Seien Sie unbesorgt: Wenn sich Deutschland im Krieg befindet, werden die Verletzten gut versorgt sein. Bleiben Sie aber lieber gesund!
Ein Beitrag von Roberto J. De Lapuente

Der Generaloberstabsarzt des Heeres der Bundeswehr, Ralf Hoffmann, erklärt der Presse dieser Tage, dass im Ernstfall genug medizinische Ressourcen verfügbar wären. »1.000 [Verwundete] am Tag ist so eine Größenordnung, über die wir realistisch reden«, lässt er sich zitieren – wie er auf diese Zahl kommt, bleibt erstmal im Raume stehen. Bauchgefühl vielleicht? Abdominales? – Um es ärztlicher auszudrücken? Der zivile Medizinbetrieb würde hierzu jedenfalls ausreichen, verkündet der Mann. 15.000 Betten würden bei 1.000 Verletzten täglich notwendig werden – bei 440.000 Krankenhausbetten bundesweit ein Klacks.
Ob es hierzu Modellrechnungen gibt und wie die modelliert wurden: Man weiß es nicht. Einzig ahnen darf man. Und die Empirie bemühen. Denn wie Modelle ticken, wie sie eingesetzt werden: Wir haben das bereits erlebt. Und es ist noch nicht mal lange her. Die Corona-Infektionslage wurde mittels Modellierungen »abgebildet« und stark dramatisiert – man griff auf jene Szenarien zurück, die ein möglichst dramatisches Bild zeichneten. Das war damals opportun, um die Maßnahmenpolitik zu stützen. Kann es sein, dass jetzt gerade möglichst moderate Modelle bemüht werden?
Plötzlich leistungsfähig für den Krieg?
Zu Zeiten Coronas klang alles ganz anders: Während Hoffmann öffentlich erklärt, dass das Gesundheitssystem einen Ernstfall bewältigen würde, ging das Gesundheitssystem während jenes »viralen Ernstfalles« auf dem Zahnfleisch. Die Krankenhäuser waren in der Tat überlastet – nicht unbedingt, weil die Patientenzahlen so hoch waren, sondern weil die Verfügbarkeit von Krankenhausbetten sukzessive schrumpfte – man sieht das hier gut am Beispiel von Intensivbetten: Im August 2020 gab es bundesweit noch über 40.000 Intensivbetten inklusive Notfallreserve. Etwas mehr als zwei Jahre danach – im November 2022 – gab es weniger als 30.000 Intensivbetten mit eingerechneter Notfallreserve.
Etliche Krankenhäuser sperrten Betten auf verschiedenen Stationen. Grund: Personalmangel. Schon vor dem Notstand war das im Krankenhausbetrieb völlig normale Praxis. Konnte eine Station personell nicht den Betrieb aufrechterhalten, sperrte man den Fachbereich und die Leitstellen der Krankenfahrdienste, die an das System angebunden waren und sind, fuhren die Patienten in ein anderes Haus, in dem der jeweilige Fachbereich noch neue Patienten versorgen konnte.
Die Politik machte klar, dass die Krankenhäuser am Limit seien – das traf zu, hatte aber nur bedingt mit Corona zu tun. Personelle Engpässe waren die alte Normalität im medizinischen Betrieb. Nun aber kann das Gesundheitswesen in Deutschland angeblich mit einem Ernstfall – mit einem Krieg! – fertigwerden. 1.000 Verletzte am Tag? Kein Problem! 440.000 Krankenbetten sind verfügbar. Die Frage lautet nur: Sind auch alle einsatzfähig? Oder helfen die frantzschernisierten Rentner auf Station aus und verbinden Beinstümpfe und trösten traumatisierte Mitrentner und sichern so die Versorgung? Obgleich es überhaupt Fragen genug gäbe. Eine andere lautet zum Beispiel: Kommt man überhaupt zu den Versorgungspunkten? Kann die Ambulanz noch fahren, wenn deutsche Städte in Schutt und Asche liegen und Straßen zerstört sind? Schafft es das Personal noch hin? Will es überhaupt? Bleiben die Pflegekräfte vielleicht nicht doch lieber daheim bei ihren Kindern, um für die da zu sein? Vielleicht sind sie ja auch verschüttet …
MANV? Gar kein Problem!
1.000 Verletzte: Diese Zahl wirkt zudem untertrieben. Es fällt schwer, die Zahlen des Zweiten Weltkrieges als Grundlage für eine Berechnung heranzuziehen, eben auch, weil sie lediglich auf Schätzungen basieren. Der Krieg währte 2.070 Tage. Bis zu fünf Millionen Soldaten der Wehrmacht und der SS wurden in diesem Zeitraum verwundet. Das macht täglich knapp 2.500 Verwundete im Schnitt – ohne Zivilisten. Man rechnet damit, dass bis zu 1,5 Millionen deutsche Zivilisten verwundet wurden. Regelmäßige Luftangriffe auf Deutschland setzten erst 1942 ein, dauerte also in etwa 1.680 Tage an. Schnitt: 900 verwundete Zivilisten am Tag. Wie gesagt, das sind Schätzungen – und basiert auf einer Einwohnerzahl von 69 Millionen Menschen innerhalb der Grenzen des Altreiches. Heute leben 84 Millionen Menschen in der Bundesrepublik, die noch dazu eng in Ballungsräumen leben.
Außerdem sind das nur Durchschnittszahlen. Alleine bei den Großangriffen auf deutsche Großstädte fielen etliche MANV an – Massenanfall von Verletzten, wie man dergleichen im Rettungswesen abkürzt –, die atemberaubend dramatische Zahlen vorlegten. In Hamburg sollen 1943 innerhalb einer Woche 125.000 verletzte Menschen wegen eines Großangriffes entstanden sein. Knapp 18.000 Verletzte pro Tag, wenn man es so rechnen möchte.
Es mag ja sein, dass der deutsche Gesundheitsbetrieb mit 1.000 Verletzten am Tag zurechtkommt – nehmen wir das mal freundlicherweise an. Aber die entstehen ja nicht in Kontinuität, schön überschaubar mit Sperrklausel gewissermaßen: Sorry, nur 1.000 Verletzte am Tag – stellen Sie sich morgen wieder an! Für heute sind wir voll! In einem Kriegsszenario vollzieht sich der MANV antizyklisch und unregelmäßig. Dass man hier mit Durchschnittszahlen hantiert, um den Bürgern die absolute Kontrolle zu simulieren, lässt tief blicken, wie bürokratisch und eindimensional innerhalb der Bundeswehr über einen Ernstfall nachgedacht wird – man könnte auch sagen: Wie verantwortungslos man dort Szenarien öffentlich präsentiert. Denn mit solcherlei Ansagen wie jenen des oben genannten Bundeswehrarztes, wiegt man die Bevölkerung in einer Sicherheit, die es nicht geben wird, falls es zum Äußersten kommt.
Alles unter Kontrolle? Oder totaler Kontrollverlust?
Die Simulation von Kontrolle: Darum geht es den Verantwortlichen für den Eskalationskurs mit Russland in Wirklichkeit. Sie bemühen sich darum, den Bürger eines vermitteln zu wollen: Sollte es in einen Krieg gehen, Sie werden es nicht mal merken! Versprochen! Klar, man erklärt hier und da auch mal, dass man Opfer bringen muss – alles wird ein wenig schwieriger werden. Aber wir werden alles unter Kontrolle behalten! Den Alltag, die Versorgung, das öffentliche Leben. So wie damals, als dieses Land das Infektionsgeschehen so unglaublich gut kontrollierte: Natürlich war das seinerzeit schon vermessen anzunehmen, man könnte Infektionen durch politische Maßnahmen völlig unter Kontrolle halten – die Zero-Covid-Sekte war hier nur der extremistische Flügel dieser Denkweise. Das war jedoch völlig vermessen – und ist es noch mehr, wenn es um die Kontrolle im Krieg geht.
Den Menschen einzureden, dass der Kampf auf Leben und Tod berechenbar sei, dass man innerhalb der Kriegsdynamiken noch Herr seiner Entscheidungen ist und die Ressourcen vorhanden sind, um eine ganz normale Versorgung zu gewährleisten: Wenn man feststellt, dass die Wahrheit in jedem Krieg das erste Opfer ist, dann meint man genau diese Art von Kontrolllügen, die suggerieren sollen, dass man selbst im Krieg noch auf der sicheren Seite des Lebens steht.
Dieses bisschen an Verletzung, welche es dann geben wird, soll angeblich nebenher behandelt werden können. Den Menschen flüstert man ein, dass sie den Krieg kaum bemerken werden. Und wenn doch mal was ist: Fahren Sie einfach ins Krankenhaus! Wir schaffen das! Krieg als Verwaltungsproblem, das einfach nur ein gutes Management braucht. Viel zu viele Menschen glauben offenbar noch immer, dass diese Führung – bei aller Kritik an ihr – einen kontrollierbaren Plan hat. Wahr ist jedoch: Sie ist außer Kontrolle. Und die Erklärungen von einem Krieg, den wir gut überstehen können, stellen einen totalen Kontrollverlust in puncto Realitätssinn dar.
Roberto J. De Lapuente, Jahrgang 1978, ist gelernter Industriemechaniker und betrieb acht Jahre lang den Blog »ad sinistram«. Von 2017 bis 2024 war er Mitherausgeber des Blogs »neulandrebellen«. Er war Kolumnist beim »Neuen Deutschland« und schrieb regelmäßig für »Makroskop«. Seit 2022 ist er Redakteur bei »Overton Magazin«. De Lapuente hat eine erwachsene Tochter und wohnt in Frankfurt am Main.
Mehr Beiträge von Roberto De Lapuente →
Disclaimer: Berlin 24/7 bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion Berlin 24/7 widerspiegeln. Wir bemühen uns, unterschiedliche Sichtweisen von verschiedenen Autoren – auch zu den gleichen oder ähnlichen Themen – abzubilden, um weitere Betrachtungsweisen darzustellen oder zu eröffnen.