Der Präsident der bundesdeutschen Demokratiesimulation

Laut Bundespräsident Steinmeier ist die Demokratie gefährdet, wie lange nicht mehr. Er gibt mal wieder den unschuldigen Hohepriester des allseits beliebten Leitgedankens, dass Demokratie nur ein gutes Gefühl ist – und nicht mehr.

Ein Beitrag von Roberto J. De Lapuente

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier steht vor einem Gespräch mit dem Präsidenten von Frankreich am Schloss Bellevue. dpa

Da war er wieder: Der Bundespräsident – am 9. November hat er vor einem erlesenen Kreis in Bellevue eine Rede gehalten. Das sind sie, die Momente, die man aus dem Bewusstsein der alten Republik hinübergerettet hat in die neue große Zeit: Zwar heißt es nun nicht mehr, dass nie wieder Krieg stattfinden solle – aber dem 9. November, dem Schicksalstag der Deutschen, wie man ihn nennt, widmet man dann doch noch Ansprachen. Hochwertig müssen die freilich nicht sein – und dergleichen ist vom amtierenden Bundespräsidenten erfahrungsgemäß auch nicht zu erwarten.

Was er jedoch ablieferte, könnte auch irgendein Marketing-Bevollmächtigter aus einer der vielen Initiativen geschrieben haben, die nun zur Demokratierettung vom Steuerzahler quersubventioniert werden. Gewohnt blutleer wars. Und völlig leblos. Steinmeier ist wahrlich ein angemessener Präsident für diese Zeit und für diesen Raum. Der oberste Mann im Staate erklärte mal wieder etwas darüber, wie gefährdet die Demokratie sei – sie sei es wie lange nicht mehr. Steinmeier stand also da und wusch sich gleichzeitig die Hände in Unschuld. Denn dass es so miserabel um die Demokratie bestellt ist: Mit ihm hat es selbstverständlich nichts zu tun. Was soll er denn bitte falsch gemacht haben?

Ausgerechnet Steinmeier!

Oh ja, dieser Frank-Walter Steinmeier, der Ex-Außenminister, Ex-Vizekanzler und Ex-Kanzlerkandidat, ist wirklich das Gesicht, dass völlig zurecht dieser selbstgerechten Republik vorsteht. Einer Republik, die so tut, als verstehe sie die Welt nicht mehr, dass immer mehr Menschen aufbegehren, andere Parteien oder gleich gar nicht mehr wählen und überdies gegen Politikern stänkern – als habe das alles nichts mit den Anständigen, Aufrechten und Guten zu tun, die jetzt Demokratieerhalt predigen und alles als undemokratisch stigmatisieren, was nicht den vorexerzierten Narrativen nachläuft.

Wir wissen allerlei von diesem Herrn Steinmeier – insbesondere seine Rolle während der Agenda 2010 sollte man nicht verdrängen. Er galt hinter den Kulissen als Gerhard Schröders Mann fürs Grobe. Als graue Eminenz des Hartz-IV-Komplexes. Oder schlimmer noch: Als Erfinder von Hartz IV. Jahre später tat er so, als habe die Verbitterung in strukturarmen Regionen des Landes mit ihm gar nichts zu tun. Und so stilisierte er sich als Kämpfer gegen das Hartz-IV-Unrecht, machte einen auf Volkstribun und monierte, dass die Arbeitslosenverwaltung, an der er maßgeblich beteiligt war, ja ohne den die Agenda 2010 vielleicht ganz anders ausgefallen wäre, schändliche Ungerechtigkeit generiere. Damit hatte er freilich recht – aber dass dieses Leid mit ihm was zu tun haben könnte: Darüber verlor der gute Mann freilich nie auch nur eine Silbe.

Gerade im Osten der Republik hatte das Konsequenzen. Hartz IV prägte die sogenannten neuen Bundesländer, wie man damals und manchmal heute noch immer sagt, ganz empfindlich. Ganze Regionen verarmten und fanden keinen Anschluss mehr, die Demokratie aus dem Westen fand wenig Anschlussverwendung für jene Menschen in strukturschwachen Gegenden – sie wurden damit für Parteialternativen geknackt, die jetzt in ein Vakuum stoßen konnten, weil die etablierte Parteienlandschaft entweder in die Hartz-Reformen verwickelt war oder die Konsequenzen des Sozialabbaues geflissentlich ignorierte. Die Linke wurden deshalb nach den Reform-Jahren zur Volkspartei – damals galten sie dem Mainstream noch als Populisten, als totalitäre Kaderpartei, zu der man eine Brandmauer errichten und bitte nie wieder abreißen sollte. Als diese Partei der Linken mehr und mehr aufweichte, stieß die nächste Partei vor, die die Demokratie mindestens so sehr gefährdete, wie die Linkspartei ehedem: Die AfD. Im Osten des Landes wurde sie sicherlich schneller groß – mittlerweile ist sie es auch im Westen, weil auch dort die Partizipation immer weniger klappt für einen Großteil der Bevölkerung.

Teilhabe ist demokratisch

Sicherlich wählen nicht alle Habenichtse heute diese Partei, die gemeinhin als demokratiegefährdend eingestuft wird – auch Vermögende wählen sie. Aber mit dem Schwinden der Teilhabe nahm die Aushöhlung des vormals bestehenden Parteienkartells seinen Lauf. Immer mehr Menschen fühlten sich abgehängt, sie spürten – und sahen –, dass das Land immer leistungsunfähiger wurde, dass es auf Verschleiß fuhr und dass ihre Kinder einmal kein besseres Leben haben würden. Die Teilhabe wich finanziell ebenso auf wie ideell: Die Meinung der Abgehängten – wer wollte sie noch hören? Man hat diese Menschen sich selbst überlassen, Volksvertreter und Medien scherten sich wenig bis gar nicht mehr um sie. Exemplarisch hierbei Steinmeiers Genosse Sigmar Gabriel, der Bürger vor zehn Jahren im sächsischen Heidenau als »Pack« beschimpfte, weil die sich dem Flüchtlingskurs der Bundesregierung lautstark entgegenstellten – in diesem Falle nicht physisch wohlgemerkt, nur schreiend.

Gabriel war seinerzeit Bundeswirtschaftsminister – und was fiel ihm Gescheites ein? In den Osten zu reisen und dort die Bevölkerung zu beschimpfen, weil die laut, provokant und meinungsstark von ihrer Meinungsfreiheit Gebrauch machte. All das mag für Beobachter als unfein von den Demonstranten empfunden worden sein – aber es war und ist nun mal nicht verboten, das Bundesverfassungsgericht spricht sich ausdrücklich – oder sprach sich ausdrücklich! – für die Nutzung dieses Grundrechtes auch im scharfen Tonfall aus. Die Mächtigen im Lande müssten das aushalten – ja, die Demokratie muss es aushalten. Bundespräsident Steinmeier hat am Sonntag gezeigt, dass diese Demokratie, die »unsrige«, wie es immer heißt, gar nichts auszuhalten bereit ist. Verfassungsfeinde sollen aus dem Verkehr gezogen werden, erklärte er der versammelten Klatschaudienz. Damit könnte man ja noch leben – auch wenn das BVerfG auch hier deutlich ist und die sogenannte »Werteloyalität« als nicht zwingend sieht –, wenn man nicht wüsste, wer heutzutage wie schnell zum Verfassungsfeind erhoben wird – schon ein »Schwachkopf«-Meme genügt, um in ein Fahrwasser zu geraten, in dem man sonst Staatsfeinde verorten würde.

Teilhabe ist das Stichwort: Es gibt keine Demokratie, die diesen Namen verdient, wenn es um eine wie auch immer gelagerte Partizipation schlecht bestellt ist. Wer sich sorgt, wie er morgen noch seine Miete entrichten kann, wie er seine Kinder oder sich selbst über die Runden bringt, der wähnt sich nicht in einem demokratischen Staat, sondern darbt in einer übergriffigen und verfolgungsbetreuenden Armenverwaltungsdiktatur, in der sogenannte Fallmanager eine Macht verinnerlicht haben, die einem Langzeitarbeitslosen das Leben wirklich erschwert. Die Agenda 2010 war ein Angriff auf die Würde vieler Menschen im Lande – ein anderer, mittlerweile verstorbener Genosse des derzeitigen Bundespräsidenten, Superminister Wolfgang Clement, ließ Arbeitslose in einer Broschüre als »Parasiten« vorkommen und saß außerdem arrogant im Fernsehstudio und nannte Arbeitslose grundsätzlich arbeitsscheu. Wer gab diesem Mann die Möglichkeit, sich derart sozialdarwinistisch auszudrücken? Hartz IV, das Produkt der grauen Eminenz, war es – und eine Medienkampagne, die der damaligen rot-grünen Bundesregierung gerade zupass kam.

Demokratie fühlen – und nicht leben

Steinmeier gibt nun mal wieder den Hohepriester eines Gedankens, der mittlerweile die vermeintliche Zivilgesellschaft (regierungsfinanzierte Nichtregierungsorganisationen) in voller Blüte erfasst hat: Demokratie sei demnach nur ein Gefühl, etwas das man wollen muss, indem man es per Sprechakt immer wieder erneuert. Wenn man es oft genug wiederholt, dann stellt sich die Demokratie wie von Zauberhand wieder ein. Es ist daher wichtig, immer und immer wieder das Demokratische zu betonen und zu fordern: Denn wenn die Menschen fühlen, dass Demokratie sein muss, dann wird sie sich durchsetzen. Dass Demokratie ganz ordinär auf materiellen Grundlagen steht, dass sie kostet, nämlich Geld und auch zeit- und ressourcenintensive Strukturen, die ein Mitmachen der Bürger auch in wichtigen Fragen der Gesellschaft begünstigen: Um Himmels willen! Das ist ja ein Frevel!

Und das können wir uns nicht leisten – und wollen wir auch gar nicht. Diese Ausflucht kennen wir! Dass der Sozialstaat zu teuer sei: Das vernehmen wir heute auch wieder so lautstark wie damals, als die graue Eminenz der Agenda 2010, die heute angeblich wichtige Reden aus seinem Lustschlösschen zu Berlin heraus schwingt, an die Planungen zur Entsolidarisierung schritt. Gleichwohl kann man aber Abermillionen in die Demokratieförderung stecken und die »Demokratieretter« spekulieren immer noch auf ein Demokratieförderungsgesetz, dass die Subventionierung von NGOs zu einem Rechtsanspruch erheben soll. Hier ist eine Industrie entstanden, die sich als Retterin stilisiert, die aber eine ganz banale Parole im Gepäck hat: Demokratie – du musst sie nur fühlen, dann wird alles gut!

Das ist freilich untragbar, denn wenn ein System funktionieren soll, wenn man Menschen dafür begeistern oder wenigstens gewinnen will, müssen sie den Eindruck haben, dass sie der Allgemeinheit – und das meint hier auch und besonders: den Eliten – nicht scheißegal sind. Sie müssen sich sicher fühlen, nicht den Anschluss zu verlieren. Mit Gefühlsbeteuerungen ist nichts gewonnen – an den Taten misst man die Demokratie, was heißt: An deren Bereitschaft, auch die Ärmsten und Schwächsten mit der Würde zu behandeln, die ihnen zukommt. Das alles kostet Geld und macht einen gewissen Aufwand. Die Demokratieförderung, in deren Sinne der Bundespräsident selbstgefällige Reden schwingt, ist der Versuch, eine Demokratie mit möglichst wenig Aufwand zu simulieren.

Roberto De Lapuente

Roberto J. De Lapuente, Jahrgang 1978, ist gelernter Industriemechaniker und betrieb acht Jahre lang den Blog »ad sinistram«. Von 2017 bis 2024 war er Mitherausgeber des Blogs »neulandrebellen«. Er war Kolumnist beim »Neuen Deutschland« und schrieb regelmäßig für »Makroskop«. Seit 2022 ist er Redakteur bei »Overton Magazin«. De Lapuente hat eine erwachsene Tochter und wohnt in Frankfurt am Main.
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Disclaimer: Berlin 24/7 bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion Berlin 24/7 widerspiegeln. Wir bemühen uns, unterschiedliche Sichtweisen von verschiedenen Autoren – auch zu den gleichen oder ähnlichen Themen – abzubilden, um weitere Betrachtungsweisen darzustellen oder zu eröffnen.

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