Spannende Zeiten – der Spannungsfall wird zum Thema

  • POLITIK
  • Oktober 5, 2025
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Roderich Kiesewetter fordert die Bundesregierung aktuell dazu auf, den Spannungsfall auszurufen. Wie sieht das Land in einem solchen Spannungsfall aus?

Ein Beitrag von Roberto J. De Lapuente

shutterstock/Michele Ursi

Der »Spannungsfall« wurde in den Sechzigerjahren mit starken Protesten auf Deutschlands Straßen quittiert. Damals, es war Kalter Krieg, verabschiedete der Bundestag die Notstandsgesetze, die Deutschland für Krisenzeiten rüsten sollten. Heute ist der Begriff weitgehend vergessen, doch er steht noch immer im Grundgesetz. Gemeint ist eine Ausnahmesituation zwischen Frieden und Krieg: Ohne dass ein feindlicher Angriff vorliegt, kann sich der Staat auf diese Weise besondere Befugnisse verleihen.

Die Basis ist Artikel 80a des Grundgesetzes. Dort ist geregelt, dass der Bundestag den Spannungsfall feststellen kann. Es braucht hierzu eine Zweidrittelmehrheit*. Mit diesem Beschluss treten sodann Gesetze in Kraft, die in Friedenszeiten ruhen: eben jene Notstandsgesetze (zum Beispiel: Wirtschaftssicherstellungsgesetz, Zivilschutz- und Katastrophenhilfegesetz, Ernährungssicherstellungsgesetz). Sie erweitern die Handlungsfähigkeit des Staates – und schränken zugleich die Rechte des Einzelnen ein. Der Spannungsfall ist damit ein Zwischenzustand: Er unterscheidet sich vom Verteidigungsfall (bewaffneter Angriff) und vom inneren Notstand (massive innere Unruhen). Und er zeigt an: Wir sind noch nicht im Krieg, aber wir müssen uns darauf einstellen.

Was kann die Bundesregierung dann tun?

Militärische Maßnahmen: Die Wehrpflicht kann dann ohne parlamentarische Kontrolle eingeführt werden. Grundwehrdienstleistende können einberufen, Reservisten aktiviert werden. Frauen können in Sanitäts- und Heilberufen verpflichtet werden (Art. 12a GG). Auch der Einsatz der Bundeswehr im Innern wird dann möglich – zur Sicherung von Objekten, Verkehrswegen oder zur Abwehr von Bedrohungen.

Mehrere Grundrechte treten in den Hintergrund – unter anderem: Das Post- und Fernmeldegeheimnis (Art. 10 GG) – die Überwachung von Kommunikation wird erlaubt. Die Freizügigkeit (Art. 11 GG) – Bewegungsfreiheit kann beschränkt, Reiseverbote erlassen, Sperrzonen eingerichtet, Evakuierungen angeordnet werden. Die Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 GG) – Wohnungen können beschlagnahmt oder als Notunterkünfte oder Kommandozentralen genutzt werden; außerdem werden Wohnungsdurchsuchung ohne richterlichen Beschluss möglich. Die Berufsfreiheit (Art. 12 GG) – Bürger können zu bestimmten Tätigkeiten verpflichtet werden: etwa im Transportwesen, in Krankenhäusern oder in der Rüstungsindustrie.

Wirtschaftliche Eingriffe: Mit dem Wirtschaftssicherstellungsgesetz kann der Staat tief in die Wirtschaft eingreifen: Rohstoffe können zugeteilt, Preise festgelegt und Betriebe zur Produktion bestimmter Güter verpflichtet werden. Tankstellen dürfen nur noch Militär, Polizei und Rettungsdienste versorgen. Auch Lebensmittel könnten rationiert werden.

Zivilschutz: Nach dem Zivilschutz- und Katastrophenhilfegesetz können Schutzräume genutzt, Städte evakuiert und Bürger zum Hilfsdienst verpflichtet werden. Feuerwehr, Rettungsdienste, Krankenhäuser stehen dann unter staatlicher Kontrolle.

Eingriffe in die Pressefreiheit: Offiziell bleibt Art. 5 GG unangetastet – auch im Spannungs- oder Ernstfall. Allerdings könnte journalistische Korrespondenz gesichtet werden – und kritische Berichterstattung als Defätismus eingeordnet werden. Die Bundesregierung müsste dann nicht mehr vorschieben, dass Desinformation betrieben wird, denn im Spannungsfall könnten auch Informationen mit hohen Wahrheitsgehalt defätistisch sein. Papierzuteilungen könnten zudem die Publikation von Zeitungen und Büchern ausbremsen.

International: Der Spannungsfall erleichtert NATO-Truppenbewegungen auf bundesdeutschem Gebiet, die Nutzung von Infrastruktur durch Verbündete und die Umsetzung von Bündnisplänen kann ohne parlamentarische Kontrollmechanismen erfolgen.

Ein Blick auf den Spannungsfall-Alltag

Auf Grundlage dieser Notstandsgesetzgebung könnte so zum Beispiel ein LKW-Fahrer dazu verpflichtet werden, künftig Treibstoff für die Bundeswehr zu transportieren und seinen eigentlichen Job ruhen zu lassen. Oder eine Familie muss vielleicht ihre Wohnung verlassen, weil sie als Quartier für Soldaten gebraucht wird. In einer Grenzregion dürften Zivilisten bestimmte Straßen nicht mehr nutzen und neu errichtete Sperrzonen nicht betreten. Wer im medizinischen Sektor arbeitet – oder mal gearbeitet hat –, könnte einen Bescheid zum Pflichtdienst erhalten. Fratzschers Arbeitsdienst für Rentner: Im Spannungsfall könnte er schnell Realität werden.

Es ist ferner davon auszugehen, dass die Bundesregierung im Spannungsfallmodus den Paragraph 109d StGB, Störpropaganda gegen die Bundeswehr, mit aller Härte verfolgen wird. Erleichterte Wohnungsdurchsuchungen spielte der Verfolgung von Menschen, die sich eine kritische Haltung zur neuen Normalität erlauben, nützlich in die Karten. Kritischen Journalisten könnte man Herr werden, indem sie zum Arbeitsdienst zwangsrekrutiert werden.

Der Spannungsfall erlaubt der Bundesregierung – ohne Kontrollmöglichkeiten –, tief in den Alltag der Bundesbürger einzugreifen und sie physisch wie psychisch massiv unter Druck zu setzen. Die Erfahrung mit dem Corona-Notstand lässt vielleicht erahnen, wie die politischen Eliten der Berliner Republik mit ihrer neuen Macht umgehen werden. Offiziell wird natürlich Russland als Auslöser des Spannungsfalles genannt sein, während die Bundesregierung einen regelrechten Krieg gegen die eigene Bevölkerung anfachen könnte – und würde?

Ohne Kontrolle

Zwar bleibt den Bürgern der Rechtsweg auch in einem Szenario des Spannungsfalles offen, sie könnten sogar Klagen gegen Maßnahmen des Spannungsfalles beim Bundesverfassungsgericht einreichen – was einem sehr bekannt vorkommen mag –, aber dass damit eine Kontrollfunktion gegen etwaigen Machtmissbrauch vorgebeugt würde, glaubt wohl kaum jemand nach den Erfahrungen im Krisenmodus ab dem Jahr 2020.

Wie missbrauchssicher der Spannungsfall nun tatsächlich wäre, darüber findet sich wenig Literatur – auch, weil er auf diese Weise noch nicht stattfand. Geregelt ist, dass der Spannungsfall keine Dauereinrichtung sein dürfe, sondern nur so lange gelten soll, wie eine Bedrohung stattfinde: Aber genau das ist ein Problem, denn den Spannungsfall beendet die Bundesregierung per Beschluss mit einfacher Mehrheit – kein kontrollierender Dritter. Es gibt folglich keine Kontrollinstanz, es sei denn, man wertet ein Bundesverfassungsgericht als solches – ein Gericht also, das mit politischem Personal durchsetzt ist und welches in der Vergangenheit schon relative Sympathie für die politischen Entscheider aufzeigte.

Roderich Kiesewetter forderte also den Spannungsfall – was er hier fordert, ist die totale – und ja: totalitäre – Einflussnahme des Staates auf die privaten Leben der Bürger. Der Spannungsfall ist eine Kriegserklärung an allem, was jenen, die die Demokratie stets mit blumigen Worten gegen das Böse verteidigen, eigentlich unantastbar sein sollte. Spannend ist das allemal …

* An dieser Stelle hieß es zunächst, dass eine einfache Mehrheit reiche. Das trifft nicht zu. Ebenso hat der Bundesrat keine Zustimmungsberechtigung.

Roberto De Lapuente

Roberto J. De Lapuente, Jahrgang 1978, ist gelernter Industriemechaniker und betrieb acht Jahre lang den Blog »ad sinistram«. Von 2017 bis 2024 war er Mitherausgeber des Blogs »neulandrebellen«. Er war Kolumnist beim »Neuen Deutschland« und schrieb regelmäßig für »Makroskop«. Seit 2022 ist er Redakteur bei »Overton Magazin«. De Lapuente hat eine erwachsene Tochter und wohnt in Frankfurt am Main.
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Disclaimer: Berlin 24/7 bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion Berlin 24/7 widerspiegeln. Wir bemühen uns, unterschiedliche Sichtweisen von verschiedenen Autoren – auch zu den gleichen oder ähnlichen Themen – abzubilden, um weitere Betrachtungsweisen darzustellen oder zu eröffnen.

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