Der European Silk Road Summit ist für Logistik-Experten ein Muss. Denn es geht um interkontinentale Transportrouten. Seit Jahren befasse ich mich auch mit der Entwicklung Eurasiens – insbesondere seit der Neuen Seidenstraße, auch Belt and Road Initiative (BRI) genannt, vor zehn Jahren von China ins Leben gerufen wurde. Deshalb bin ich auch in Budapest.
Aus Budapest berichtet unser Reporter Stephan Ossenkopp
Ich habe mehrere dieser Silk Road Summits besucht, darunter die Auftaktveranstaltung 2018 im niederländischen Tilburg und die im vergangenen Jahr in der Ruhrmetropole Duisburg. Dort traf bereits 2011 erstmals ein Güterzug aus Chongqing nach 15-tägiger Fahrt auf der rund 11.000 Kilometer langen Route durch Kasachstan ein.
Der diesjährige Veranstaltungsort ist sowohl historisch als auch geopolitisch ein Volltreffer: Ungarns Hauptstadt Budapest. Zum einen ist Ungarn seit jeher ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt zwischen West- und Osteuropa, zum anderen hat sich Budapest schnell als Partner der chinesischen Seidenstraßen-Initiative positioniert – sehr zum Ärger der EU-Spitze, die Investitionen aus dem Reich der Mitte in die europäische Infrastruktur nicht Sieht gerne aus. Dennoch wird seit einigen Jahren mit chinesischer Beteiligung eine moderne Eisenbahnverbindung zwischen Budapest und Belgrad gebaut, der Hauptstadt des Nachbarlandes Serbien.
Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban war außerdem der einzige EU-Staats- oder Regierungschef, der im August dieses Jahres am Belt and Road Forum in Peking teilnahm. Die EU hat viel getan, um den Bau der Eisenbahnlinie Budapest-Belgrad zu verzögern, lange bevor EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen von „De-risking“ sprach. Aber der chinesische Außenminister Wang Yi hat seinen ungarischen Amtskollegen kurz vor Orbans China-Besuch deutlich gemacht, dass das Projekt wie geplant weitergeführt wird. Dass der diesjährige Europäische Seidenstraßengipfel in Ungarn stattfand, hat auch Brisanz.
In der Ankündigung zum Budapester Treffen heißt es, dass die Region Zentral- und Osteuropa (CEE) eine wichtige Region für den Schienenverkehr sei und dass ein Vortrag über die Anbindung der CEE-Region an das übrige Europa und Asien den thematischen Rahmen für die zweite Hälfte sei sei des morgigen Konferenztages abstecken soll.
Die Organisatoren der Konferenz, ein niederländisches Medienunternehmen, das die Branchenwebsite Railfreight betreibt, haben den Schwerpunkt des Gipfels auf den so genannten Mittelkorridor gelegt. Dieser soll Europa über Länder wie die Türkei und Häfen am Schwarzen und Kaspischen Meer mit Zentralasien, China und anderen Ländern des Fernen Ostens per Schiene und Schiff verbinden.
Die Hauptstrecke der Neuen Seidenstraße über Russland und Kasachstan nach China ist nach wie vor die am stärksten befahrene Güterzugstrecke zwischen Europa und Asien. Doch ist das Aufkommen in den letzten beiden Jahren aufgrund der EU-Sanktionen gegen Russland deutlich zurückgegangen. Dadurch haben andere Routen mehr und mehr an Bedeutung gewonnen, insbesondere der Mittlere Korridor, der nun ins Rampenlicht rückt. In der Eröffnungssitzung sollen die neuesten Zahlen und Wachstumsraten dazu präsentiert werden.
In der Ankündigung des Gipfels heißt es weiter, die Verschiebung des Gleichgewichts zwischen den Korridoren und das Potenzial des Mittleren Korridors seien von der Europäischen Union zunehmend erkannt worden. Ich bin hier, um herauszufinden, ob das stimmt. Es wäre nämlich nicht das erste Mal, dass die EU umfassende Initiativen und Einsichten verkündet, die am Ende auf dem Papier vergilben. Man denke nur an die euro-asiatische Konnektivitätsstrategie, die weder eine Strategie gewesen ist noch irgendeine Form von Konnektivität hinterlassen hat.
Die Veranstalter haben auch einen Vertreter der nationalen Eisenbahngesellschaft Kasachstans (KTZ) als Redner eingeladen. Er vertritt die Auffassung, dass auch der Mittlere Korridor viel zu bieten habe. Es müssten aber noch eine Reihe von Engpässen überwunden werden, zu denen die noch bruchstückhaft ausgebauten Schienenwege und die fehlenden Kapazitäten im Containerschiffsverkehr über das Kaspische Meer gehören. Er würde es begrüßen, wenn hier nun neue Projekte und Großinvestitionen angekündigt würden, die der gesamten Region von Zentralasien bis Europa dringend neue Wachstumsimpulse und damit eine Entwicklungsperspektive geben würden, die dazu beitragen könnten, Spannungen und Konflikte in der Gesamtregion zunehmend zu glätten.
Die neuen Herausforderungen, Partnerschaften und Logistiklösungen zwischen dem Schwarzen Meer und dem Kaspischen Meer werden in einer eigenen Diskussionsrunde beleuchtet. Aber auch die skandinavischen Länder und das Baltikum sollen durch moderne multimodale Logistik nahtlos an die Neue Seidenstraße angebunden werden. Insbesondere zu den Möglichkeiten des Gütertransports durch Russland gibt es noch viele Fragen. Zum Beispiel: Wie kann man einen Zug in einem Sanktionsgebiet betreiben und was bedeutet das für die Transitzeit?
Der Budapester Gipfel weicht der geopolitischen Bewertung nicht aus, auch wenn die meisten der etwa 150 angemeldeten Gäste aus der Privatwirtschaft kommen. Mit besonderem Interesse sehe ich daher der Abschlussdiskussion entgegen, die sich mit der Geopolitik entlang der Neuen Seidenstraße beschäftigt. Dabei geht es um die Auswirkungen unterschiedlicher Interessen, Kulturen, diplomatischer Beziehungen und Konflikte innerhalb der Region des Mittleren Korridors.
Andererseits geht es auch um die politische Auseinandersetzung innerhalb der EU um Chinas Neue Seidenstraße bzw. Deren Einfluss auf Europa insgesamt. Zu diesem Thema wird Andrea Giuricin aus Italien erwartet. Denn, so der Mailänder Wissenschaftler im Vorfeld der Tagung, die italienische Haltung zur Belt and Road Initiative (BRI) habe spätestens seit den öffentlichen Überlegungen der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, aus dem Projekt auszusteigen, die Aufmerksamkeit der ganzen Welt auf sich gezogen.
Ich erinnere mich noch gut an meinen Besuch in Mailand im Jahr 2019 zu einer öffentlichen Diskussion mit Staatssekretär Michele Geraci, genau zum Zeitpunkt des Beitritts Italiens zur Belt and Road Initiative. Geraci hatte im Wirtschaftsministerium das chinesisch-italienische Kooperationsmemorandum verfasst und sprach nun über die positiven Perspektiven, während die italienische Presse ihn und die gesamte italienische Regierung in der Luft zerriss und sie beschuldigte, Italien, ein G7-Land, China zum Fraß vorzuwerfen. Die Polemik hat bis heute eher an Schärfe zugenommen. Deshalb erwarte ich morgen eine wichtige Diskussion um die grundsätzliche Ausrichtung Italiens. Der Referent nimmt im Übrigen vorweg, dass es wohl nie zu einem wirklichen Austritt kommen werde, da die Eisenbahnverbindungen zwischen China und Italien bereits in Betrieb seien.
Die meisten Gipfelteilnehmer kommen aus Ungarn, Polen, den Niederlanden, Deutschland, der Schweiz, Österreich und der Tschechischen Republik, aber auch aus Vietnam, Georgien, der Türkei, Aserbaidschan und Indien. Die Haltung der deutschen Teilnehmer wird sicherlich ein Gradmesser dafür sein, wie die Zukunft Eurasiens in der deutschen Logistik- und Bahnindustrie gesehen wird. Die Auswirkungen der Russland-Sanktionen auf die Branche und die deutsche Wirtschaft insgesamt sind das Eine, hinzu kommt die China-Strategie der Bundesregierung, die China zum Rivalen erklärt hat. Man kann sich vorstellen, dass die deutschen Unternehmen unter dieser Doppelbelastung stöhnen. Wird der Mittelkorridor für Deutschland eine Rolle spielen? Wie wird sich die sogenannte wertebasierte deutsche Außenpolitik zu dieser Perspektive verhalten? Diese und andere Fragen werden sicherlich die nächsten Diskussionen während des Seidenstraßengipfels prägen.
Man darf auch auf den morgigen Gipfeltag gespannt sein. Weitere Berichte aus Budapest folgen.