Seit März 2023 gibt es in der Kleinstadt Awdijiwka kein einziges Haus, das unversehrt geblieben wäre. Vor dem Krieg zählte sie rund 37.000 Einwohner, heute wird die Einwohnerzahl auf höchstens 1.600 geschätzt.
Ein für die Ostukraine eigentlich typisches Paradoxon: Bei der Volkszählung 2001 ließen sich 63,5 Prozent der Einwohner als Ukrainer eintragen, knapp über 33 Prozent als Russen. Zugleich gaben mehr als 87 Prozent Russisch als ihre Muttersprache an und nur 12,5 Prozent Ukrainisch.
Als die „Volksrepublik Donezk“ 2014 ihre Unabhängigkeit von Kiew ausgerufen hat, wurde Awdijiwka, die nur 13 Kilometer nördlich von der Stadt Donezk liegt, zu einer Frontstadt. Noch im selben Jahr kam Awdijiwka für vier Monate unter Kontrolle der prorussischen Streitkräfte der abtrünnigen Volksrepublik, danach wurde die Kleinstadt von den Ukrainern zurückerobert. Seit dem Wiederaufflammen der Kampfhandlungen im Februar 2022 ging es wieder los. Awdijiwka ist insofern von Bedeutung, weil die Stadt auf dem Weg von Donezk nach Konstantinowka, Kramatorsk und Slawjansk liegt. Außerdem lässt sich die Stadt Donezk von Awdijiwka aus optimal beschießen.
Wie es in den Kriegszeiten eigentlich so üblich ist, lassen sich die Frontberichte meist kaum verifizieren. Jede Seite ist bemüht, die Verluste der jeweils anderen bekannt zu geben und die eigenen geheim zu halten. Fakt ist, dass die Stadt seit mindestens zwei Monaten dermaßen heiß umkämpft ist, dass der Name Awdijiwka nahezu täglich in diesen Frontberichten auftaucht. Das Bild, das dabei herauskommt, lässt stark anmuten, dass dort die Hölle los ist und dass beide Seiten täglich etliche Hundert Leichen zu verzeichnen haben. Die Opferzahl bei den Angreifern dürfte aber, soweit man selbst als Laie beurteilen kann, wesentlich höher liegen. Der Sinn des Ganzen dürfte dementsprechend so aussehen: Über kurz oder lang würden die Ukrainer die Stadt bzw. das, was von der übriggeblieben ist, aufgeben, für Kiew besteht das Ziel aber darin, dass Russland maximalen Preis für ein Ziel zahlt, das sich zwar als Erfolg präsentieren lässt, für das Endergebnis des Konflikts eher von sekundärer Bedeutung wäre.
„Awdijiwka wird fallen, wenn kein Wunder passiert, wie zum Beispiel ein massierter Gegenangriff“, zitiert etwa Telepolis den österreichischen Ukraine-Experten Oberst Markus Reisner. Die Angriffskräfte der Russen seien zahlenmäßig haushoch überlegen, während der Nachschub der ukrainischen Kräfte in Awdijiwka immer magerer und komplizierter werde. Früher oder später werde Awdijiwka eingekesselt.
Seit Anfang Oktober „versuchten die Russen, mit mechanisierten Verbänden die Stadt von Süden und Norden her schnell zu umschließen“, schreibt der „Tages-Anzeiger“. „Das war eine extrem risikoreiche Operation, die in einem Desaster endete. Die russischen Kolonnen wurden durch Minenfelder, Panzerabwehrwaffen und Artillerie gestoppt. In den ersten zwei Wochen waren allein auf geolokalisierten Bildern weit mehr als 200 zerstörte gepanzerte Fahrzeuge zu sehen.“
Die Russen wiederum berichten von erfolgreichen Einsätzen der neuen hocheffektiven Drohne „Skalpel“, gegen die die Ukrainer noch keine wirksame Waffe zu haben scheinen. Mittlerweile sind dort auch Söldner der russischen privaten Militärfirma Redut im Einsatz, die versuchen, in das Zentrum der Stadt vorzustoßen. Die Ukrainer mussten ihre Kräfte teilweise aus dem Gebiet Saporischje abziehen, um die Verteidiger von Awdijiwka zu unterstützen, sowie „relativ frische, gut ausgestattete Einheiten, die eigentlich für die ukrainische Gegenoffensive im Süden vorgesehen waren“, so der „Tages-Anzeiger“.
Neben den Kriegsberichterstattern der staatlichen russischen Medien werden in Russland Dutzende „Wojenkors“ („Kriegskorrespondenten“) immer populärer, die die Bevölkerung über ihre Telegram-Kanäle über das Geschehen informieren. Meistens sind es allerdings lokale Vor-Ort-Berichte, die zwar ein unmittelbares Bild liefern, zugleich aber nur ein Mosaikstein darstellen und nur einzelne Episoden schildern.
Ein „Wojenkor“-Bericht sieht ungefähr wie folgt aus:
„Die Hauptziele der russischen Hubschrauber Ka-52 / M sind jetzt Panzer, mit denen Nationalisten versuchen, den Vormarsch der russischen Streitkräfte einzudämmen. Um die Kampffahrzeuge zu besiegen, verwenden russische Piloten die Panzerabwehrraketen «Wichr-1», die die ideale Waffe für diese Zwecke sind (…)
Parallel dazu verwenden die Einheiten der Mi-28NM-Hubschrauber LMUR-Raketen für komplexe Ziele im Industriegebiet der-Kokschemieanlage. Das Territorium dieses Unternehmens ist jetzt das Epizentrum von Kämpfen um Awdijiwka. (…) Die Schlacht um Awdijiwka wird anscheinend die Hauptschlacht der gesamten Winterkampagne der russischen Armee sein.“
Wie sich all diejenigen gut erinnern würden, die die Entwicklung in der Ukraine verfolgen, war die Stadt Bachmut Anfang dieses Jahres monatelang nahezu in jedem Kriegsbericht vorhanden. Man hätte denken können, die Lage an der Front würde sich mit der Übernahme der mittlerweile ebenfalls nahezu vollständig zerstörten Stadt Ende Mai 2023 durch die russischen Streitkräfte radikal verändern. Nichts dergleichen ist aber geschehen. Eine – inzwischen wirklich ziemlich wahrscheinliche – Einnahme von Awdijiwka durch die Russen wird in militärischer Hinsicht wohl auch wenig mit sich bringen, höchstens ein Glattziehen der Frontlinie. Politisch und moralisch, aber auch medienmäßig dürfte dieser Fakt für beide Seiten von Bedeutung sein. Moskau, das langsam wieder die Initiative zu übernehmen scheint, wird endlich eine greifbare Errungenschaft präsentieren können, viele in Kiew werden darin aber ein weiteres Anzeichen des Niedergangs von Präsident Wolodymyr Selenskyj sehen.