Auswandern? Nee!

Auswandern als Versuch sein Lebensglück zu finden? Kann man machen. Aber vor dem Elend in der Heimat kann man ebenso wenig flüchten, wie vor seinen persönlichen Problemen.

Ein Beitrag von Roberto J. De Lapuente

Mann mit Koffer am Bahnsteig.
Quelle: Dieses Bild wurde mittels Grok entwickelt.

Natürlich habe ich darüber nachgedacht, Deutschland zu verlassen. Geht es denn nicht jedem so in diesen Zeiten? Stellt sich nicht auch jeder hin und wieder vor, wie es wäre, wenn er zu einem Vermögen käme? Die Frage ist nur, ob das Auswandern so ein Gewinn wäre, wie der Umstand, unvermutet zu Reichtümern zu kommen. Ich kann mir das für mich nicht vorstellen – und wenn ich ehrlich bin, glaube ich auch, dass man auf der Flucht nicht glücklich oder wenigstens zufrieden wird. Denn eine Flucht ist es ja, die viele von denen, die Deutschland heute aus gesellschaftlichen oder politischen Gründen den Rücken kehren, antreten. Eine Flucht nach vorne? Ich wünsche ihnen, das sie finden, was sie suchen.

Neulich wurde hier rege ein Interview mit Rechtsanwalt Alexander Christ kommentiert und besprochen. Er hat Deutschland – wenigstens zu großen Teilen – hinter sich gelassen. Aufzubrechen, wegzugehen, ein besseres Leben zu finden: Das ist ganz offenbar ein Thema in diesen Tagen. Es polarisiert – und die meisten sind sich einig, dass die Flucht im Grunde eine vernünftige Handlung ist, auch wenn sie nicht jeder antreten kann. Ich bezweifle das stark. Hierbleiben empfinde ich als mutiger – und außerdem: Einen Aufbruch überhaupt in Angriff nehmen zu können, ist ein eher elitäres Bestreben. Für die Mehrzahl der Bürger ist er keine Option – aus verschiedensten Gründen.

Flucht oder Vertreibung?

Deutschland: Ein krankes Land – so spiegelt es der Titel jenes Buches wider, in dem auch Alexander Christ einen Beitrag platzieren konnte. Man mag sich darüber streiten, wie krank dieses Land tatsächlich ist. Ob es aber vielleicht gar nicht darniederliegt, vielleicht sogar bei relativer Gesundheit ist: Das ist gar nicht mehr diskutabel. Natürlich darbt dieses Land nicht nur intellektuell vor sich hin, sondern zunehmend auch akademisch und ganz besonders wirtschaftlich. Prognose: Kein Silberstreif am Horizont – jetzt nicht und wohl auch demnächst nicht. Die Energiekosten werden im kommenden Jahr nochmals drückender, das Leben zunehmend unbezahlbarer.

Bürgerkrieg? Als Option sehe ich das schon auf uns zurollen. Es waren die Brotpreise, die die Bastille ermöglicht haben – von steigenden Benzin-, Strom- und Gaskosten wussten die Stürmer damals nichts. Hätten sie es, hätten sie die Bastille endgültig dem Erdboden gleichgemacht. Sollte man diese Befürchtung nicht in eine etwaige Auswanderungsplanung aufnehmen? Das grenzt die Ausweichmöglichkeiten ein, einige Länder in Europa scheinen in die Gefahr einer solchen dramatischen Bürgerkriegsentwicklung zu geraten – darüber sprechen sollte man nur nicht, denn wer es tut, gilt nicht mehr nur als ordninärer Untergangs- und Crashapologet, nein, der bespielt die vielen »Formen des Rechtsextremismus«, wie es heute offiziell heißt – auch so eine Floskel, die man heute immer häufiger vernimmt, offenbar stellt dies das offizielle Wording der Nazimacher-Community dar. Vielleicht bald mal mehr über diese Sprachregelung an dieser Stelle. Es ist ja gerade dieses Klima, das viele forttreibt aus Schlaaand. Ständig ist man einen Schritt davon entfernt, »ein Nazi« zu sein. Alles wird nur noch hysterisch und wahnhaft besprochen; Argumente sind Überzeugungselemente aus einer längst verflossenen Zeit. Wer heute gelassen bleibt im Dialog, sich nicht an den richtigen Stellen empört und apriorisch distanziert, wird umgehend als verdächtigt. Dazu diese Simulation von Geschichtsbewusstsein, die so tut, als wehre sie den Anfängen und die aber genau dort geschichtsvergessen wegschaut, wo das neue Grauen seinen Anfang nimmt und die Knobelbecher schnürt.

Seit Wochen bemüht jede noch so unbedarfte Flitzpiepe im Land das »Stadtbild«, um sich irgendwie originell von Friedrich Merz zu distanzieren. Wie öde sind doch »die Guten«, wie langweilig vorhersehbar. Stadtbild: Was sind das eigentlich zuweilen für Diskussionen, die wir hierzulande führen? Führen sollen? Im Ausland würde ich den Schwachsinn, der dort salbadert wird nicht verstehen, das wäre ein Vorteil – aber will ich so sein wie jene, denen ich durchaus vorwerfe, seit Jahren in Deutschland zu leben, ohne die Sprache zu beherrschen? Das ist einfach nicht meine Vorstellung vom Leben, Teilhabe ist für mich Sprachbeherrschung. Es ist fürwahr sehr eng geworden in diesem Land – und es war wirklich mal anders, was hegten wir in den Neunzigern noch für Hoffnungen! Natürlich waren wir naiv, glaubten an einen neuen Aufbruch, was auch immer wir damit meinten. Das war auch ein Stück weit das Vorrecht der Jugend. Man durfte sich noch mehr zutrauen, die Gesellschaft war kein Safe Space, austeilen war erlaubt, einstecken musste man können; Harald Schmidt provozierte in seiner Late-Night-Show und nur einige Verbiesterte des Bürgertums ärgerten sich darüber – ähnlich bei Stefan Raab, der sensationell frech war, wenn auch nicht besonders intellektuell. Beide wären heute nicht mehr vorstellbar, Raab scheitert gerade mit seinem Comeback, auch weil er Schwulenwitze gemacht hat, die – Oh! Mein! Gott! – Hass und Hetze darstellten. Ich möchte plakativ festhalten, dass ein Land, in dem Harald Schmidt nicht mehr auf Sendung gehen könnte, ein Stück Heimatverlust sind.

Also doch Flucht? Immerhin: Die Flucht ist ein proaktiver Vorgang. Man entscheidet sich dafür, bevor andere für einen entscheiden. Die Flucht erlaubt es, Herr seiner Situation zu bleiben – sie ist ein bewusst gewählter Schritt, der – im besten Falle – einem Fluchtplan zugrunde liegt. Nur drängt sich mir ein Gedanke auf: Eigentlich ist dieser Schritt etwas anderes, nämlich das Gegenteil dessen – eine Vertreibung nämlich. Und bei vielen, die ich kenne und die ihr Heimatland hinter sich ließen, glaube ich auch das Muster einer Vertreibung erkennen zu kennen. Die Vertreibung widerfährt einen, sie ist kein Schicksal, das man selbst gewählt hat. Sie ist genauer gesagt ein Schicksalsschlag. Wie viele, die dieses zeitgenössische Deutschland, dieses Krankland, aufgegeben haben, sitzen in ihrem Exil und hadern mit einer Entwicklung, die ihnen aufgedrängt wurde? Fühlen sie sich als Herr der Lage oder als Opfer der Umstände?

Nicht weichen!

Im Grunde ist es aber einerlei, ob man nun geplant wegläuft oder sich nicht in den Weg stellt, wenn man vertrieben werden soll: Eigentlich betrachte ich für mich das Auswandern als eine Unterlassung. Da zu bleiben, es nicht nur auszuhalten, sondern im besten Falle sich gegen den Verfall der Heimat auf diesen vielen Ebenen zu stellen: Ist das nicht auch eine Form heiliger Pflicht? Denn wer geht, überlässt das Land denen, die es in Grund und Boden wirtschaften und die eine Gesellschaft im Sinn haben, die aus Brüssel zentralisiert geführt und mit einer illiberalen Nationalverwaltung ausgestattet werden soll. Längst hat man in der chinesischen Form der Staatsführung etwas erblickt, was man für Europas Zukunft vorstellbar hält: Eine kollektivistische Gesellschaft, in der gewisse Themen nicht mehr öffentlich verhandelbar sein sollen und die rigide auf offen vorgetragene Regierungskritik reagiert. Man muss davon ausgehen, dass das in großen Stücken auch eine deutsche Vision für die Europäische Union ist, denn diese Tendenzen sind stark mit der Amtszeit der deutschen Kommissionspräsidentin verwoben. Dazu bedarf es des andauernden Notstandes. Ein eventueller Friedensschluss mit Russland steht demgemäß dem Vorhaben, Europa zu einer unterwürfigen Konsensgesellschaft zu erziehen, gehörig im Wege.

Gehen, alles hinter mir lassen: Ich fragte mich, ob mir die Sprache, in der ich schreibe, nicht fehlte, wenn ich nicht mehr im Sprachraum zugegen bin, in dem ich mich ausdrücke. Und je länger ich die Heimat hinter mir lasse, desto mehr geht mir der Bezug dazu verloren. Bei meinem Vater habe ich das ja aus nächster Nähe beobachten können; er ging nicht fort aus Spanien, weil ihm das Klima des franquistischen Spaniens zusetzte, sondern weil er Geld verdienen wollte – und ein klein wenig Abenteuerlust dürfte ihn auch getrieben haben. Damals waren die Deutschen noch Exoten für die Südeuropäer. Irgendwie blieb er dann in Deutschland hängen, später gründete er eine Familie – noch später starb er, ganz brav für einen Gastarbeiter, sozialverträglich einige Monate vor seinem möglichen Renteneintritt. Seine Heimat verlor er nie aus dem Blick, aber er begriff zunehmen weniger, wie die Menschen dort dachten, tickten und fühlten; er sprach außerdem ein Spanisch, das man in den Fünfzigern parlierte – und das sich in den Neunzigern bereits altbacken anhörte. Manche älteren Leute lobten ihn dafür, für die Jungen war er ein Exponat. Ich sah einen Mann, der sich nie richtig in Deutschland akklimatisierte, der sich oft fremd fühlte, weil er die Mentalität der Menschen hier nicht begriff – und der gleichermaßen ein Fremder in seiner Heimat war und für den eine Rückkehr ins Land seiner Väter immer weniger vorstellbar wurde. Wenn ich das Auswandern für mich ausschließe, habe ich auch das im Kopf.

Oder vielleicht ist dies sogar der eigentliche Grund, weswegen ich es für mich für ausgeschlossen halte, Deutschland – das Land meiner Geburt, meine Heimat also – zu verlassen. Freilich gibt sich bekanntlich jeder Mensch eine eigene Geschichte, die er für sein Leben hält. Oder eben für seine Motivation. Den persönlichen Gründen für meiner Abwanderungsabsage stelle ich auf diese Weise noch die Widerständigkeit gegenüber. Ist es nicht wohlfeil zu gehen, wenn gerade jetzt Charaktere benötigt werden, die sich eben nicht von den Planern der neuen Gesellschaftsform der Kollektivierung, Einhegung und des Notstandskapitalismus überfahren lassen wollen?

Braucht man sie nicht, um sich das Land zurückzuholen? Apropos viele »Formen des Rechtsextremismus«: Diese Floskel vom Land, dessen man wieder habhaft werden wolle, gehört auch in diese Liga. Spätestens seit in Bayern Hubert Aiwanger das von einem Podium Richtung Berlin und Ampel-Koalition schrie, galt diese Parole als hochgradig verdächtig. Kurios ist das allemal, denn dafür zu sorgen, dass das Land allen gehört, jeder darin sein Glück finden kann, ist eigentlich ein Ansatz linker Politik – so sie sich auch wirklich so versteht. Es war stets der historische Auftrag der Linken, das Land aus den Händen der Vermögenden zu entwenden, es denen zu entreißen, die alles und alle nach ihrer Pfeife tanzen ließen. In diesen glorreichen Zeiten verschiebt man diese Prämisse einfach: Alles was stört und das herrschende Narrativ des jeweiligen Augenblickes behindert, ist als Rechtsextremismus zu brandmarken – alle Störenfriede sind damit gleich. Oder eben nicht mehr im Lande …

Denk ich an Deutschland in der Nacht …

Wenn ich es recht bedenke: Aiwanger wollte sich gar nicht das Land, er wollte sich die Demokratie zurückholen. Ob er jetzt ein guter Sachwalter der demokratischen Idee wäre oder nicht, weiß ich nicht. Was aber unterschied damals ihn von der Sprechweise der Grünen und der Sozialdemokraten? Richtig: Der Besitzstand – er sprach wie einer, dem was abhandengekommen ist. Die anderen Genannten klangen – und klingen noch immer so – wie Eigentümer. Aiwanger will seine Demokratie zurückhaben – die Anderen sagen, wir haben sie schon und sprechen ungeniert von »unserer Demokratie« und meinen das exklusiv. Die Idee dieser Leute von Demokratie und Gesellschaft, die dem zugrunde liegt, ist nicht kompliziert: Sie ist ein Modell der Auserwähltheit und nicht der Bedingungslosigkeit, die eigentlich das Ideal einer demokratischen Grundordnung wäre. Sie sollte für jeden gelten, ganz gleich wie er denkt oder fühlt, wie er spricht oder wo er schweigt. Daher steht es jedem frei, sich Land oder Demokratie zurückholen zu wollen – richtiger wäre: Eigentlich sollte in einem solchen System niemand in eine Lage kommen müssen, eine solche Rückholaktion für nötig zu erachten.

Aber mir erscheint es nötig, ganz gleich ob das nun verdächtig ist oder nicht. Nehmen wir die Arbeitnehmer: Sie sind in dieser »unserer Demokratie«, die deren und nicht unsere ist, vollkommen unterrepräsentiert – Menschen, die von ihrer Hände Arbeit über die Runden kommen müssen, haben es zunehmend schwer und ihre Mitsprache hat keine Relevanz mehr. Sie sollen zwar privat auf Demokratiekundgebungen gehen, arbeiten aber in Prozessen, in denen es keine Leitkultur gibt, die auch nur im Ansatz an demokratische Standards erinnern. Die Märkte regeln, wie sie morgen leben und wie sie sich unterordnen werden. Dürfen diese Menschen nicht mal davon träumen, in einem Land zu leben, in denen ihre Leistung nicht nur sonntags von irgendeinem windigen Bundesotto gelobhudelt wird, sondern in dem die Politik denen dient, die die wahren Leistungsträger sind und deren Kinder demnächst die Kohlen aus dem Höllenfeuer holen sollen? Zur Causa Aiwanger wusste der Stern, dass die Floskel von der Demokratie, die man sich wiederholen wolle, etwas Fatales suggeriere: Dass die Demokratie nicht mehr funktioniere. Und so reden nur – natürlich: Rechte. Anders gesagt: Alles funktioniert noch, gehen Sie bitte weiter, es gibt nichts zu sehen.

Wenn ich darüber so nachdenke, sollte mir das Weggehen deutlich leichter fallen. Dieses unbändige Verlangen deutscher Untertanen, sich dem Zeitgeist wie ein billiges Flittchen mit aufgetragenem Ein-Euro-Shop-Parfüm an den Hals zu werfen, nicht mehr täglich ertragen zu müssen: Das wäre in der Tat schon sehr verlockend. Aber gleichwohl: Es können doch nicht alle gehen, die das Kranke dieses Landes nicht mehr aushalten können. Wer soll denn denen, die das Land nach ihren Vorstellungen unterwerfen, noch Widerspruch entgegenschleudern? Gehen heißt aus meiner Sicht – ich will niemanden zu nahetreten, schließlich weiß ich auch Freunde unter jenen, die es hier nicht mehr aushielten – immer auch aufzugeben. Heißt, das Land den Falschen zu überlassen – den Hysterikern und Kleinkarierten, den Shitbürgern und der NGO-Bourgeoisie, den NATO-Strichern und den Konzerngunstgewerblern. Wenn die jüngere deutsche Geschichte wirklich zu Widerstand verpflichtet, muss man dann nicht ausharren und dagegenhalten?

Nicht alle die unzufrieden in ihrem Land bleiben, sind ja widerständig – sie sind noch nicht mal aus Überzeugung da, sondern weil ihr Beruf oder ihre Familie keinen anderen Entschluss zulassen. Weil ihnen für das Auswandern die Mittel fehlen. Aber dennoch ist das tröstlich. Es können doch nicht alle, die sich noch einen klaren Kopf leisten, fortgehen und dieses Land in der Mitte Europas zu einer Insel der Denkfaulen und Totalitaristen verkümmern lassen. Wenn man dann fort ist und auf seine Heimat schaut und den Verfall aus der Ferne beobachtet, wird einem dann nicht klar, was man im Grunde immer wusste: Vor seinen Problemen kann man nicht weglaufen. Weder vor persönlichen noch vor gesellschaftlichen. Sie quälen einen auch dann, wenn man Distanz zwischen sich und ihnen bringt. Man geht doch nie so ganz …

Roberto De Lapuente

Roberto J. De Lapuente, Jahrgang 1978, ist gelernter Industriemechaniker und betrieb acht Jahre lang den Blog »ad sinistram«. Von 2017 bis 2024 war er Mitherausgeber des Blogs »neulandrebellen«. Er war Kolumnist beim »Neuen Deutschland« und schrieb regelmäßig für »Makroskop«. Seit 2022 ist er Redakteur bei »Overton Magazin«. De Lapuente hat eine erwachsene Tochter und wohnt in Frankfurt am Main.
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Disclaimer: Berlin 24/7 bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion Berlin 24/7 widerspiegeln. Wir bemühen uns, unterschiedliche Sichtweisen von verschiedenen Autoren – auch zu den gleichen oder ähnlichen Themen – abzubilden, um weitere Betrachtungsweisen darzustellen oder zu eröffnen.

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