Moralinexporte für die Welt

Deutschlands Wirtschaft geht es miserabel. Aber Augenblick! Einen Exportschlager gibt es dann doch: Die Belehrungsindustrie.

Ein Beitrag von Roberto J. De Lapuente

Linken-Wagen beim CSD 2018, Berlin
Fraktion DIE LINKE. im BundestagCC BY 2.0, via Wikimedia Commons

»Deal!« Ob sie das laut gerufen hat, nachdem Donald Trump ihr klargemacht hatte, wie es mit den Zöllen zwischen good old Europe und den Vereinigten Staaten laufen wird? Man kann es sich bildlich vorstellen, wie die Kommissionspräsidentin überglücklich einschlug. Martin Sonneborn von der Partei schrieb bei X, dass Trump mit der Deutschen den Boden aufgewischt habe. Kann man sie nun Ursula von der Lappen nennen? Immerhin eine Verballhornung, wie sie selten passender war. Denn das ist die Vereinbarung in aller Kürze: Europäische Waren werden fortan in den USA mit einem Schutzzoll belegt – US-Waren in Deutschland jedoch nicht. Währenddessen ziehen amerikanische Unternehmen die Rohstoffe aus dem ukrainischen Boden – die Westeuropäer finanzieren derweil das ganze Vorhaben in Osteuropa. Selten waren Westeuropa und damit Deutschland wirtschaftlich so an die Wand gedrückt wie in diesem Moment der Geschichte.

Wobei man das in der Öffentlichkeit gar nicht genau weiß. Das Statistische Bundesamt passte letzte Woche die Quartalszahlen zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) der letzten drei Jahre an. Siehe da, die Rezession war längst da. Sie hat sich nur nicht in der Statistik ausgebreitet. Die Statistiker und das Bundeswirtschaftsministerium sprechen unisono von einem völlig normalen Vorgehen, man würde stets die bestmöglichen Datenquellen nutzen, die später dann durch die tatsächlichen Zahlen ersetzt würden, Fehlberechnungen seien das aber keine. Und politisch unabhängig sei das Statistische Bundesamt selbstverständlich auch: Nicht, dass da jemand auf falsche Gedanken kommt – ein Bundeswirtschaftsminister ist schließlich kein Schwachkopf und belügt nicht willentlich die Leute. Wirtschaftlich läuft es also mehr als bescheiden. Nur ein Wirtschaftszweig boomt mehr denn je, nur in einer Branche scheint Deutschland Weltmarktführer. Beim CSD in Berlin neulich konnte man das sehen.

Wirtschaft am Boden

Aber nochmal zurück zum Skandal, der keiner ist, der keiner sein soll, weil sich kaum einer damit befasst – außer vielleicht Heiner Flassbeck: Sieben Quartale in Folge stagnierte die deutsche Wirtschaft nach neuester Zahlenlage; es war also Rezession, aber keine sprach es aus, musste ja auch keiner aussprechen, weil die Zahlen glücklicherweise etwas anderes sagten. Das aber hätte eine andere Wirtschaftspolitik nötig gemacht – eine, die es in Wirklichkeit nie gab, weil die Quartalszahlen zwar nicht berauschend waren, aber eben auch nicht rezessiv aufblinkten. Ob es freilich eine andere Wirtschaftspolitik gegeben hätte, bleibt auch fraglich, denn die Qualitäten zeitgenössischer Politiker und ihrer auf Zuruf reagierenden Volkswirte lässt viele Zweifel offen. Man könnte es jedoch auch so sehen: Die amtierende Kriegswirtschaft scheint die neue Wirtschaftspolitik und damit die Antwort der Eliten auf die herrschende Misswirtschaft zu sein.

Auf dieser rezessiven Grundlage wäre vielleicht auch eine gesellschaftliche Debatte in Schwung gekommen, wie man es weiter mit der Ukraine und den Milliarden halten sollte, die außer Landes gebracht werden. Denn wenn die eigene Wirtschaft darbt, wenn sie schrumpft und der generierte und zu verteilende Wohlstand klein und kleiner ausfällt, wird es schwieriger, von der Schrumpfungsmasse etwas sachfremd zu verteilen – möchte man jedenfalls meinen. Wir steckten also in einer dramatischen wirtschaftlichen Situation, einer Abwärtsbewegung, wussten es aber nicht, weil die offiziellen Statistiken es nicht auswiesen. Wobei: Natürlich wussten wir es; jeder im Lande, der sich in den letzten Jahren den Rest einer Wahrnehmung gegönnt hat, spürte das am eigenen Leib. Man wusste außerdem von vermehrten Insolvenzen, die der damalige Wirtschaftsminister zu Betriebsurlauben umdeutete. Ladenzeilen verwaisten, Händler klagten über fehlende Kundschaft: All das war sichtbar, manches mindestens spürbar. Aber die Zahlen sagten lediglich, dass es zwar nicht gut, aber nun mal auch nicht besorgniserregend läuft. Im Nachhinein haben wir es jetzt Schwarz auf Weiß.

Dem Wirtschaftsstandort Deutschland geht es miserabel. Der Stillstand ist fassbar. Wobei: Stillstand wäre sogar noch aushaltbar, ja schon regelrechter Fortschritt. Alles scheint im Schwinden. Innovationen und Investitionen: Wo sind sie? Die neue Bundesregierung hat zwar Ausbau und Pflege der Infrastruktur mittels Sondervermögen in Aussicht gestellt, aber dass etwa der Bahnbetrieb dann plötzlich für die Fahrgäste leistungsfähiger würde, darf ausgeschlossen werden. Die Deutsche Bahn plant längst anderweitig: für den Krieg. Da will sie pünktlich sein. Den will sie nicht verpassen. Denn der verspricht traumhafte Renditen. Und wieder kommt einem der amerikanische General Smedley Butler in den Sinn, der schon in den Dreißigerjahren des letzten Jahrhunderts darlegte, dass es eben genau diese Renditenaussichten sind, die auch die zivilen Unternehmen zu kriegstüchtigen Maschinerien umfunktionieren.

Freiheit ist nur ein baumelndes Glied

Was aber in Deutschland wirklich noch klappt, was als Export in die Welt hinausgeht, sollte man nicht unterschlagen. Als Industrienation, die stoffliche Werte schafft, Maschinen, Autos oder Flugzeuge etwa, verlieren wir hierzulande als Nation und Gesellschaft vielleicht den Anschluss. Aber als geistige Kraft, der es gelingt, ein ganz besonderes Denken, eine sehr exklusive Haltung in die Welt zu bringen, taugt die Bundesrepublik dann doch. Auf diesem Sektor ist sie so leistungsstark wie nie zuvor.
Am Samstag vor drei Wochen war gewissermaßen Messe, das Schaulaufen der letzten Branche, die in Deutschland noch was kann. Auf Social Media konnte man etliche Clips von diesem Großereignis bewundern. Der Namen jener Messe: Christopher Street Day (CSD). Dort kam die deutsche LGBTQ-Industrie zusammen, um der Welt die Leistungsstärke des deutschen Haltungs- und Weltanschauungssektors zu präsentieren. Allerlei Innovationen waren zu sehen. Manche baumelten plakativ zwischen den Beinen.

Ein Clip zeigte einen nicht mehr ganz jungen Mann, der »unten ohne« mit baumelndem, ja geradezu wehendem Glied über die Straße lief. Man könnte diesen Mann quasi als den CEO dieses Wirtschaftszweiges betrachten, als Aushängeschild neuen deutschen Wesens, das nicht einfach nur Weltanschauung ist, sondern geradezu ein sexuell-industrieller Komplex, der es aller Welt zeigen möchte. Berlin hat an jenem Samstag vor drei Wochen abermals bewiesen, wie Toleranz und Offenheit funktionieren. Etwas, das man vormals Budapest und dem ungarischen Präsidenten Viktor Orbán eintrichtern wollte. Dass man die Ungarn vor einigen Wochen lehrte, wie sie umzugehen haben mit LGBTQ und allen Zusatzpartikeln, die dieses Kürzel mittlerweile tragen muss, wenn es einem an politischer Korrektheit gelegen ist, musste man geradezu als Eroberung des ungarischen Marktes durch die deutsche Bewusstseinsindustrie einordnen.

Ende Juni monierte die deutsche Öffentlichkeit, dass in Orbáns Budapest der CSD nicht genehmigt werden sollte. Dann aber schlug er dennoch durch, die Budapester Stadtverwaltung wurde von der deutschen Weltanschauungsflak vorweggetrieben und autorisierte die Parade schließlich doch, die dann die Stadt an der Donau mit bizarren Kuriositäten füllte. Denn dort tummelten sich Halbnackte, verkleidete Männer und Frauen und auch Kerle in Hundemasken, das, was man in Deutschland als Ausdruck sexueller Revolution feiert, als homo- und transsexuellen Befreiungsschlag, das aber die Lebenswirklichkeit von Homo- und Transsexuellen gar nicht abbildet: Denn diese Leute sind schließlich keine Comicfiguren, sondern leben einen Alltag wie andere Menschen auch, die meisten erkennt man noch nicht mal, wenn sie einem begegnen. Die Aktivisten, die die CSDs belagern, sind in erster Linie Außendienstangestellte dieser Industrie, die sich als queer verkauft und die nun die letzte Kernkompetenz deutscher Exportfreudigkeit darstellt.

Moralin: Deutschlands Exportschlager Nummer eins

Deutschland schwenkt dieser Tage also um, wird zum Exportweltmeister der Weltanschauung – ein deutsches Phänomen ist diese Haltung schon lange, vielleicht schon immer gewesen. Sicher, die queere Agenda stammt so, wie wir sie heute kennen, mit ihrem Hang zur Show und zur bunten Lächerlichkeit, die wenig oder gar nichts zu tun hat mit dem Alltag von Schwulen etwa oder den Sorgen von Menschen, die sich im Körper des falschen Geschlechtes meinen, aus den Vereinigten Staaten. Dort kultivierte man den Emanzipationskampf dieser betroffenen Gruppen zu einem unterhaltungsindustriellen Event, wie eben alles zur Unterhaltung wird im Land der unbegrenzten Unmöglichkeiten. Auch weil eine solche Modifikation erlaubt, etwaige klassenkämpferischen Elemente zu tilgen. Deutschland hat dieses Event wie so vieles andere übernommen. Oder schlimmer noch: Die Berliner Republik hat sich dieser Show angenommen und will das Geschäft jetzt ernster und akademisierter angehen, als es am Ursprungsort je stattfand. Deutschland möchte den Eventcharakter geradezu versachlichen, zum Hochamt erheben – und das europäische Ausland hat verdammt nochmal mitzuziehen und die Agenda aufzusaugen.

Das ist nicht neu. Wenn man eine Ideologie oder auch nur eine ideologische Spaßveranstaltung den Deutschen übergibt, werden sie eine orthodoxe Lehre daraus basteln. Und diese Lehre werden sie mit so viel Eifer verteidigen, dass sie zu allen Mitteln greifen, die sich bieten. Es gibt Historiker, die die bitterste deutsche Zeit, die ideengeschichtlich ihren Anfang jenseits der Alpen, am deutschen Sehnsuchtsort Italien, nahm, auch so einordnen. Der italienische Faschismus war großspurig, kriegsbereit und sicherlich nicht Ausdruck gelebter Nächstenliebe, vorsichtig ausgedrückt. Als diese Idee jedoch den Brenner nordwärts passierte, hatte sie die besten Chancen, zu einem Ungetüm zu werden, das mindestens ganz Europa in Beschlag nehmen würde. So kam es dann freilich auch, die neue deutsche Weltanschauung wollte in die Welt hinaus. Die Italiener führten auch Kriege, man frage in Äthiopien nach, aber Faschismus wurde erst zur globalen Bedrohung und zur Todesfalle für bestimmte Bevölkerungsgruppen, als sich die Deutschen dieser Lehre annahmen.

Damit soll ausdrücklich nicht gesagt sein, dass das, was heute deutsche Ideologie auf etwaigen bunten Paraden ist, mit dem Nationalsozialismus vergleichbar sei. Darum geht es an dieser Stelle nicht. Aber Lehren zu importieren, um sie dann »zu veredeln«, das kennt man hierzulande zur Genüge. Man muss auch gar nicht so weit gehen, man könnte auch nur ein Vierteljahrhundert zurückblicken: Als die Deutschen den Neoliberalismus für sich entdeckten, wurden sie zu Lordsiegelbewahrern dieser ideologisch verbrämten ökonomischen Lehre. Sie wussten plötzlich für den gesamten Kontinent, was ratsam und notwendig sei und worauf es jetzt zu verzichten gelte. Westeuropa sprach wieder Deutsch, wie Volker Kauder, Merkels Mann für das Grobe, damals kundtat. Man gewinnt den Eindruck, dass Moralin immer gerne Deutsch sprach. LGBTQ ist nun der neueste Schrei des deutschen Moralinexportismus. Alle Welt soll es deswegen mal wieder erfahren: Wir Deutschen, wir haben es begriffen. Nun begreift es auch! Und gebt unseren Aktivisten Aufträge! Autos und Maschinen könnt ihr in Zukunft selbst bauen! Wir machen uns die Hände nicht mehr schmutzig — wir sind jetzt Hohepriester!

Dieser Artikel erschien erstmals unter anderem Namen bei Manova.

Roberto De Lapuente

Roberto J. De Lapuente, Jahrgang 1978, ist gelernter Industriemechaniker und betrieb acht Jahre lang den Blog »ad sinistram«. Von 2017 bis 2024 war er Mitherausgeber des Blogs »neulandrebellen«. Er war Kolumnist beim »Neuen Deutschland« und schrieb regelmäßig für »Makroskop«. Seit 2022 ist er Redakteur bei »Overton Magazin«. De Lapuente hat eine erwachsene Tochter und wohnt in Frankfurt am Main.
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