Die Stimmung in der deutschen Gesellschaft ist schizophren. Auf der einen Seite werden die „Lumpenpazifisten“ als Panikmacher angegriffen. Auf der anderen Seite wird der Bevölkerung suggeriert, „der Russe“ stehe im kommenden Jahr vor der Tür. Der Konsument von Tagesschau & Co. ist verwirrt, und genau das soll er auch sein.
Ein Beitrag von Tom J. Wellbrock

Es war Tilo Jung („jung & naiv“), der kürzlich bei Maischberger im Brustton der Überzeugung darüber aufklärte, dass die Prognose einiger „Experten“, die Europa schon im nächsten Jahr in einem großen Krieg sehen, völliger Unsinn sei. Damit wolle man die Bevölkerung lediglich in Angst und Schrecken versetzen. Ohne Zweifel hat Jung damit recht, aber er selbst fährt seine eigene Prognose dann auch gleich wieder vor die Wand, wenn er Rüstungsausgaben anpreist, die bis zum Mond reichen.
Greift Russland Deutschland an? Diese Frage wird im öffentlichen und insbesondere im veröffentlichten Raum rauf und runter diskutiert. Doch bei genauerer Betrachtung lautet die Frage gar nicht ob, sondern wann wir angegriffen werden. Mal ist von 2029 die Rede, mal etwas früher, dann kommen auch gern die Kandidaten um die Ecke, die schon im kommenden Jahr russische Panzer durch Berlin rollen sehen.
Keine Angst vor der Angst
Wie konnten sie es wagen! Wir erinnern uns an Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer, die zu Demonstrationen und lautem Widerstand gegen die Kriegstreiberei aufgerufen haben, um nicht nur den Ukraine-Krieg zu beenden, sondern auch der Gefahr eines drohenden großen Krieges etwas entgegenzusetzen.
Angst verbreiteten sie, so der politische und mediale Vorwurf gegenüber Schwarzer und Wagenknecht. Das musste sich übrigens jeder anhören, der sich gegen Aufrüstung und Kriegstreiberei aussprach. Damals ging es noch um die Ukraine, weniger um die Erzählung, die Russen würden uns angreifen (die folgte erst später, nachdem Minister und Obergefreiter Boris Pistorius, SPD, der Öffentlichkeit verdeutlichte, sie müsse nun kriegstüchtig werden). Schon damals war klar, das Krieg Frieden ist, denn nur eine Weiterführung des Krieges in der Ukraine könne den Frieden sichern und das Sterben beenden.
Die Botschaft war klar: Wenn Putin erst die Ukraine übernommen habe, seien die nächsten Länder dran, und danach würde es gar nicht lange dauern, bis er in Berlin ankommen würde. Bei einer Analyse, die über den Abstand zwischen Wand und Tapete hinausgeht, kann man nur zum Schluss kommen, dass an dieser ganzen Geschichte etwas nicht stimmt. Denn wenn der Russe als solcher so brutal und imperialistisch ist, dass er zunächst die Ukraine und dann weitere Länder angreift und vernichtet, müsste man Wagenknecht und Schwarzer zustimmen. Nur ein Ende des Krieges beseitigt auch die Gefahr weiterer Eskalationen und Kriege.
Doch schon damals war das Orwellsche Denken gesellschaftlich sehr ausgeprägt. Und so wurde aus der Gefahr eines Krieges die Gefahr eines Friedens herbeigeredet. Ein Ende des Ukraine-Krieges würde die Gefahr eines größeren Krieges bedeuten. Wer also für den Frieden plädiert, setzt sich nicht nur für den Krieg ein, noch dazu leckt er einem Wladimir Putin die Stiefel.
Die größte Gefahr also, die zu Zeiten der Petition von Schwarzer und Wagenknecht wahrnehmbar war, war die des Friedens. Als friedliebender Mensch befindet man sich dieser Argumentation folgend in einer Falle, aus der es kein Entrinnen gibt. Wenn jeder Wunsch nach Frieden faktisch als Kriegstreiberei dargestellt wird, hat die Logik ein Loch, das einfach nicht zu stopfen ist.
Doch es geht immer noch ein bisschen absurder.
Angst schüren …
Die populistischen Marktschreier, die vor dem Einmarsch der Russen warnen, sind derzeit längst nicht so gern gesehen, wie man es erwarten würde. Zwar wird den Menschen in Deutschland täglich das Bild des imperialistischen Putin an die Wand gemalt, der uns alle unterjochen will. Doch zu früh darf die konstruierte Gefahr auch wieder nicht vor der Tür stehen. Schließlich braucht es ein paar Jahre, die Rüstungsindustrie mit den anvisierten Umsätzen zu versorgen. Daher sind die dystopischen Szenarien eines Krieges im kommenden Jahr suboptimal.
Das weiß auch Tilo Jung, der ansonsten nicht mit so etwas wie analytischer Genialität gesegnet ist und mit seinen Herleitungen eher infantil wirkt. Deswegen erbost sich der Schöne als das Biest auch über Warnungen, die Deutschland gar nicht genügend Zeit verschaffen, das Geld in den Schlund der Rüstungsindustrie zu schieben. Nein, die Menschen sollen sich entspannen und in aller Ruhe zusehen, wie die falsche Prioritätensetzung den gesellschaftlichen Zusammenhalt und Wohlstand in den nächsten Jahren befeuert.
Der innere Widerspruch ist nur schwer auszuhalten. Einerseits schwebt ein herbeigeredeter russischer Angriff auf Deutschland wie ein Damoklesschwert über dem gesellschaftlichen Leben im Land, andererseits wird die Gefahr kleingeredet, um die angelaufenen Vorarbeiten zum kriegerischen Zerfall des Landes in einem realistischen Zeitfenster umzusetzen. Psychologisch ist das ein anspruchsvoller Vorgang, denn die Bevölkerung befindet sich ständig zwischen den Emotionen Angst und Beruhigung und wird dabei aufgerieben. Vom Stress abgesehen, der dadurch entsteht, macht sich eine gewisse Resignation breit, die später noch gut gebraucht werden kann.
Tom J. Wellbrock ist Journalist, Autor, Sprecher, Radiomoderator und Podcaster. Er führte unter anderem für den »wohlstandsneurotiker«, dem Podcast der neulandrebellen, Interviews mit Oskar Lafontaine, Max Otte, Andrej Hunko, Patrick Daniele Ganser, Lisa Fitz, Ulrike Guérot, Gunnar Kaiser, Dirk Pohlmann, Jens Berger, Christoph Sieber, Norbert Häring, Norbert Blüm, Paul Schreyer, Alexander Unzicker und vielen anderen. Zusätzlich veröffentlicht er Texte auf verschiedenen Plattformen und ist für unsere Podcasts der »Technik-Nerd«. Gründungsmitglied und Mitherausgeber der neulandrebellen.
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