Vom Handelskapital zum kognitiven Kapital: Das historische Ende des Kapitalismus und die Unausweichlichkeit des Übergangs zu einer neuen Gesellschaft

Die Geschichte des Kapitals ist die Geschichte seiner Akkumulations- und Herrschaftsformen. Jede Epoche brachte ihre dominierende Form des Kapitals hervor, die nicht nur die Ökonomie prägte, sondern auch die gesellschaftliche und kulturelle Struktur bestimmte. Diese Dynamik nachzuzeichnen bedeutet zu verstehen, in welche Richtung sich die moderne Welt bewegt und welche Möglichkeiten sich jenseits des Kapitalismus eröffnen.

Ein Beitrag von Ruslan Yaworsky

Euro-Geldscheine mit unterschiedlichen Werten liegen auf einem Tisch. dpa

1. Handelskapital

Entstanden im Spätmittelalter und in der Epoche der großen geographischen Entdeckungen war das Handelskapital das Kapital der Vermittlung. Seine Stärke beruhte auf der Kontrolle über Warenströme und Austausch. Kaufleute, Handelshäuser und Kolonialgesellschaften machten den Welthandel zur Quelle des Reichtums. Doch das Handelskapital schuf keinen neuen Wert innerhalb der Produktion – es verteilte ihn lediglich um, gestützt auf Preisunterschiede und das Monopol über Transport- und Handelswege.

2. Industriekapital

Das 19. Jahrhundert wurde zum Zeitalter des Industriekapitals. Fabrik, Dampfmaschine und Massenproduktion begründeten eine neue Logik des Kapitals. Hier wurde der Mehrwert erstmals systematisch durch die Ausbeutung der Arbeit erschlossen. Das Industriekapital machte die Arbeitskraft zur Hauptquelle des Profits und stellte die Lohnarbeit ins Zentrum des gesamten ökonomischen Systems. Es war Kapital, das auf die Produktion materieller Güter ausgerichtet und in der klassischen Form der bürgerlichen Gesellschaft verankert war.

3. Finanzkapital

Das Ende des 19. und der Beginn des 20. Jahrhunderts waren geprägt vom Aufstieg des Finanzkapitals, wie ihn Rudolf Hilferding beschrieben hat. Es handelte sich um die Verschmelzung von Bank- und Industriekapital, wobei die Macht in die Hände derjenigen überging, die Kredite, Investitionen und Kapitalströme kontrollierten. Finanzkonzerne und Banken wurden zur dominierenden Kraft, während der Staat zunehmend mit den Interessen der Finanzeliten verflochten war. Der Profit hing immer weniger von der Produktion ab und immer stärker von der Bewegung des Geldes und der Kontrolle des Kredits.

4. Digitales Kapital

Das Ende des 20. und der Beginn des 21. Jahrhunderts markieren eine neue Etappe. Internet, globale Netzwerke und digitale Konzerne brachten den Plattformkapitalismus hervor. Google, Amazon, Facebook und andere Giganten bauten ihre Imperien nicht auf Fabriken oder Krediten, sondern auf Daten. Hier liegt die Quelle des Wertes nicht im physischen Arbeitsaufwand, sondern in Informationsflüssen, Kommunikationskontrolle und Netzwerkeffekten. Plattformen wurden zu neuen Infrastrukturen der Gesellschaft, und der Zugang zu ihnen wurde zu einer Form der Abhängigkeit, die der Abhängigkeit des Arbeiters von der Fabrik vergleichbar ist.

5. Kognitives Kapital – die letzte Stufe

Heute sind wir Zeugen der Geburt des kognitiven Kapitals – des Kapitals der künstlichen Intelligenz und Algorithmen. Anders als das Industriekapital beutet es nicht die Muskeln, sondern den Verstand aus; anders als das Finanzkapital beschränkt es sich nicht auf die Umverteilung von Ressourcen, sondern schafft die Bedingungen für die Produktion von Wissen. Algorithmen und Modelle werden zu „Denkmaschinen“, die Texte, Bilder und Prognosen erzeugen. Der wichtigste Rohstoff sind Daten, die zentrale Profitform ist die algorithmische Rente, basierend auf der Monopolisierung von Berechnungen und Wissen.

Das kognitive Kapital markiert die äußerste Stufe des Kapitalismus: Hier benötigt das Kapital die Arbeit nicht mehr direkt als Quelle des Wertes. Es strebt nach Autonomie, nach Selbstreproduktion, in der Algorithmen Algorithmen trainieren und Konzerne wie Staaten versuchen, Wissen in Privateigentum zu verwandeln.

6. Perspektive des Übergangs zu Polis-Gemeinschaften

Genau hier stellt sich die Frage nach der Zukunft. Wenn das Handelskapital den Welthandel, das Industriekapital die Fabrikgesellschaft, das Finanzkapital die globalen Märkte und das Plattformkapital die digitalen Imperien hervorgebracht hat, dann bereitet das kognitive Kapital den Boden für den Austritt aus dem Kapitalismus.

Es wächst aus der Logik des Plattformkapitals heraus, transformiert diese jedoch radikal. Während der Plattformkapitalismus auf dem Monopol der Infrastrukturen beruhte (Suchmaschinen, Marktplätze, soziale Netzwerke), bei dem der Wert aus der Kontrolle über Netzwerke und Nutzerdaten gezogen wurde, geht das kognitive Kapital darüber hinaus. Daten sind nicht länger nur „Rohstoff“ für Werbemodelle und Statistiken, sondern werden zum Treibstoff für Systeme, die selbständig Wissen, Texte, Prognosen und Entscheidungen generieren.

Der Profit hängt nicht mehr nur von der Ausbeutung der Aufmerksamkeit oder digitaler Gewohnheiten ab, sondern basiert zunehmend auf der algorithmischen Rente – der Monopolisierung der Denkprozesse selbst. Damit schließt das kognitive Kapital die Entwicklungslinie des Kapitalismus ab: Es vollendet den Zyklus der Entfremdung, indem nicht nur Arbeit, sondern auch Wissen, Sprache und Kreativität in kapitalisierte Ressourcen verwandelt werden. Deshalb kann man es als die letzte Phase des Kapitalismus betrachten, nach der ein Übergang zu einem neuen globalen Modell unvermeidbar wird – zu postkapitalistischen „Polis-Gemeinschaften“, in denen Kollektive Daten und Algorithmen kontrollieren und die kognitiven Ressourcen der monopolistischen Verfügung der Konzerne entziehen.

Ein solcher Übergang könnte den Ausweg aus der kapitalistischen Logik von Monopol und Entfremdung markieren – hin zu einer Gesellschaft, in der Wissen, Kreativität und Technologie nicht dem Profit, sondern der freien Entwicklung des Individuums und der Kollektive dienen.

7. Schlussfolgerung

Die Geschichte des Kapitals ist die Geschichte sukzessiver Formen der Entfremdung. Doch jede neue Form bereitet den Boden für die Überwindung der Logik des Kapitals selbst. Das kognitive Kapital ist die letzte Stufe, in der die Ausbeutung ihren Höhepunkt erreicht, indem der Gedanke selbst in eine Ressource verwandelt wird. Eben deshalb eröffnet gerade diese Stufe die Möglichkeit eines radikalen Bruchs: den Übergang zu Polis-Gemeinschaften als postkapitalistischer Form der gesellschaftlichen Organisation.

Ruslan Yavorsky. Geboren 1973. Diplom-Wirtschaftsingenieur und Master in Internationaler Volkswirtschaftslehre. Tätig in den Bereichen Management und Ingenieurwesen. Autor mehrerer Publikationen auf Russisch und Deutsch. Lebt in Dresden und ist Vater von drei Kindern.

Disclaimer: Berlin 24/7 bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion Berlin 24/7 widerspiegeln. Wir bemühen uns, unterschiedliche Sichtweisen von verschiedenen Autoren – auch zu den gleichen oder ähnlichen Themen – abzubilden, um weitere Betrachtungsweisen darzustellen oder zu eröffnen.

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