So hat es damals auch angefangen, sagte eine Holocaust-Überlebende bei der Tagesschau. Wie widerspricht man mit allen gebotenen Respekt einem Menschen, der durch die Hölle ging?
Ein Beitrag von Roberto J. De Lapuente
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Am Tag des Gedenkens an die Opfer des deutschen Faschismus (27. Januar) präsentierte die Webpräsenz derTagesschau ein schriftliches Interview mit Margot Friedländer. Die 103-jährige Überlebende der Shoa mahnt: »So hat es leider auch angefangen.« Das Interview las sich wie ein Gespräch, das sie im Januar 2024 mit Helge Fuhst geführt hatte. Damals sagte sie: »So hat es ja damals auch angefangen.« Das Gespräch wurde im Januar 2024 auch bei der ARD gezeigt, später folgte eine Verschriftlichung, die auch die Grundlage des aktuellen Gesprächs hätte sein können – zu markant sind die Wiederholungen und Satzbausteine. Und Frau Friedländer trägt 2024 wie 2025 dieselbe Kleidung und dieselbe Kette – letzteres, wie der zuständige NDR auf Nachfrage bestätigte, sei ein Erbstück ihrer Mutter. Sie trage die Kette oft bei Interviews. Dennoch wirkt es so, als habe Interviewerin Begüm Düzgün einfach nochmal die Fragen von Helge Fuhst nochmal gestellt.
Es ist äußerst unangenehm, einer Seniorin widersprechen zu müssen, die durch die Hölle gegangen ist. Margot Friedländer war im Konzentrationslager Theresienstadt interniert. Ihre Eltern wurden von den deutschen Faschisten ermordet. Da fällt es nicht leicht, ihre Ausführungen zu beanstanden. Vor allem jene, die simulieren will, dass wir uns heute in einer Wiederauflage von damals befinden würden, wäre mindestens mal näher zu betrachten. Und wenn man Frau Friedländer schon nicht allzu belehrend begegnen möchte, so doch den Journalisten, die sie vor die Kamera setzten – und bei denen sie zweimal so ziemlich dieselben Sätze wiedergab. Wo bleibt die Einordnung?
Tagespolitik auf dem Rücken einer Holocaustüberlebenden
Einordnung ist das Zauberwort des zeitgenössischen Journalismus. Wenn etwas Unliebsames berichtet wird – meist aus dem Spektrum der Alternativmedien –, ruft irgendein Faktenchecker sofort, dass da etwas nicht richtig eingeordnet wurde. Man erinnere sich, als die Kollegen von Multipolar Post von der Landesmedienanstalt Nordrhein-Westfalen bekamen. Mehrere Stellen in verschiedenen Artikeln monierte die Anstalt. Unter anderem ein Interview mit ein Berliner Feuerwehrmann, der von niedrigen Einsatzzahlen und niedrigen Bettenauslastungen in den Krankenhäusern Berlins zu Beginn der Coronakrise sprach. Das hätten die Kollegen von Multipolar journalistisch einordnen müssen, erklärte die Anstalt – man hätte die Aussagen des Feuerwehrmannes also in einen Kontext stellen müssen.
Für die Tagesschau sind die Landesmedienanstalten nicht zuständig – und wären sie es, dann würden sie wohl schweigen. In diesem Fall ohnehin. Denn – wie gesagt – es ist keine Aufgabe, um die man sich reißen möchte, einem Opfer des Faschismus zu sagen: Nein, so wie es damals angefangen hat, ist es heute nicht. Zumal wenn man so viel jünger ist, die Gnade der späten Geburt genoss. Da sieht man neben jemanden, der viel älter ist, der noch etwas aus jener Zeit erlebte, ziemlich alt aus. Aber dennoch kann man es doch mit dem, was man heute weiß – die Forschungen zum sogenannten „Nationalsozialismus“ sind schließlich Legion –, durchaus einordnen. Auch wenn man sich dabei ein bisschen schäbig fühlen mag.
Frau Friedländer ist da wirklich kein Vorwurf zu machen. Wie sie sich erinnert, so erinnert sie sich nun mal. Und nichts an der Tragödie, die ihr und ihrer Familie widerfuhr, könnte man beanstanden oder anders einordnen wollen. Es muss schrecklich gewesen sein, an einem Ort zu leben, an dem man als Jude verhasst war. Und daran zu erinnern, zu mahnen: Daran ist nun wirklich nichts falsch. Wohl falsch ist aber, wenn man eine betagte Zeitzeugin in ein Studio fährt und ihre Aussagen wie ein unantastbares Wort präsentiert, nicht etwa um zu mahnen, sondern um Tagespolitik zu machen. Und das macht die Tagesschau nun schon zum zweiten Mal auf dem Rücken von Frau Friedländer. Es geht der Tagesschau natürlich um den sogenannten „Kampf gegen Rechts“. Und wie auf den Straßen auch, so meint man damit die AfD und alle, die sich nicht von ihr klar distanzieren.
Antisemitismus gestern und heute
Denn die gute Frau soll im Grunde nur die Steilvorlage liefern: Sie soll bestätigen, dass wir heute in einer Zeit leben, die auch um 1933 hätte stattfinden können. Natürlich adressiert man nicht ganz genau jene, an die die Vorwürfe gehen. Aber der „Rechtsruck“, den man damit meint, ist spürbar. Der Antisemitismus sei wieder da. Wie damals. Und eine rechte Partei. Wie damals. Die AfD fungiert stillschweigend als Nachfolgepartei der NSDAP. Aufrechterhalten kann man diese Betrachtung aber nicht, wenn man sich auch nur ein wenig mit der Geschichte jener Jahre befasst hat.
Nehmen wir nur den Antisemitismus – den es ohne Frage auch heute noch gibt. Und der sicher nach dem 7. Oktober 2023 auch zugenommen hat. Nur fürchten sich heute mehr Menschen der jüdischen Bevölkerung in Deutschland vor dem Antisemitismus von Flüchtlingen, als von dem der deutschen Bevölkerung. In einer Studie von 2018 gaben 70 Prozent der befragten Jüdinnen und Juden an, dass sie eine Zunahme des Antisemitismus durch Flüchtlinge fürchteten. Zwar wies die Statistik des Bundeskriminalamtes 2022 einen Anteil von 82,7 Prozent von antisemitischen Straftaten aus dem rechtsextremen Milieu aus – zu bedenken ist aber, dass antisemitische Übergriffe unbekannter Täter in der Statistik rechts verortet werden. Laut Harding-Zentrum für Risikokompetenz seien von den 2.641 Fällen gut 58 Prozent, also 1.536, nicht aufgeklärt worden. Nimmt man diese Fälle aus der Statistik rechtsextremen Antisemitismus‘ heraus, waren es lediglich 24,6 Prozent aller antisemitischen Straftaten, die ein rechtsextremes Motiv hatten.
Diese Zahlen sollen auf keinen Fall dazu dienen, den Antisemitismus in Deutschland kleinzureden. Sie sollen nur aufzeigen, dass die Lage anders ist als seinerzeit, als sich Deutschland anschickte, Juden aus dem Alltagsleben zu verdrängen. So zu tun, als sei die Situation im aktuellen Deutschland, in dem es ungefähr 1.100 Fälle von antisemitischen Vorfällen gibt (die wenigsten davon mit Gewalt verbunden), so wie damals kurz vor den Nürnberger Rassegesetzen, das ist einfach unlauter. Über antisemitische Vorfälle zu Zeiten des Dritten Reiches – und kurz davor – gibt es keine verlässlichen Zahlen. Aber anders als heute interessierte sich in der Öffentlichkeit auch kaum jemand dafür – denn der Antisemitismus war in breiten Schichten verbreitet. Wer heute alleine die israelische Politik kritisiert, gilt schnell als antisemitisch und wird gemieden. Damals, als es angeblich schon mal so angefangen hat, waren antisemitische Äußerungen jedoch die Eintrittskarte in viele gesellschaftliche Bereiche. Welche Lobby hatten Juden in jenen Jahren in Deutschland? Und wie ist es im Vergleich dazu heute? Ja, selbst die AfD, die oft dafür herhalten muss, das Wachsen des Antisemitismus in Deutschland erklärbar zu machen, positioniert sich in Fragen zur Politik Israels ja nicht eindeutig gegen die israelische Politik, sondern zeigt sich streitbar, wie andere Parteien auch.
Ist heute 1933?
Als die AfD im Jahr 2017 in den Bundestag einzog, las man immer wieder, dass das die Machtergreifung sei. Es war ein Hohn, dass man die lausigen 12,6 Prozent, die die Partei damals erhielt, mit dem 30. Januar 1933 gleichsetzen wollte. Aber bis heute hat sich diese Vorstellung erhalten, die AfD als Nachfolgepartei der NSDAP zu betrachten – und damit klarzumachen: Es ist so, wie es damals schon war. Etliche im Lande scheinen nun zu denken: Nun haben wir die Chance, unseren Fehler von einst wiedergutzumachen.
Vor einiger Zeit schrieb ich an anderer Stelle zum Thema: »Wo sind denn die parteilich zertifizierten Schlägertrupps, die SPD-Veranstaltungen aufmischen? Die NSDAP setzte sich aus Kriegstraumatisierten und später aus Studenten zusammen. Die AfD aber besteht aus bürgerlichen und gutbürgerlichen Charakteren. An Kriegstraumatisierten, so könnte man zynisch festhalten, arbeitet die amtierende Bundesregierung derzeit — die vermeintliche NSDAP-Nachfolgepartei möchte jedoch mit Russland ins Einvernehmen kommen. Damals brach Hitler, der ja die Partei war, mit dem Völkerbund — die AfD steht für Westanbindung, spricht sich für die NATO aus, stimmte dem NATO-Beitritt Finnlands und Schwedens zu. Und die heutigen Studenten sind so stark in Organisationen eingebunden, die aus den Geldtöpfen der sogenannten Demokratieförderung gespeist werden, dass sie eher nicht AfD-Mitglieder werden wollen.«
Es geht hier nicht darum, die AfD reinzuwaschen – sie zum Retter für Deutschland zu erklären, wie das ein gewisser Oligarch aus den Vereinigten Staaten neulich tat. Es ist völlig legitim und auch in weiten Teilen nachvollziehbar, dass man jene Partei kritisch betrachtet. Aber sie zu einer NSDAP zu erklären, sie zum Wiederholungstäter nach Vorgabe von 1933 zu machen, ist nicht nur falsch und geschichtsvergessen, sondern hochgradig manipulativ. In etwa so, wie man es der Tagesschau nachsagen muss, weil sie Frau Friedländer abermals zur Stimme machte, die diese vermeintliche Wiederbelegung längst vergangener Tage als Zeitzeugin bestätigen soll. Geschichte wiederholt sich nicht. Und wenn, dann nur in der Transformation der Tragödie zur Farce, um es so zu sagen, wie Marx einst Hegel auf die Füße half. Aber in diesem Fall ist es nicht mal eine Farce – es ist eine gänzlich andere Geschichte. Sich Sorgen um die Zukunft machen, die AfD fürchten, Angst vor dem steigenden Antisemitismus haben: All das hat eine absolute Berechtigung, muss man, darf man nicht kleinreden – es mit dem Dritten Reich gleichstellen zu wollen, ist aber regelrecht verwegen. Was damals geschah ist und bleibt singulär.
Roberto J. De Lapuente, Jahrgang 1978, ist gelernter Industriemechaniker und betrieb acht Jahre lang den Blog ad sinistram. Von 2017 bis 2024 war er Mitherausgeber des Blogs neulandrebellen. Er war Kolumnist beim Neuen Deutschland und schrieb regelmäßig für Makroskop. Seit 2022 ist er Redakteur bei Overton Magazin. De Lapuente hat eine erwachsene Tochter und wohnt in Frankfurt am Main. Im März 2018 erschien sein Buch „Rechts gewinnt, weil links versagt“.
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