Unbelehrbare Westeliten: „Multipolarisierung“ ist schlecht – der Münchner Sicherheitsbericht 2025, Teil 2

In diesem Teil rücken Japan, Brasilien und Südafrika in den multipolaren Focus der Münchner Sicherheitskonferenz. Am Ende folgt eine Analyse des Polarisierungs- und Konfliktpotenzials, das in diesem Bericht steckt, der unzweifelhaft unipolare Konfrontation der multipolaren Kooperation vorzieht.

Eine Analyse von Rainer Rupp

Ursula von der Leyen, Präsidentin der EU-Kommission, spricht auf der Tagung. Die 61. Münchner Sicherheitskonferenz (MSC). dpa

Japan wird in Kapitel 7 als „eine typische Status-quo-Macht“ präsentiert. Tokio sei tief in den liberalen Internationalismus und die Vorherrschaft der USA eingebunden. Daher sei man „in Japan besonders beunruhigt über das Ende des unipolaren Moments, über den Aufstieg Chinas und die Aussichten auf eine neue multipolare Ordnung“. Unter den Antworten auf die Umfrage für den Münchener Sicherheitsindex 2025 seien es die Japaner gewesen, die sich am meisten Sorgen über eine multipolare Welt machten. Andererseits habe sich Tokio länger als die meisten anderen auf diese geopolitischen Veränderungen vorbereitet. Außerdem zeigen zahlreiche neue Maßnahmen (Anspielung auf QUAD), dass Japan bereit sei, „sich und die Ordnung, die es schätzt, zu verteidigen.“

Brasilianische Führer, im Gegensatz zu Japan, sähen im Aufkommen einer multipolaren neuen Ordnung eine Gelegenheit, veraltete Machtstrukturen zu reformieren und den Ländern des Globalen Südens eine stärkere Stimme zu geben, heißt es im vorletzten Kapitel 8. Aus diesem Grund habe Brasilien bei seiner G20-Präsidentschaft letzten Jahres Reformen der globalen Regierungsführung zusammen mit anderen Prioritäten des Globalen Südens wie Armutsbekämpfung und Ernährungssicherheit an die Spitze der Agenda gesetzt. Mit seinen bedeutenden natürlichen Ressourcen hat Brasilien das Potenzial, seinen globalen Einfluss weiter zu steigern und Debatten über Ernährungs-, Klima- und Energiesicherheit zu gestalten. Doch die Aufrechterhaltung von Brasiliens traditionelle Politik der Blockfreiheit „könnte angesichts steigender geopolitischer Spannungen und vor allem wegen einer zweiten Amtszeit Trumps schwieriger werden“, heißt es unter kaum verhüllter Anspielung auf Trumps Drohankündigung einer neuen Monroe-Doktrin und exklusiven Dominanz der USA über ganz Lateinamerika.

Im letzten Kapitel 9 steht Südafrika im Fokus. Dessen Enthusiasmus für die Multipolarität sei nicht zu trennen von seiner Kritik an der bestehenden internationalen Ordnung, insbesondere an nicht repräsentativen internationalen Institutionen. Pretoria kritisiert regelmäßig westliche Staaten für die selektive Anwendung internationalen Rechts. Südafrika wurde lange als „natürlicher Führer“ Afrikas und als internationales moralisches Vorbild wahrgenommen. Doch mit dem Anstieg des Anti-West-Gefühls im Land und dem Rückgang bei der Förderung von Menschenrechten und internationalem Recht hat das Land auch an internationalem Ansehen verloren.

Abschließend urteilen die Autoren, dass die „Visionen von Multipolarität auch polarisieren“. Dies mache es zunehmend schwieriger, die bestehende Ordnung friedlich anzupassen, neue Rüstungswettläufe zu vermeiden, gewalttätige Konflikte innerhalb und zwischen Staaten zu verhindern, ein inklusiveres wirtschaftliches Wachstum zu ermöglichen und gemeinsam Bedrohungen wie den Klimawandel anzugehen, den die Befragten zum Münchener Sicherheitsindex konstant hoch bewerten.

Da die „großen und nicht so großen Mächte“ diese Herausforderungen nicht allein bewältigen könnten, werde ihre Zusammenarbeit entscheidend sein. Dass viele in der internationalen Gemeinschaft weiterhin den regelbasierten Multilateralismus schätzen, zeigte sich in der letzten Jahresverabschiedung des Pakts für die Zukunft. Damit diese Zusammenarbeit gelingt, könnte die Welt jedoch gut etwas „Entpolarisierung“ gebrauchen. 2025 wird zeigen, ob dies in den Karten liegt – oder ob die Welt noch weiter gespalten wird.

Fazit  Polarisierung und Konfliktpotenzial:

Der Text des Münchener Sicherheitsberichts 2025 bietet mehrere Hinweise, dass die Autoren dem alten unipolaren Modell mit der US-diktierten regelbasierten Unordnung nachtrauern. Wenn man z. B. wie in Kapitel 1 schreibt: „Pessimisten warnen vor einem erhöhten Risiko von Unordnung und Konflikten und einer untergrabenen effektiven Zusammenarbeit“, dann suggeriert das, dass im westlichen Kontext der G7-Länder die Multipolarisierung als eine Quelle von Unordnung und Konflikt gesehen wird, was implizit eine Neigung zur Konfrontation anstatt zur Kooperation impliziert.

Dies wird vor allem durch die ominöse Passage mit Anspielungen auf Rüstung und Krieg am Ende der obigen Zusammenfassung deutlich. Demnach machen es die aktuellen globalen Entwicklungen hin zur Multipolarität den westlichen Akteuren, die weiterhin in der neoliberalen US-Unipolarität gefangen sind, „zunehmend schwierig, ihre bestehende Ordnung friedlich anzupassen, neue Rüstungswettläufe zu vermeiden, gewalttätige Konflikte innerhalb und zwischen Staaten zu verhindern und ein inklusiveres wirtschaftliches Wachstum zu ermöglichen.“

Diese Passage betont, dass die Probleme und Schwierigkeiten, die mit dem Umstieg auf Multipolarität einhergehen, von den Westeliten eher als antagonistische Herausforderungen und Konflikte gesehen werden als eine Chance zu einer erweiterten Kooperation und einer Win-Win-Zukunft.

Im Text als Ganzes wird unverkennbar deutlich, dass der Westen im Wettstreit der Polaritäten Konfrontation statt Kooperation vorzieht. Hinzu kommt eine überhebliche eurozentrische Weltsicht, die sich zwar in Nebensätzen äußert, aber dennoch das Weltbild der Autoren offenbart. Z. B. im Kapitel über Südafrika heißt es:

„Mit dem Anstieg des Anti-West-Gefühls hat Südafrika … an internationalem Ansehen verloren!“

Die Logik der Autoren ist bestechend, denn ihre Aussage würde nur stimmen, wenn die „internationale Gemeinschaft“ ausschließlich aus den wenigen unipolar ausgerichteten prowestlichen Staaten bestehen würde. Aus multipolarer Sicht müsste der Satz folgendermaßen lauten:

„Mit dem Anstieg des Anti-West-Gefühls hat Südafrika … an internationalem Ansehen gewonnen!“

Im Kapitel über Europa wird die EU als Symbol der liberalen internationalen Ordnung dargestellt, die durch die Multipolarisierung bedroht ist, was eine defensive, wenn nicht sogar konfrontative Haltung gegenüber der Multipolarität impliziert.

Im Kapitel über China wird deutlich, dass die Autoren Chinas Bemühungen zur Multipolarität eher als eine Taktik für Machtwettbewerb interpretieren, was nicht auf eine ernstzunehmende Bereitschaft des Westens für eine konstruktive Annäherung an die neue Multipolarität schließen lässt, sondern eher auf eine konfrontative Haltung. Zudem zeigt dieses Kapitel, dass US-Außenpolitik unter Trump stärker auf Konfrontation mit China ausgerichtet sein wird, was ohnehin die Anti-These zu kooperativen Ansätzen im Sinne der Multipolarität prophezeit.

Zusammengefasst lässt sich sagen, dass der Bericht zwar vage eine globale Mehrheit anerkennt, die in der Multipolarität Chancen sieht, jedoch die westlichen Perspektiven (insbesondere der G7-Länder) als besorgt und eher konfrontativ gegenüber dieser Entwicklung erscheinen lässt. Diese Sichtweise wird durch die Betonung der Risiken wie Unordnung, Konflikte und Machtwettbewerb gestützt, was eine Präferenz für Konfrontation über Kooperation widerspiegelt. Geradezu lächerlich ist es, wenn der Bericht die Notwendigkeit und den Wert von Kooperation im Kontext globaler Herausforderungen nur für einen einzigen Bereich anerkennt, nämlich für den Klimawandel, der zu einer Geldmaschine für die westlichen Eliten geworden ist.

Kooperation im Kontext globaler Herausforderungen in den weitaus wichtigeren Bereichen wie Rüstungskontrolle, vertrauensbildende Maßnahmen und Abrüstung, Frieden mit Russland und China, diese Themen kamen den Autoren und ihren Auftraggebern gar nicht erst in den Sinn.

Rainer Rupp, Jahrgang 1945, arbeitete von 1977 bis 1989 für die Hauptverwaltung Aufklärung, die Auslandsspionage der DDR. Er war live dabei, als in den 80iger Jahren ein Atomkrieg geplant wurde. Rainer Rupp ist es zu verdanken, dass die NATO – Übung “Able Archer” 1983 nicht zum atomaren Armageddon führte. Er verhinderte es, als die Sowjetunion eine irrtümliche atomare Gegenreaktion auslöste.  Er wurde von der BRD-Justiz 1994 wegen Landesverrats zu zwölf Jahren Haft verurteilt. Er arbeitete unter dem Decknamen „Topas“ und war der wichtigste Spion des Warschauer Paktes im NATO-Hauptquartier. Seit seiner Entlassung arbeitet er als Publizist. Im März 2023 organisierte er in Berlin die Friedenskonferenz «Dialog statt Waffen» mit ehemaligen Generälen der Bundeswehr und der Nationalen Volksarmee. 

Rainer Rupp ist Mitglied des Beirats des Deutschen Freidenker-Verbandes

Disclaimer: Berlin 24/7 bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion Berlin 24/7 widerspiegeln. Wir bemühen uns, unterschiedliche Sichtweisen von verschiedenen Autoren – auch zu den gleichen oder ähnlichen Themen – abzubilden, um weitere Betrachtungsweisen darzustellen oder zu eröffnen. 

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