Let’s go party oder: Sinnlose Freude über den Fall Syriens

Es ist eine Zeit der vermeintlichen Überraschungen. Nachdem am 7. Oktober 2023 Israels Regierung von den Angriffen der Hamas überrascht wurde, ist nun in Syrien Bashar al-Assad scheinbar ohne Vorwarnung gestürzt worden. Westliche Politiker und eine große Bubble aus „X-Aktivisten“ feiern den Sturz Assads und offenbaren eine erschreckende Ahnungslosigkeit.

Von Tom J. Wellbrock

shutterstock/Harold Escalona

Auf X wird tausendfach der Sturz der syrischen Regierung gefeiert. Die Hintergründe spielen dabei faktisch keine Rolle, es sei eben ein „weiterer Diktator“ beseitigt worden, allein das scheint ein Grund der Freude zu sein. Jetzt fehlen nur noch ein paar weitere „Bösewichte“, also beispielsweise Wladimir Putin, Xi Jinping und Kim Jong-un, liest man auf sozialen Netzwerken. Sind auch die beseitigt, wird alles … ja, was denn eigentlich?

Ja, was feiern sie denn?

Das westliche Bild Syriens ist geprägt von Erzählungen über einen „Schlächter“ (Assad), der seine Bevölkerung mit Giftgas massakriert und unzählige Menschen in Folterkellern eingesperrt hat. Kaum jemand kann sich vorstellen, dass Syrien unter Assad zu einem fortschrittlichen Land geworden war, in dem Kinder- und Müttersterblichkeit drastisch reduziert werden konnten, das Bildungssystem bedeutende Fortschritte gemacht hatte, die Auslandsverschuldung gering und der Umgang mit Minderheiten moderat war. Was heute zählt, ist allein die verbreitete Meinung, dass Syrien nun keinen Diktator mehr habe, die „taz“ schrieb am 8. Dezember 2024, Syrien „ist frei“:

„Syrien ist frei. Nur elf Tage hat es gedauert, seit Rebellen aus den Bergen in Idlib zur Offensive ansetzten. Das Assad-Regime brach am Ende in der Nacht zu Sonntag lautlos zusammen wie ein Kartenhaus. Assad ist kommentarlos verschwunden. Die siegreichen Rebellen übernehmen die Macht friedlich und geordnet, die Menschen können ihr Glück kaum fassen.“

Eine wahrlich rührende Erzählung, die sich auch durch den folgenden Absatz nicht erschüttern lässt:

„Die Außenwelt stellt viele skeptische Fragen. Die HTS-Rebellen, deren Offensive aus Idlib auf Aleppo den Sturz des Regimes einläuteten, haben eine Vergangenheit im militanten Islamismus. Aber in der Gegenwart ihres Krieges zeigen sie Verantwortung, halten ihre Kämpfer diszipliniert, achten andere Gruppen und Akteure.“

Die Verklärung durch die „taz“ verkennt zum einen die Bedeutung Syriens für die Geopolitik des Westens und des Ostens. Neben den USA, die „ihre Ölfelder bewachen“ (wer hat eigentlich entschieden, dass sie ihnen gehören?) hat Syrien auch für Russland und China eine wichtige Bedeutung. Schnell hieß es, dass der Sturz Assads auch für Putin und Xi ein schwerer Schlag war, der die beiden Großmächte erheblich schwächen würde.

Vermutlich ist da was dran, und tatsächlich verwundert es, dass die „Rebellen“ so lautlos und nahezu ohne Widerstand die Führung Syriens übernehmen konnten. Doch das sind Details, die dem gemeinen Bürger des Westens weder bekannt sind, noch versteht er die Bedeutung dahinter.

Das ist allerdings weder ungewöhnlich noch ein Grund, sich ein schlechtes Gewissen zu machen, denn die Geopolitik ist eine komplexe Angelegenheit, und die Motivation der jeweiligen Akteure ist nur auf den ersten Blick nachvollziehbar oder erklärbar. Das Wissen für einen zweiten Blick fehlt den meisten Beobachtern, Unwissenheit ist also keine Schande, sondern das Schicksal der vielen Menschen, die in geopolitische Prozesse nicht eingebunden sind.

Nun ist aber Assad Geschichte, und die weit verbreitete Reaktion darauf ist die Vorstellung, dass nach den Stürzen von Putin, Xi und Kim … ja, was denn nun eigentlich?

Keine Bedeutung für (fast) niemanden

Die Frage, die sich aufdrängt, lautet: Was verändert sich für die Menschen, nachdem Assad gestürzt wurde? Die Antwort lautet: Nichts. Oder besser: fast nichts. Wenn ein Michael Roth (SPD) dreimal die Woche nach Georgien reist, um dort den Regime Change zu unterstützen, hat er eigene Interessen, vielleicht, wahrscheinlich auch finanzieller Natur. Roth verabschiedet sich aus der aktiven Politik, wird aber in Form einer Anschlussverwendung großes Interesse daran haben, irgendwo unterzukommen, wo er nach seiner Karriere als Politiker gutes Geld verdienen kann. Leute wie Roth sind für die große, geopolitische Geschichte wichtig, er ist ein Handlanger der Mächtigen, die wiederum am Raubzug durch andere Länder Geld verdienen und ihre Macht ausbauen können.

Der X-Nutzer, der Roth anhimmelt oder jetzt die neue „Freiheit“ Syriens feiert, hat dagegen nichts vom Assad-Sturz. Sein Leben beginnt morgens wie gehabt und endet abends wie bekannt. Einzig die Tatsache, dass es auf de Welt wieder einen Krisenherd mehr gibt, könnte Auswirkungen auf sein Leben haben, etwa, wenn weltweit weitere heiße Konflikte ausbrechen, die dann Folgen für die Gesellschaften haben, beispielsweise durch wirtschaftliche Auswirkungen, zusätzliche Fluchtbewegungen oder militärische Auseinandersetzungen. Aber für den X-Nutzer ist es völlig unerheblich, ob er sich über Syrien freut oder über die Schwächung Russlands oder sich Gedanken darüber macht, dass in Nord-Korea alle Menschen unterdrückt werden und die gleiche Kleidung tragen müssen.

Was kommt …

Bleiben wir beim X-Nutzer und seiner Freude über die „Freiheit“ in Syrien. Man müsste dem Nutzer die Frage stellen, was genau jetzt anders ist. Man sollte ihn fragen, wie sich Syrien in den nächsten Wochen, Monaten und Jahren entwickeln wird. Ehrlicherweise müsste der Nutzer antworten, dass er es nicht weiß. Die Lage im Land kann desaströs werden, die geopolitischen Spannungen können zunehmen, die wirtschaftliche Lage Syriens könnte sich negativ entwickeln, die politische Führung könnte weitere Konflikte in der Region befeuern. Syrien ist seit vielen Jahren ein Ort der Gewalt, der Ausbeutung, des Leids und der Perspektivlosigkeit.

Sicher besteht die theoretische Möglichkeit, dass Syrien erblühen wird, dass Demokratie und Menschenrechte die Dominanz erlangen werden, doch wahrscheinlich ist das nicht bei einem Land, das der Spielball großer Weltmächte geworden ist. Womöglich können ehemals politisch Gefangene in Syrien in Zukunft in Freiheit leben, aber nicht unwahrscheinlicher ist das Szenario, dass der Druck auf die Menschen in Syrien großflächig ausgebaut und und das Leid nur verstärkt wird.

Geopolitik ist wie ein Uhrwerk, dessen Verständnis Uhrmachern vorbehalten ist. Viele Zahnräder greifen ineinander, die Abläufe der Zeitmessung sind kompliziert und kleinste Störungen können verheerende Auswirkungen haben. Nur der Uhrmacher kennt sich in der Materie gut genug aus, um Fehler oder Fehlfunktionen beheben zu können. Für den Laien sprengt die Technik einer Uhr sein Verständnis und er muss sich damit abfinden, an die Grenzen seiner Fähigkeiten gestoßen zu sein.

Natürlich kann der Laie sich an der Funktionalität der Uhr ausprobieren, er kann mal hier, mal dort an Schrauben oder Zahnrädern drehen, doch die Wahrscheinlichkeit, dass es der Uhr danach besser geht, ist äußerst gering. Aus diesem Grund halten sich Menschen, die keine entsprechende Ausbildung haben, vom Innenleben der Uhr fern, sie wissen, dass die Materie sie überfordert. In der Geopolitik aber scheint heute jeder zu jeder Zeit umfassende Analysen abgeben zu wollen und über richtige und falsche Entscheidungen, Personalien und politische Systeme ein Urteil abgeben zu können.

Daher wäre im Zusammenhang mit internationalen Entwicklungen wohl die beste Idee, sich erst einmal anzuschauen, was dort passiert, wer daran beteiligt ist und welche Ziele und Interessen verfolgt werden. Was heute noch die pure Freude erzeugt, kann sich nach einer Weile und genauerem Hinsehen als Katastrophe oder aber zumindest fatale Fehleinschätzung herausstellen.

Und noch etwas: Die weltweiten Spannungen, Konflikte und Kriege nehmen gerade in einem beängstigenden Maße zu und bringen die Menschheit in eine brisante Lage. Jeder gewaltsame Umsturz eines Systems oder eines Staatsoberhauptes sollte zunächst einmal die Alarme eines jeden Menschen erschallen lassen. Denn es ist mehr als unwahrscheinlich, dass – in Syrien oder wo auch immer – in der folgenden Zeit so etwas wie ein dauerhafter Frieden Einzug erhalten wird. Der Kampf um die Hoheit in Syrien ist noch lange nicht beendet, er wird weitergehen und von mächtigen Akteuren geführt. Die kurzsichtige Freude über einen vermeintlichen Diktator, der durch vermeintliche Freiheitskämpfer gestürzt wurde, ist wie der Blick auf das Ziffernblatt einer Uhr, er gibt keinerlei Auskunft darüber, wie es um das Innenleben des Zeitmessers bestellt ist. Und die Tatsache, dass an den empfindlichen Stellen der Uhr Leute ihre Finger im Spiel haben, denen das Wissen und das Gespür für deren Empfindlichkeit fehlt, ist nun wahrlich kein Grund zur Freude, sondern sollte eher Besorgnis auslösen.

Tom J. Wellbrock ist Journalist, Autor, Sprecher, Radiomoderator und Podcaster. Er ist Gründungsmitglied und Mitherausgeber der neulandrebellen.

Disclaimer: Berlin 24/7 bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion Berlin 24/7 widerspiegeln. Wir bemühen uns, unterschiedliche Sichtweisen von verschiedenen Autoren – auch zu den gleichen oder ähnlichen Themen – abzubilden, um weitere Betrachtungsweisen darzustellen oder zu eröffnen.

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