Die Schuldenbremse ist gelockert: Gut so! Doch das wird kein Land aus Deutschland machen, für das man gut und gerne kämpft.
Ein Beitrag von Roberto J. De Lapuente

Große Aufregung im libertären Deutschland: Die neue Bundesregierung will – und das noch bevor sie eine neue Bundesregierung ist – die Schuldenbremse lösen. Sie möchte damit Deutschlands Verteidigung gewährleisten, die entstandenen Freiräume für Rüstung und Militarisierung nutzen. Kritiker monieren, dass man »unseren Kindern« einen gigantischen Schuldenberg hinterlassen wird – wir dürften nicht auf Kosten der nächsten Generation leben. Sie sollten sich aber keine Sorgen machen, »unsere Kinder« werden vermutlich ganz andere Probleme haben. Und viele von ihnen bekommen die Nöte zu hoher Verschuldung auch gar nicht mehr mit.
Jedenfalls muss man das annehmen, wenn man mit offenen Augen und Ohren durch den Alltag geht. Deutschland wird preußisch. Wird militaristisch. Junge Leute sollen wieder in den Krieg ziehen können und dabei Ehre und Stolz empfinden. Da sind sich Regierung, Baldregierung, Opposition und Baldopposition, einig. Ja, selbst die »friedliebende« AfD, deren Exponent Bernd Baumann neulich meinte, dass Soldaten wieder bereit sein müssten, für Deutschland zu sterben. Deutschland marschiert – und Deutschland wird einem Kulturschock unterworfen: Es soll ein Land unter Waffen werden. Ein mitteleuropäischer Pistolero auf Steroiden. Von Diplomatie vernimmt man nichts mehr, der öffentliche Diskurs ist voll auf Konfrontation getrimmt.
Schuldenbremse auflösen: Das schafft Zukunft
Fast eine Billion Euro will man sich Deutschlands weiteres Engagement in Osteuropa kosten lassen – dazu gehört auch die eigene Sicherheitspolitik. Die entriegelte Schuldenbremse soll die Möglichkeit der Neuverschuldung schaffen. Bei diesem Wort fällt vielen im Lande die Kinnlade herunter. Bis neulich auch Friedrich Merz. Nun hat er aber umgedacht. Man möchte ihm gratulieren für diese Flexibilität. Endlich, Friedrich! Zeit wurde es! Hat er also eingesehen, dass die Schuldenbremse das Land infrastrukturell lähmt und es im internationalen Wettbewerb zurückwirft? Dass Schulden eben nicht mit den Augen schwäbischer oder sauerländischer Hausfrauen zu betrachten sind, sondern im volkswirtschaftlichen Kontext als eine Form des Nullsummenspiels?
Schön wäre es ja. Aber natürlich umgeht Merz die Schuldenbremse nur unter sogenannten Sachzwängen. Er will auf diese Weise Deutschland hochrüsten – und wer weiß, wie viele Gelder auch in Projekte fließen werden, um die Kriegsbereitschaft der Deutschen mental »zu produzieren«? Die kognitive Kriegsführung fängt dort an, wo man aus dem Zuhause die Heimatfront macht. Für Projekte abseits der Kriegsertüchtigung bleiben da keine Mittel.
Hätte er jedoch Spielräume geschaffen, um endlich mal die marode Bahn zu einem Betrieb zu schleifen, in dem Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit wieder eine Chance bekommen: Das hätte Deutschland vorangebracht – und auch einen riesigen Herd kollektiver Unzufriedenheit aufgebrochen, mit dem die deutsche Gesellschaft regelrecht gelähmt wird. Noch so ein Herd: Wer schickt schon gerne seinen Nachwuchs in Schulen, in denen die Toiletten nicht funktionieren und von den Wänden der Putz herunterschneit? Von den fehlenden Inhalten, auch bedingt durch Mangel an Mensch und Material – wie Sie sehen, die militärische Ausdrucksweise gelingt schon ganz gut –, gar nicht erst zu sprechen. Es gäbe ferner unzählige marode Brücken und Straßen, Krankenhäuser und Behördenkomplexe, die dringend instandgesetzt werden müssen. Schulden aufzunehmen, um das Land nicht völlig der Verwilderung durch Unterlassung auszusetzen: Das wäre kein Anschlag auf die Zukunft unserer Jugend, wie die Schuldenbremsenfetischisten monieren, sondern das glatte Gegenteil. So schafft man Zukunft, macht handlungs- und wettbewerbsfähig. Machte man – Konjunktiv.
Bezahlt eure Prothesen selbst!
Denn nichts davon passiert ja. Stattdessen sollen die freigemachten Summen für die sogenannte Sicherheitspolitik aufgebracht werden. Damit uns niemand je angreifen kann – weder Putin noch Trump, der im hysterischen Weltbild der Sicherheitsapologeten jetzt auch noch als Aggressor aufläuft. Deutschland gegen den Rest der Welt: Das scheint im Moment die Wahrnehmung in Politik, Staats- und Privatmedien zu sein. Das ganze Aufgebot an Influencern auf Staatsknete hat sich zusammengetan, um Deutschlands neuen Weg zu vermitteln. Und so kann es schon passieren, dass ein Historiker vom letzten Friedenssommer spricht, so ganz nebenbei, ganz leger, aber flankiert von mit dem Kopf nickenden Zuhörern. Die Zustimmung simuliert die Alternativlosigkeit.
Der Medienbetrieb erzeugt das Bild einer Schicksalsgemeinschaft und simuliert den Burgfrieden: Dort sind alle für den neuen Kurs – alle nicken sie, wenn man darauf zu sprechen kommt. Und die entsperrte Schuldenbremse macht ihnen keine Bedenken. Sie sind da schon beträchtlich weiter als die Verfechter dieser Bremse, die immer noch darüber jammern, dass der Schuldenberg wächst. Denn wahrscheinlich ahnen sie, dass die kleinste Sorge der folgenden Generationen sein wird, in einem Land hoher Staatsverschuldung zu leben. Wenn dieses Treiben nämlich so zielführend weitergehen wird, mündet das in einen Krieg. Und Deutschlands Jugend reibt sich auf Schlachtfeldern auf. Kommt verstümmelt zurück. Im Zweifelsfall lässt man sie hernach ihre Prothesen selbst bezahlen, damit die Staatsschulden nicht noch höher werden.
Auf diese Weise sollen sie Deutschland verteidigen. Ihr Land – ihr Vaterland, wie man früher sagte und bald schon wieder. Damit wir unsere Art zu leben nicht fremdbestimmen lassen. Aber was lohnt es sich denn zu verteidigen? Pfandflaschen sammelnde Rentner? Damit die so weitermachen können wie bisher? Ein völlig korruptes Berlin? Soll mein Kind bluten, damit Berlins Lobbyisten und Politiker weiter Geschäfte gegen die Interessen der Bevölkerung machen können? Lohnt es sich, dass mein Kind ohne Beine zurückkommt aus einem Einsatz, damit man auch künftig seine Meinung nicht laut sagen darf, wenn sie nicht gerade opportun ist? Sollen die Menschen wirklich das Wichtigste, das sie haben – ihre Kinder – zum Einsatz bringen, um etwas zu verteidigen, für das sie nicht das Wichtigste sind, dieser deutsche Staat nämlich?
Das Land anderer Leute verteidigen
Unsere Kinder leiden in einem solchen Szenario, in dem sie ein Land verteidigen sollen, dass anderen Leuten als ihnen oder ihren Familien gehört. Die Kinder derer, die sich das Land untertan gemacht haben, kommen mit allen Extremitäten über die Zeit. Das ist so sicher wie nur was. Das war noch immer so. Wenn wir auch in Zeiten leben, in denen nichts mehr Bestand hat, alles dekonstruiert wird, selbst die Dualität der Geschlechter nicht mehr gelten soll: Diese Kontinuität bleibt erhalten. Die Kinder der herrschenden Klasse bleiben unangetastet – und wenn der Spuk vorbei ist, übernehmen sie »ihr Land« und bedrängen jene, die für dieses Land ihr Leben riskiert haben.
Deutschland hat sich in den letzten Dekaden in einen dunklen Ort entwickelt. Ja, in eine Hölle. Das Land ist dysfunktional und zerrissen. Es funktioniert auf so vielen Ebenen nicht mehr richtig. Deutschland ist ein großartiger Platz, wenn man über ausreichend Geldmittel verfügt. Für alle anderen ist das Land zu einem Hürden- und manchmal sogar zu einem Spießrutenlauf geworden. Krank werden bedeutet hier, nicht nur gegen die Krankheit selbst, sondern auch gegen das Gesundheitssystem, einem System des Mangels, antreten zu müssen. Und wer täglich Zug fährt, der verplempert seine Lebenszeit auf eine Weise, die depressiv macht. Dazu dreckige Innenstädte, nicht betreute Bausubstanz, Baustellen ohne Personal, Behördenunfähigkeit, darbende digitale Infrastruktur, überfüllte Ballungszentren. Ist das ein Deutschland, in dem man gut und gerne lebt, wie es einst ein Plakat der Merkel-CDU verkündete?
Warum sollte man dann dafür gut gerne kämpfen wollen? Wo sind denn die Perspektiven, um wieder dafür bereit zu sein, für das Land zu sterben, um es mit den unsäglichen Worten von AfD-Baumann zu sagen? Diese Alltagshölle in der Hölle des Krieges zu verteidigen: Das generiert keinerlei Siegeschance. Menschen verteidigen Orte mit ihrem Leben, an denen sie gesund und glücklich leben, aber nicht wo es sie auf Sofas von Psychiatern treibt oder der Willkür von Behörden und Unternehmen aussetzt. Denn wenn man darüber nachdenkt, fragt man sich unwillkürlich: Was wäre denn so viel schlimmer als dieses Jetzt, wenn der Feind – welcher auch immer – uns überrennt? Kein Land der Welt ist es wert, dass man die Jugend des Landes in eine Knochenmühle steckt, aus der es für viele kein Entkommen mehr gibt. Aber für ein Land, in dem alles gegen seine Bürger läuft, ist das erst recht keine Option.
Roberto J. De Lapuente, Jahrgang 1978, ist gelernter Industriemechaniker und betrieb acht Jahre lang den Blog ad sinistram. Von 2017 bis 2024 war er Mitherausgeber des Blogs neulandrebellen. Er war Kolumnist beim Neuen Deutschland und schrieb regelmäßig für Makroskop. Seit 2022 ist er Redakteur bei Overton Magazin. De Lapuente hat eine erwachsene Tochter und wohnt in Frankfurt am Main. Im März 2018 erschien sein Buch „Rechts gewinnt, weil links versagt“.
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