Runtergekommen: Die Deutsche Bahn, das Land und seine Gesellschaft

Schimpfen auf die Deutsche Bahn! Wie verschroben kann man eigentlich sein? An Zugausfälle, Servicewüste und fehlende Sicherheit kann man sich schließlich genauso gewöhnen wie an die zahlreichen anderen Missstände in Post-Ampel-Deutschland.

Ein Meinungsbeitrag von Sven Brajer

shutterstock/Lutsenko_Oleksandr

Während in der Schweiz die Leute bereits nervös werden, wenn die Bahn auch nur eine Minute zu spät kommt und in Österreich die Pünktlichkeit der Österreichischen Bundesbahn 2024 bei knapp 92 Prozent liegt, zucken die meisten Deutschen nur noch mit den Achseln, wenn’s mal wieder später wird. Das Praktische dabei ist immerhin: Niemand ist mehr sauer, wenn man unpünktlich zum Termin erscheint: „Sorry, habe die Bahn genommen“ heißt es ähnlich wie „Ich habe Corona“ und man erntet zumeist ein mitfühlendes bis gleichgültiges „Achso, alles klar“ vom gegenüber – und die Sache ist vom Tisch. Wer braucht schon ein funktionsfähiges Schienennetz? Das Geld der Bahn-Kunden ist bei den millionenschweren Gehältern der DB-Vorstandsmitglieder doch auch gut angelegt.

Dazu eine Anekdote, die ich vor kurzem auf einer Konferenz an der Ostsee aufgeschnappt habe: Einer der Vortragenden kam aus Bayern und nahm die DB-Richtung Usedom -eine halbe Weltreise. Diese dauerte wegen verschiedener Verspätungen und Zugausfälle (plötzlich schneite es im November!) vier Stunden länger als geplant, samt eines aufregenden Aufenthalts auf dem Berliner Hauptbahnhof. Im ICE fehlte dazu beim Espresso der Löffel sowie das Zuckertütchen – und richtig heiß war er wohl auch nicht – dennoch gab es Trinkgeld, da man froh war überhaupt bedient zu werden. Die Deutschen sind eben anpassungsfähig: Man fährt bereits am Vortag und nimmt sich ein Hotel, wenn man früh einen wichtigen Termin auswärts hat – und am Abend fährt man lieber mit dem vorletzten Zug zum Zielort, wenn man am gleichen Tag auf jeden Fall dort ankommen möchte. Sonst kann es einen passieren, dass der letzte Zug, beispielsweise von Dresden nach Berlin, der 23 Uhr fahren sollte – erst mit drei, dann vier, viereinhalb Stunden Verspätung angezeigt wird und dann kurz vor dem ersehnten Eintreffen ausfällt – warum auch immer, aber „wir bitten um ihr Verständnis“. Klar doch. Vermutlich ist der Klimawandel schuld oder zu viel Personal ist mal wieder plötzlich und unerwartet krank geworden. Was will man machen? FlixBus fahren am frühen Morgen ist auch schön und sicherer als Bahnfahren, trotz  Döner „essender“ und laut in exotischen Sprachen telefonierender Mitmenschen mit gepflegter- Bier- und/oder Schnapsfahne. Vor dem ersten Weltkrieg gab es übrigens noch einen Zug von Dresden nach Berlin für Nachtschwärmer, der um Mitternacht fuhr und für die Hauptstädter Schickeria, die zur Premiere von Richard Strauss‘ Rosenkavalier in die Semperoper kam, sogar noch Speis und Trank dabeihatte. Heute fahren in Berlin dafür leere Geister-ICE’s Nachts durch die Stadt – weil zu wenig geeignete Abstellgleise existieren. So ändern sich die Zeiten. 

Dafür kommt man heute dank der DB hin und wieder  wenn auch unfreiwillig – an recht interessante Orte. Der Bahnhof von Calau in der Niederlausitz ist so einer. Oder Coswig – ein industrielles Kleinod zwischen Dresden und Meißen. Ein aufschlussreiches Erlebnis ist auch ein Freitagabend im lauschigen Cottbus am Hauptbahnhof: Alle Welt ist dort zu Gast und schaut verdutzt ob und wann noch etwas in die Hauptstadt fährt – wer Glück hat, bekommt auch noch nach acht Uhr ein Bier beim Pizzamann um die Ecke und lässt es sich gut gehen, ehe nach zwei Stunden Verspätung plötzlich doch noch ein Zug bereitgestellt wird. Vermutlich wären es dann doch zu viele Leute, die auf ihren Blog oder anderswo über die Bahn lästern. 

Apropos: Es ist übrigens die gleiche Deutsche Bahn, die man zeitweise nur mit nachgewiesenen Corona-Test oder „Impf“-Nachweis besteigen durfte, die meisten Schaffner und anderen Bahnreisenden achteten penibel auf die Einhaltung dieser „Maßnahmen“: Sie wissen schon, wegen der Aerosole und so! Wer erinnert sich nicht gerne daran, als man im gleichen Zug von Berlin nach München an der bayrischen Landesgrenze von OP-Maske auf FFP2 wechseln „durfte“. Man wollte ja auch Weihnachten mit der Oma feiern und in manchen Regionen waren die Viren nun mal aggressiver als in anderen!  Zum Glück waren im Söderland alle Reisenden solidarisch: 100 Prozent FFP-Maskenträger am Münchner Hauptbahnhof an Heiligabend 2021 – schee war’s!  Ich sehe die gleichen Leute jetzt schon in freudiger Erwartung, wenn ab Mitte Dezember die Bahn sämtliche ausgedruckten Ankunftspläne durch QR-Codes ersetzt haben will – schöne neue Welt!

Doch nicht nur die Bahn selbst ist schuld an Verspätungen und Missständen: Sinnloser Vandalismus und politisch motivierte Sabotage wohlstandsverwahrloster Kids haben in den letzten Jahren massiv zugenommen und zu Verspätungen und Zugausfällen geführt. Dazu kommen die Reisenden selbst: Am besten immer alle gleichzeitig in den ersten Wagen einsteigen und wenn man endlich drin ist, bitte so langsam laufen, dass man alle anderen dahinter aufhält sich einen Platz zu suchen – schließlich muss man ja dem besten Freund fix erzählen, dass man doch noch mit nur einer halben Stunde Verspätung zum Netflix gucken vorbeikommt, da die Schafherde auf dem Gleis doch schneller als in „unbestimmter Zeit“ wieder eingefangen wurde. Oder frei nach dem besten Wirtschaftsminister aller Zeiten: Die Züge sind nicht unpünktlich, sie kommen nur später an.

Zum Autor: Sven Brajer ist promovierter Historiker, freier Journalist sowie gelernter Einzelhandelskaufmann. Er stammt aus der Oberlausitz, hat in Göttingen und lange in Dresden gelebt, lebt derzeit in Berlin und Görlitz und betreibt den Blog www.imosten.org.  Er interessiert sich für die deutsche und europäische Sozial-, Kultur- und Wirtschaftsgeschichte des 19.-21. Jahrhunderts, Revolutionsforschung, Geopolitik mit Schwerpunkt Mittel- und Osteuropa, aber auch für aktuelle (finanz-)politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen, insbesondere von Parteien und Bewegungen. 2023 erschien sein Buch: „Die (Selbst)Zerstörung der deutschen Linken. Von der Kapitalismuskritik zum woken Establishment“ im Promedia Verlag.

Disclaimer: Berlin 24/7 bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion Berlin 24/7 widerspiegeln. Wir bemühen uns, unterschiedliche Sichtweisen von verschiedenen Autoren – auch zu den gleichen oder ähnlichen Themen – abzubilden, um weitere Betrachtungsweisen darzustellen oder zu eröffnen.

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