Deutschland vor 2013: ein Idyll?

Mehr Obdachlose, steigende Kinderarmut – und in deutschen Innenstädten darbt die Armut: Vielleicht sollte die politische Klasse den Schwerpunkt auf diese Themen legen – denn das wäre wirkliche Demokratieförderung. Oder gar deren Rettung?

Ein Beitrag von Roberto J. De Lapuente

Bildquelle: KI

Die neuesten Zahlen zur Obdachlosigkeit in Deutschland machen Sorgen: Die Millionengrenze wurde geknackt. Wobei voranzuschieben ist, dass die Zahlen so neu nicht sind – nun liegen sie für 2024 vor, aktuellere findet man im Augenblick nicht. Man muss fürchten, dass das wirkliche Bild – dass uns dann Ende 2026 vorliegen wird – och düsterer aussieht. 2023 gab es 928.000 Wohnungslose im besten Deutschland, das wir je hatten. Ein Jahr später sind mehr als 100.000 dazugekommen: 1.029.000 Wohnungslose. Noch immer sind – Gender Studies wo bist du? – es mehrheitlich Männer, die ohne Dach über dem Kopf darben.

Parallel dazu noch so eine frohe Kunde: Jedes siebente Kind in Deutschland ist von Armut bedroht. Auch diese Zahlen sind – wie schon oben – letztjährig. Aktuell sieht es womöglich noch bitterer aus. Was bei Kinderarmut immer zu kurz kommt: Arme Kinder sind im Regelfall die Kinder armer Eltern. Es ginge also im Grunde weniger darum, die Kinder reicher zu machen, als um die Schaffung von Grundlagen, die den Eltern erlaubte, von ihrer Hände Arbeit auch leben zu können – oder aber, sie nicht so sehr zu belasten, damit von dem, was sie in ihre Tasche wirtschaften, auch noch etwas übrigbleibt und nicht voll bei den Mineralöl- und Energieunternehmen landet.

Dafür kann die AfD jetzt aber nichts, oder?

Das sind die Entwicklungen zur Stunde, die sich statistisch erfassen lassen. Darüber hinaus gibt es auch gefühlte Wirklichkeiten, die nicht auf Zahlen gründen, sondern auf Erfahrungswerte und auf den Realitätscheck vor Ort. Beim Blick in deutsche Innenstädte zeigt sich die ganze Trostlosigkeit des »deutschen Wohlstandes«. Dort tummeln sich Menschen, denen es ganz offenbar an Grundlegendem mangelt – etliche betteln. Und wer sich noch geniert, sammelt in versuchter Anonymität Pfandflaschen. Auffallend viele ältere Menschen versuchen so, etwas zu ihrer Rente zuzusteuern. Viele laufen mit abgenutzten Kleidungsstücken über die Flaniermeilen, man erkennt recht schnell, wer auf Verschleiß fährt. Auf die Innenstädte selbst wirkt das auch ein: Dort herrscht regelmäßiger Leerstand, Geschäfte laden immer häufiger zum finalen Ausverkauf. Früher war viel mehr Laufkundschaft, heute schlurfen zu viele an den Schaufenstern vorbei, die als Kunden nicht mehr in Frage kommen können.

Der Tagesschau sind die aktuellen Zahlen noch einen Beitrag auf ihrer Webpräsenz wert. Jährlich um etwa dieselbe Zeit präsentiert sie die schändlichen Kennzahlen der bundesdeutschen Verarmung. Aber sonst regt sich nichts mehr – sonst ist nur Kampf für »unsere Demokratie« und »gegen den Faschismus«, der von der deutschen Öffentlichkeit angeblich zwischen Union und AfD ausgelebt wird. Letzteres dominiert die Berichterstattung in einem überbordenden Maße. Kein Tag ohne auf Rechtsruck, neuen Faschismus und eine wahlweise nationalistische oder durch Russland unterwanderte AfD zu verweisen.

Ohnehin verwunderlich, dass man dieses New Normal des bundesdeutschen Pauperismus noch nicht als Produkt einer der beiden Schwefelparteien untergejubelt hat: Der AfD und natürlich auch dem BSW – dem angeblichen Zweigestirn des Kremls auf deutschem Boden, wie es unisono in der Presse heißt. Im zeitgenössischen Deutschland dominiert die an sich sehr krude Vorstellung, wonach dieses Land ein hervorragender Platz war und weiterhin wäre, wenn es solcherlei Parteien nicht gäbe. Speziell mit Gründung der AfD sei das Land sukzessive abgerutscht und zu einem Ort geworden, in dem sich kein Glück mehr empfinden ließe. Selbst die Partei der Linken stützt diese allseits beliebte Mär – und straft so ihre eigene Geschichte Lügen. Denn sie wurde einst gegründet, weil die Bundesrepublik schon längst auf Abwegen war, noch bevor einige Professoren im Februar 2013 im hessischen Oberursel jene Partei gründeten. In jenen Monaten berichtete selbst die FAZ von der sich verfestigenden Klassengesellschaft. Und die Hans-Böckler-Stiftung sorgte sich wegen der schnellen Verarmung in deutschen Großstädten. Schon damals investierte man weniger in die Infrastruktur und enteignete die Menschen als Bürger – und als Arbeitnehmer, denn die Agenda-Politik jener Jahre ließ viele zu Duckmäusern werden: Halt den Mund oder willst du etwa so enden wie all die Hartz-IV-Empfänger, die man im Nachmittagsfernsehen mahnend durch die Manege führte?

Deutschlands Unglück vor 2013

Deutschland hatte die Abbreviatur, die heute dauernd herhalten muss, wenn im Lande etwas schiefläuft, noch nie gehört, als es schon längst zu einer Gesellschaft verkommen war, in der Zwei-Klassen-Medizin so normal war wie Zwei-Klassen-Wohnungspolitik oder der Zwei-Klassen-Arbeitsmarkt. Der Gleichheitsanspruch war da schon längst aufgegeben worden – Politik wurde für die Bessergestellten gemacht. »Soziale Gerechtigkeit muss künftig heißen, eine Politik für jene zu machen, die etwas für die Zukunft unseres Landes tun: die lernen und sich qualifizieren, die arbeiten, die Kinder bekommen und erziehen, die etwas unternehmen und Arbeitsplätze schaffen, kurzum, die Leistung für sich und unsere Gesellschaft erbringen. Um die – und nur um sie – muss sich Politik kümmern.« Dieser Satz stammt von Peer Steinbrück. Er schrieb ihn in einem Gastbeitrag in der Zeit – und zwar im November 2003. Zehn Jahre, bevor die Republik ins Unglück und in die Katastrophe gestürzt und Deutschland vermeintlich abgewickelt werden sollte. Was damals als Leistung und damit als löblich galt, machte seine Partei bereits vorher klar: Geringqualifizierte, die fleißig waren, gehörten jedenfalls nicht zu denen, die man lobend erwähnte.

Die Retter der Demokratie, die sich heute Tag für Tag publikumswirksam in Positur bringen, hätten schon weit vor jenem Februar 2013 tätig werden müssen – denn in den Jahren vor der Parteigründung der AfD ging man bereits daran, dieses Land so zu reformieren, dass den sogenannten »kleinen Leuten« das Auskommen immer schwieriger gemacht wurde. Man nahm ihnen regelrecht das Land weg – wer heute sagt, man wolle es sich endlich zurückholen, wird prompt in die übliche Ecke gestellt. Aber wie kann man daran zweifeln: Den unteren Gesellschaftssegmenten nahm man das Land und die Heimat, man enthielt ihnen Lohn und Teilhabe vor – die öffentliche Hand lahmte zunehmend, die Betriebsverwirtschaflichung von staatlichen Betrieben – wenn sie nicht längst privatisiert waren – verschlechterte den Service und betraf vor allem Menschen, die von solchen staatlichen, nicht primär auf Profit getrimmten Angeboten abhängig waren.

Vielleicht hätte die AfD damals, hätte es sie schon gegeben, den Agenda-Kurs der Sozialdemokraten und dann später dessen Fortführung unter der Bundeskanzlerin Angela Merkel auch mitgetragen – man darf sogar ziemlich sicher davon ausgehen, dass sie es getan hätte. Aber virtuelle Geschichtsschreibung lässt sich, in unseren noch an Zeitreisen armen Zeiten, nicht seriös betreiben, womit man bitte bei der bekannten Geschichte bleiben sollte, will man nicht verspottet werden. Das Unglück dieser Republik war längst angelegt, als die AfD sich dann formierte und zu einer Wahlalternative auswachsen wollte. Damals noch als Anti-Euro-Partei – und zugleich als Professorenpartei. Die gelehrten Damen und Herren nahmen seinerzeit irrtümlich an, dass der Euro Deutschland in die Knie zwinge, dabei profitierten ausgerechnet deutsche Unternehmen von der Währungsumstellung. Wie gewohnt gab man diese profitable Ausbeute jedoch nur mehr als zögerlich bis gar nicht an die Arbeitnehmer weiter – der Niedriglohnsektor, den sich das reichste Land Europas auf Kosten der Arbeitskraft meist – aber nicht ausschließlich – niedrigqualifizierter Arbeitnehmer leistete, exportierte nicht nur die Arbeitslosigkeit in europäische Nachbarländer – die Franzosen monierten das, denn dieser »Import« wurde mit sozialem Unfrieden bezahlt –, sondern erzeugte auch ein Heer Unzufriedener im eigenen Lande.

AfD ist keine Ursache – sie ist ein Symptom

In dieser Situation sich verbessernder Auftragslagen sei es nicht angebracht, so hieß es lange und immer wieder, bevor in Oberursel der Schwefel aufdampfte, die steigenden Unternehmenseinnahmen an die Arbeitnehmer weiterzuleiten. Das Hartz-IV-Wirtschaftswunder, von dem die deutschen Entscheider sprachen und das sie so den Bürgern als aufgebauschte Erfolgsgeschichte der vermeintlichen Jahrhundertreform unter die Nase rieben, gründete auf einem Geschäftsmodell, das den Menschen mehr abverlangte – Mobilität und Allerreichbarkeit – und ihnen einen engeren Gürtel empfahl. Zwar sprach man weiter von einer Leistungsträgergesellschaft, aber die Leistung besonders im Niedriglohnsektor, wurde nicht prämiert, sondern gnadenlos ausgebeutet. Die anderen schauten auf diese Entwicklung und verhielten sich still: Vielleicht würde die Transformation des Arbeitsmarktes mit all diesen Verwerfungen ja an ihnen vorüberziehen?

Gleichzeitig schlich sich ein arroganter Paternalismus in die deutsche Politik – man verwaltete die Bürger immer lebensfremder und alltagsuntauglicher. Der Berliner Apparat interessierte sich zunehmend weniger für Sorgen, die in der Bevölkerung vorherrschten – als 2015 Bürger (und übrigens auch Kommunen) den Kurs der deutschen Flüchtlingspolitik kritisierten, verortete man sie sofort bei totalitären Gruppierungen und eben jener Partei, die es da schon gab und die jetzt sichtbar größer wurde. Völlig verantwortungslos rückte man nämlich Kritiker des »Wir-schaffen-das«-Zweckoptimismus‘ in AfD-Nähe. Es waren Medien und Politiker der Union und der SPD, die die ersten nennenswerten Zugewinne jener Partei bewerkstelligten, indem sie unzufriedene Bürger als Angriff auf ihre Politik und die Ordnung interpretierten.

Die Grundlagen für eine Partei wie die AfD waren da jedoch längst geschaffen. Und wer heute diese naive »Demokratierettung« – welche Demokratie? – antritt, blendend choreographiert von The Man, um es im US-Slang auszudrücken, hat längst die Bezüge zur Realpolitik verloren. Es ist die Wirtschaft, Dummkopf! Wer einen Kampf gegen rechts führt – es sei mal dahingestellt, wie dieses Schlagwort zu bewerten ist –, der müsste längst gegen die Folgen einer Politik aufstehen, die die AfD nicht verbrochen haben kann. Sie ist das Produkt eines Kartells von Parteien, die in den letzten Dekaden die Regierung unter sich ausmachten: Union, SPD, FDP und Grüne. Die AfD ist ein Symptom dieser fatalen Politik – und nicht etwa die Ursache. Es mag sein, dass die AfD eine Agenda der Ungleichheit vertritt und ungleiche Politik begünstigen würde, wenn sie es könnte – aber die tatsächliche Ungleichheit und Ungerechtigkeit, die dieses zeitgenössische Deutschland in ein immer größeres Armenhaus verwandelt, haben andere verbrochen. Die, die heute in Bedrängnis geraten sind, sind die Bedrängungsopfer von Parteien, die sich als Rettung verkaufen wollen und das Gegenteil davon tun.

Roberto De Lapuente

Roberto J. De Lapuente, Jahrgang 1978, ist gelernter Industriemechaniker und betrieb acht Jahre lang den Blog »ad sinistram«. Von 2017 bis 2024 war er Mitherausgeber des Blogs »neulandrebellen«. Er war Kolumnist beim »Neuen Deutschland« und schrieb regelmäßig für »Makroskop«. Seit 2022 ist er Redakteur bei »Overton Magazin«. De Lapuente hat eine erwachsene Tochter und wohnt in Frankfurt am Main.
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Disclaimer: Berlin 24/7 bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion Berlin 24/7 widerspiegeln. Wir bemühen uns, unterschiedliche Sichtweisen von verschiedenen Autoren – auch zu den gleichen oder ähnlichen Themen – abzubilden, um weitere Betrachtungsweisen darzustellen oder zu eröffnen.

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