ausrichtung der EU auf eine Weiterführung des Krieges fest. In Zügen liest sich diese Resolution gar wie ein Aufruf zu einem „totalen Krieg“. Im Hinblick auf die sich verschlechternde militärische Lage sollen auch hier noch einmal alle Ressourcen mobilisiert werden, um dennoch einen militärischen Sieg der Ukraine über Russland zu ermöglichen.
So wird in dieser Resolution von allen EU-Mitgliedstaaten eine „unerschütterliche“ Unterstützung der Ukraine bis zum Sieg über Russland verlangt. Dementsprechend werden alle EU- und NATO-Staaten aufgefordert, 0,25% ihres jeweiligen BIP der Ukraine für militärische Zwecke zur Verfügung zu stellen. Laut einer Kalkulation der konservativen EPP-Fraktion würde sich das jährlich auf 127 Milliarden Euro summieren – was mehr als das Doppelte des diesjährigen Verteidigungshaushalts Deutschlands wäre und bisherige militärische Unterstützungen weit übertreffen würde. Der Einsatz der zur Verfügung gestellten westlichen Waffen gegen militärische Ziele im Hoheitsgebiet Russlands wird ausdrücklich befürwortet und eine baldige NATO-Mitgliedschaft der Ukraine als „unumkehrbar“ bezeichnet. Weiterhin wird die Errichtung eines internationalen Sondergerichts für russische Kriegsverbrechen sowie die Einziehung aller eingefrorenen russischen Vermögenswerte zugunsten der Ukraine gefordert.
Hingegen gibt es in der dreieinhalbseitigen Resolution keinen einzigen Hinweis auf Verhandlungen oder andere diplomatische Bemühungen. Gespräche könne es erst dann geben, wenn Russland kapituliert und sich aus allen besetzten Gebieten zurückzieht. In diesem Zusammenhang werden die Bemühungen des ungarischen Ministerpräsidenten Orbán, Gespräche zwischen der Ukraine und Russland zu initiieren, in der Resolution auf das Schärfste kritisiert.
Bereits im Juni hatte der Europäische Rat die ehemalige estnische Ministerpräsidentin Kaja Kallas für das Amt der Hohen Vertreterin der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik nominiert. Damit vertraut die EU dieses wichtige Amt einer der streitbarsten Anti-Russland Politikerinnen an. Noch vor kurzen meinte sie, dass eine Zerschlagung Russlands in mehrere kleine Staaten „keine schlechte Sache sei“ und forderte, sich bei der Unterstützung der Ukraine nicht von russischen Nuklearwaffen einschüchtern zu lassen. Sie soll nun diese in der Resolution geforderten Kriegsziele außenpolitisch durchsetzen. Nur, kann sich die EU eine solche Politik überhaupt leisten oder erliegt sie hier nicht einer gefährlichen Selbstüberschätzung?
Das Problem der Ukraine-Resolution ist, dass die EU weder die Macht noch den Einfluss hat, auch nur eines der darin enthaltenen Ziele durchsetzen zu können. Denn dieser Aufruf zu einer kompromisslosen Weiterführung und Intensivierung des Krieges bis zu einem militärischen Sieg über Russland kommt in einer Zeit, in der die Ukraine gar nicht mehr in der Lage ist, diesen Krieg zu gewinnen. Politische Analysten in den USA warnen bereits seit geraumer Zeit davor, dass die Ukraine bei einer Weiterführung des Krieges militärisch und politisch kollabieren könnte. Diese Resolution leidet somit grundsätzlich an einem Realitätsverlust. Politik ist immer noch die Kunst des Machbaren und das sollte eben auch für die EU gelten.
Um dennoch eine Wende zu erreichen, müssten die EU und ihre Mitgliedsländer militärisch massiv in den Ukraine-Krieg eingreifen. Dazu haben sie aber weder die militärischen Ressourcen noch einen dazu nötigen geeinten politischen Willen. Wenn überhaupt, könnte das nur durch eine enge militärische Zusammenarbeit Frankreichs und Deutschlands erreicht werden. Nur bestehen bereits erhebliche politische Differenzen zwischen den beiden Ländern und ein derart riskantes militärisches deutsch-französisches Unternehmen in direkter Konfrontation mit der Atommacht Russland scheint deshalb glücklicherweise völlig ausgeschlossen. Natürlich sind beide Länder in der Lage, den Ukraine-Krieg durch die Lieferung von Taurus-Raketen oder die Entsendung der Fremdenlegion mächtig zu eskalieren. Aber damit würden sie der Ukraine nicht zu einem Sieg verhelfen, sondern nur riskieren, dass ganz Europa in einer nuklearen Gegenreaktion vernichtet wird. Es gibt so keine machbare militärische Option der Europäer.
Auch würde ein solches militärisches Vorgehen nicht von der europäischen Bevölkerung mitgetragen werden. Denn während sich das Europäische Parlament gerade einer Pro-Kriegspolitik verschrieben hat, verschieben sich die öffentlichen Meinungen in allen europäischen Staaten gegen weitere Waffenlieferungen und für Verhandlungslösungen.
Selbst in der Ukraine hat sich eine Kriegsmüdigkeit breit gemacht und es gibt Berichte von immer mehr ukrainischen Deserteuren. Auch gibt es Warnungen westlicher Diplomaten, dass weitere 10 Millionen Ukrainer davorstehen könnten, das Land zu verlassen. Im Zuge dieses Krieges entvölkert sich die Ukraine drastisch, wobei mehrheitlich nur noch alte und verarmte Menschen zurückbleiben würden. So ist aber kein Krieg mehr zu gewinnen – auch nicht mit den geforderten jährlichen 127 Milliarden Euro an Militärhilfen.
Des Weiteren gibt es Hinweise von ukrainischen Politikern und sogar von Präsident Selenskyj, dass dieser Krieg nicht mehr lange durchgehalten werden kann und es eine Verhandlungslösung geben müsse. Daran wird die medienwirksame Attacke ukrainischer Militäreinheiten auf russisches Territorium vor einigen Tagen auch nichts mehr ändern.
Was will also die EU noch mit einer solchen Kriegs-Resolution erreichen?
Mit der Ukraine Resolution und der Nominierung von Kallas zur EU-Außenbeauftragten scheint die Europäische Union nun die USA als die dominierende Pro-Kriegspartei im Ukraine-Krieg abzulösen. Nur wird sich die EU damit außenpolitisch weiter isolieren. Denn in der Welt stehen die Zeichen anders.
Die USA hatten schon unter Präsident Biden begonnen, sich aus dem Ukraine-Krieg zurückzuziehen und die Verantwortung dafür zunehmend auf uns Europäer abzuschieben. Die Entscheidungen beim NATO-Gipfel in Washington und das neu eingerichtete Koordinationszentrum für die militärische Unterstützung der Ukraine in Wiesbaden sind dafür Anzeichen (wie auch die geplante Stationierung von Mittelstreckenraketen in Deutschland). Sollten im November Trump-Vance die US-Präsidentschaftswahlen gewinnen, wissen wir schon, dass sie, über die Köpfe der Europäer hinweg, sich mit Putin verständigen würden, um diesen Krieg zu beenden. Aber auch eine Harris-Walz-Präsidentschaft wird sich zunehmend internen Problemen widmen und weniger Interesse an einer Fortführung des Ukraine Krieges haben, auch um sich stärker auf die Konfliktregion im Nahen Osten und die Auseinandersetzung mit China konzentrieren zu können. Vor allem werden die USA versuchen, die enormen Kosten dieses Krieges – und der Frieden könnte noch teurer werden – auf Europa abzuwälzen.
Hinzu kommt, dass der geforderte europäische Zusammenhalt in der Konfrontation mit Russland immer mehr Risse bekommt und dass das eine gemeinsame Außenpolitik in der Frage des Ukraine-Krieges zunehmend unmöglich machen wird. Der Grund liegt nicht nur in der abweichenden Haltung Ungarns, der Slowakei und im Ansatz nun auch Italiens, sondern auch darin, dass in vielen EU-Ländern politische Parteien, die für einen Verhandlungsfrieden eintreten, einen immer größeren Zulauf erhalten. Nach den Präsidentschaftswahlen in den USA könnte sich dieser Trend zugunsten einer friedlichen Konfliktlösung noch verstärken. Hintergründig könnte hier auch ein weitverbreitetes Misstrauen gegenüber einer zunehmenden militärischen und politischen Führerschaft Deutschlands eine Rolle spielen.
Aber die weitaus größte außenpolitische Herausforderung für ihre Kriegspolitik erwächst der EU vom sogenannten Globalen Süden. Am stärksten manifestiert sich das in der rasanten Entwicklung der BRICS+ Staaten, die schon heute mit 45% der Weltbevölkerung und 37% der Weltwirtschaftsleistung die EU mit 5,5% der Weltbevölkerung und 14,5% der Weltwirtschaftsleistung weit in den Schatten stellen. Nun suchen 30 weitere Länder Mitglieder der BRICS+ zu werden, darunter sogar das NATO-Land Türkei. Die BRICS-Staaten teilen die Kriegshaltung der EU nicht und sind durchweg für eine Verhandlungslösung. Es ist daher von großer symbolischer Bedeutung, dass das nächste Gipfeltreffen der BRICS-Staaten unter der russischen Präsidentschaft im russischen Kasan im Oktober – also schon in zwei Monaten – stattfinden wird.
Wir könnten dort Zeuge einer wirklichen epochalen Zeitenwende werden, einer Zeitenwende, die die EU, in ihrer eigenen Überheblichkeit, weitgehend ignoriert. Bei allen Großmachtfantasien einer Kommissionspräsidentin von der Leyen sollte uns doch klar sein, dass Europa schon längst nicht mehr das Zentrum der Welt ist und wir demographisch, wirtschaftlich und teilweise technologisch in der Welt zurückfallen. Da hilft dann auch keine Militarisierung der EU. Eine friedlichere Außenpolitik wäre wohl eine bessere Option. Nur dürfte Frau Kallas mit ihrer extremen Anti-Russland- und Pro-Kriegshaltung, dafür wohl die denkbar ungünstigste Besetzung sein.
Mit der Entscheidung, weiterhin ausschließlich auf Krieg zu setzen und sich diese Politik auch noch parlamentarisch bestätigen zu lassen, hat die Europäische Union ihren politischen Spielraum drastisch eingeschränkt und sich selbst geopolitisch ins Abseits gesetzt. Und obwohl der Ukraine-Krieg von existenzieller Bedeutung für die Zukunft ganz Europas ist, wird die EU bei der Lösung dieses Konfliktes wohl dadurch keine Rolle spielen. Damit verliert die EU auch an Einfluss darüber, wie eine zukünftige Friedensregelung in Europa aussehen könnte. Unabhängig davon, wie man die Schuldfrage des Ukraine-Krieges einschätzt, ist das eine unsägliche politische Dummheit, die verhängnisvolle Konsequenzen nicht nur für die Menschen in der Ukraine, sondern eben auch für die Menschen in der EU haben wird.
Dass die Europäische Union auch nach zweieinhalb Jahren eines der brutalsten Kriege auf europäischen Boden mit hunderttausenden an Toten immer noch nicht in der Lage ist, sich von den USA zu emanzipieren und eine eigenständige alternative Friedenspolitik für Europa zu formulieren, wird den europäischen Gedanken, der auf Frieden in Europa fußt, völlig zerstören. Die Europäische Union könnte so an ihrer martialischen Ukraine Politik zerbrechen.
Michael von der Schulenburg, ehemals Assistant Secretary-General (ASG), arbeitete 34 Jahre für die Vereinten Nation und kurz die OSZE in Führungspositionen in Entwicklungs- und Friedensmissionen in vielen Krisenregionen dieser Welt, u.a. in Afghanistan, Iran, Irak, Pakistan, Haiti, Somalia, Syrien und Sierra Leone (siehe www.michael-von-der-schulenburg.com). Er hat viel zu Fragen von Krieg und Frieden, nicht-staatlichen bewaffneten Akteuren und UN-Reformen publiziert. Er ist heute Mitglied des Europaparlaments für das Bündnis Sahra Wagenknecht.
Ruth Firmenich ist Politikwissenschaftlerin. Sie war 20 Jahre lang Büroleiterin von Sahra Wagenknecht und ist Gründungsmitglied der neuen Partei Bündnis Sahra Wagenknecht. Seit 2024 ist sie Mitglied des Europäischen Parlaments und arbeitet dort gemeinsam mit Michael von der Schulenburg zu Fragen der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik.
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