Richard David Precht erntete viel Wut, weil er kundtat, dass die Union früher wie die AfD heute klang. Hätte Alice Weidel früher ohne Probleme Mitglied der Union sein können?
Ein Beitrag von Roberto J. De Lapuente

Das tat weh. Richard David Precht hat in einem Podcast einige Betrachtungen angestellt, die das Narrativ der Stunde unterwandern. So erklärte er, dass die »Büchse der Pandora, die Linke und Grüne geöffnet« hätten, sich gegen sie selbst richten wird – dergleichen monieren Kritiker des Meldestellenstaates, der unterhalb der Strafbarkeitsgrenze »Straftaten« erfassen möchte, schon seit geraumer Zeit. Eine Aussage allerdings schmerzt besonders und ruft nicht nur CDU-Mitglieder auf den Plan – der ganze NGO-Hofstaat, der sich in den Netzwerken unter bunten Account-Anonyma – die wenigsten trauen sich mit Klarnamen – tummelt, wütete gegen den Philosophen.
»Das Herz der CDU«, so erklärte er im Podcast, »schlug mal ähnlich wie das von Alice Weidel«. Aufschrei! Empörung! Wie kann er es wagen, die Vorsitzende der Schwefelgeruchspartei auch nur in die Nähe der Christdemokraten zu rücken? Geschichtsvergessen belegte der Mob Precht mit Unflat – Argumente, warum er sich täusche, lieferten diese Leute allerdings nicht. Precht und die getroffenen Hunde: Wer hat denn nun recht? Oder vielleicht treffender gefragt: Wie kommt das, dass gewisse Leute fröhlich der Demenz frönen? Hat man in der Tat vergessen, dass die AfD eine Reaktion auf eine Union war, die ihr konservatives Weltbild aufweichte – nicht sozialdemokratisierte, wie es oft hieß! – und so ein Vakuum entstehen ließ?
Vor 25 Jahren: Leitkultur und Integration
Dass der NGO-Tross der Vergesslichkeit nur zu gerne behilflich ist: Geschenkt! Das ist die Aufgabe derer, die in den letzten Monaten verstärkt mit jedem billigen Trick versucht sind, die Deutungshoheit zu bewahren. Aber die Gefolgschaft: Welchen Profit zieht sie denn daraus, sich neuerdings wöchentlich die Vergangenheit nach phantasievollen Vorstellungen auslegen zu lassen? Diese aktivistischen Accountbetreiber dürften in der Mehrzahl Profit aus ihrer lügenbasierten Weltordnung ziehen. Aber der gemeine Follower doch nicht …
Offenbar haben die längst vergessen, wie noch vor einem Vierteljahrhundert in diesem Land über Migration gesprochen wurde. Zugegeben, das war nicht immer angenehm, wenn man etwa Roland Koch oder seinen Justizminister Christean Wagner über Ausländer in Deutschland sprechen hörte – aber sie konnten es sagen, ohne dass die gesamte Öffentlichkeit über sie hergefallen wäre. Die war seinerzeit auch noch nicht orchestriert – Aussagen wurden nicht grundsätzlich moralistisch eingenordet und so sofort »eingeordnet«, wie der Neojournalismus es seit geraumer Zeit betont zu tun – »Einordnung« ist das größte Lebensglück des modernen Reporters, der sich nun »Faktenfinder« nennt und in einen Rahmen einordnet, statt sich mit eigenen Gedanken zu möglichen Sujets zu beschäftigen.
Es sind ferner Aussagen und Reden von Angela Merkel und Friedrich Merz dokumentiert, in denen sie sich eindeutig zur deutschen Leitkultur äußerten. Diese wurde zwar medial auch immer wieder hinterfragt, aber sie zu Parteigängern einer neuen NSDAP zu erklären, wäre niemanden in den Sinn gekommen. Einen netten kleinen Überblick findet man hier. Die, die sich erinnern können, benötigen aber solche Ausschnitte gar nicht. Ihnen klingt noch die geforderte Leitkultur im Ohr – ob die damals ein richtiger Ansatz war oder nicht, sei mal dahingestellt. Was es zu betonen gilt: Damals konnten dergleichen politische Konzepte noch vorgestellt werden, ohne gleich in die Ecke eines neuen dräuenden Nationalsozialismus gestellt zu werden.
Grenzzaun zu Polen: Die Oder-Neiße-Grenze steht für die AfD
Richard David Precht könnte man nur eines vorwerfen: Alice Weidel wäre früher ohne Probleme durchaus auch als Mitglied der Sozialdemokraten durchgegangen. In den Achtzigerjahren äußerten sich SPD-Mitglieder durchaus noch kritisch zur Migration – Helmut Schmidt fiel häufiger dadurch auf, Deutschland als ein Land zu zeichnen, in dem die Massenmigration keine Tradition hätte. Bis zum Ende seines Lebens behielt er diese Position bei; die Deutschen hätten mit ihrer eigenen Identität so viel zu tun, erklärte er einmal, dass die Bundesrepublik als Zuzugsland nicht gut geeignet sei.
CDU und SPD unterschieden sich jedoch in Fragen des Revisionismus durchaus. Bis in jene Achtzigerjahre fand sich die Union nicht mit der Oder-Neiße-Grenze ab. Es kursierte vor Jahren ein Video von einer Rede Wolfgang Schäubles vor dem Bund der Heimatvertriebenen, in der er jene Grenzziehung zumindest kritisch betrachtete – leider ist es nicht mehr auffindbar. Stattdessen lassen sich aber Videos finden, in denen man ihn in den Neunzigerjahren auf dem Podium bei einer Veranstaltung jenes Bundes sieht. Er erklärt, man müsse sich nun mit der Oder-Neiße-Grenze abfinden. Die Zuschauer sind empört und manche randalierten gar und mussten von Sicherheitsleuten hinausbegleitet werden.
Die AfD in Brandenburg forderte vor einigen Monaten – mal wieder –, einen Zaun zur polnischen Grenze zu errichten. Damit sollten Flüchtlinge aufgehalten werden. Man unterstellte ihr damit – vielleicht zurecht –, sie würde Anleihen bei dem großen Vorbild über dem Atlantik nehmen. Während der weiterhin an einer Mauer zu Mexiko festhält – wie übrigens seine jeweiligen demokratischen Vorgänger auch –, soll es für Deutschland nur ein Zaun nach Polen sein. In dieser Forderung steckte aber, gewollt oder nicht, ein Bekenntnis zu den Grenzen der hiesigen Bundesrepublik – überhaupt findet sich in der Programmatik der AfD keine explizite Aussage zur Oder-Neiße-Grenze. Der Revanchismus hält sich hier also in Grenzen. Oder anders ausgedrückt: Das Herz der CDU schlug mal viel radikaler als das von Alice Weidel.
Nur Einsicht? Oder: Wer setzt die Agenda?
Alice Weidel zu links für die Union? Es ist verlockend, diesen Artikel mit diesem Satz zu übertiteln. Doch so eine Überschrift wäre wohlfeil. Es geht an dieser Stelle auch gar nicht um links oder rechts, sondern um die Vergleichbarkeit von Positionen. Trifft es also zu, wie Richard David Precht die CDU – und mit ihr vermutlich auch den bayerischen Ableger der CSU – einordnet? Oder haben die, die ihn nun niederschreien, letztlich doch einen Punkt? Letzteres muss stark bezweifelt werden, denn sie entstammen einem Milieu, das zuletzt stark dadurch auffiel, sich die Welt per Sprechakte zu auszulegen, wie es ihm genehm ist. Neben der Geschlechtsselbstzuweisung verbreitete so beispielsweise auch das Auswärtige Amt Geschichtsinformationen zu Gastarbeitern und Wirtschaftswunder, die so einfach nicht haltbar sind, die aber zum moralischen Weltbild dieser Republik passen und daher auf Teufel komm raus verteidigt werden müssen.
Nun ist das Wirtschaftswunder lange her, nur die Älteren erinnern sich noch an die damalige Zeit – hier mit falschen Informationen zu wuchern, hat also Aussicht darauf, als neue Wahrheit etabliert zu werden. Die Sechzigerjahre sind lange rum. Aber die Zeit, als die CDU eine Gesellschaftspolitik forcierte, die heute in weiten Teilen von der AfD vertreten werden: Daran muss man sich doch erinnern können! Das war doch im Grunde erst neulich …
Man kann natürlich die Ansicht vertreten, dass die CDU einst eine fatale Vorstellung von Migration befürwortet hat, kann also die Leitkultur als Unsinn abtun oder eben nicht: Was aber keinesfalls diskutabel ist, ist Prechts Aussagen als unausgegorenen Unfug abzutun. Denn das ist es nicht. Warum man aber dennoch so tut, als habe sich der Philosoph was aus den Fingern gesaugt, ist schwer nachvollziehbar. Hat die Union tatsächlich eine gesellschaftspolitische Entwicklung durchgemacht? Oder hat man ihr in den transatlantischen Zirkeln, in denen sich ihre Mitglieder gerne tummeln, eine neue Agenda verordnet? Die Einflussnahme und Einflussgewalt der NGO-, Stiftungs- und Initiativen-Gönner ist wahrlich nicht zu unterschätzen. Der fast sektenhafte Eifer, mit dem man die tatsächlichen Ereignisse von einst ausschließen möchte, lässt das fast befürchten. Es geht ihnen um die Umschreibung der Geschichte.

Roberto J. De Lapuente, Jahrgang 1978, ist gelernter Industriemechaniker und betrieb acht Jahre lang den Blog »ad sinistram«. Von 2017 bis 2024 war er Mitherausgeber des Blogs »neulandrebellen«. Er war Kolumnist beim »Neuen Deutschland« und schrieb regelmäßig für »Makroskop«. Seit 2022 ist er Redakteur bei »Overton Magazin«. De Lapuente hat eine erwachsene Tochter und wohnt in Frankfurt am Main.
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