Lange träumte mancher von der Emanzipation der EU von den Vereinigten Staaten. Was sich aber jetzt formiert, ist keine Befreiung, sondern endet in der Vertiefung des Vasallenstatus.
Ein Beitrag von Roberto J. De Lapuente

Oberflächlicher Antiamerikanismus: Das hat man kritischen Bürgern nach dem Anschlag auf das World Trade Center, besser gesagt, nachdem die Vereinigten Staaten den Mittleren Osten als Folge auf diesen Anschlag destabilisierten, von Seiten der Medien und der Politik unterstellt. Jeder, der sich erdreistete, den Kurs der US-Regierung unter George W. Bush anzuzweifeln, musste mit dem Vorwurf dieses oberflächlichen Antiamerikanismus rechnen.
Das bewog den Kabarettisten Volker Pispers damals dazu, in seinem Programm eines ein für alle Mal klarzustellen: Denn es stimme einfach nicht – sein Antiamerikanismus sei überhaupt nicht oberflächlich. Seiner sei gewissermaßen fundiert. Er habe ihn sich gut überlegt. Wie so viele, die Amerikas Weltpolizeidienst auch monierten. Sie behaupteten ja nicht einfach ohne es erklären oder gar belegen zu können, dass die Vereinigten Staaten eine Gefahr für den Weltfrieden seien oder einen kulturimperialistischen Ansatz forcierten. Für sie war gut erkennbar, dass sich amerikanische Dienste die Welt untertan machten.
Die Emanzipation sollte besonnen stattfinden
Antiamerikanisch zu sein: Das war nicht einfach meinungsstarke Ahnungslosigkeit, sondern eine Frage der politischen Haltung. Als Mensch, der noch ein wenig an demokratische Prozesse glaubte, der davon ausging, dass es wichtig ist, ein Volk der guten Nachbarn zu sein, wurde man zwangsläufig zum Gegner der unipolaren Weltordnung á la Washington. Antiamerikanisch eingestellt zu sein, sich den großen Bruder aus Übersee vom Hals zu schaffen: Das galt als völlig folgerichtige Einschätzung, denn mit einem Land, dass im Inneren so zerrissen und korrupt ist und gleichzeitig nach Außen alles dafür tut, diese Korruption der Welt als vergiftetes Geschenk zu bringen, sollte man sich nicht allzu sehr gemein machen.
Eine Emanzipation von den USA galt seit langem für viele im Lande – früher hätte man wohl gesagt, für Menschen, die eher links des Mainstreams stehen – als ratsam und notwendig. Dass sie in diesen Tagen einsetzt, könnte man also begrüßen. Wäre da nicht der Umstand der sich andeutenden Emanzipation. Denn die sollte sich in einem besonnenen Prozess vollziehen und nicht an der Schwelle vom kalten zum heißen Krieg, am Übergang zur Eskalation des noch immer regional begrenzten Waffenganges in der Ukraine.
Aus reinem Trotzverhalten heraus organisiert die EU eine »Koalition der Willigen«. Dass das eine Koalition der Todgeweihten wäre, ein Bündnis des kalkulierten Niedergangs: Wer will es denen sagen? Wissen sie es und tun sie es dennoch, weil es ihnen um Haltung gegen die USA geht? Oder sind sie wirklich so dumm? Was für ein dummer Antiamerikanismus zum schlechtesten Zeitpunkt. Und viele, die früher riefen, dass der Ami home gehen soll, die sehen das im Augenblick anders. Als Joe Biden – not a very smart person – Präsident war, gab es reichlich Zeit antiamerikanisch zu werden und den Vereinigten Staaten den Rücken zu kehren. Was hätte uns das alles ersparen können? Vielleicht wäre Nord Stream dann auch noch voll funktionstüchtig …
Exkurs: Selenskij vs. Trump – endlich Transparenz!
Kurz einige Worte zu dem, was sich unlängst im Oval Office abspielte. Eklat nennen es die meisten: So kann man dazu sagen – muss man aber nicht. Eine andere Möglichkeit ist es, von einem Glücksfall zu sprechen. Das Gerede um den Eklat versucht eine wesentliche Tatsache zu überdecken: Nachdem man immer wieder betont hat, dass es Wladimir Putin ist, der sich nicht gesprächsbereit zeigt, hat nun der ukrainische Machthaber zur Schau gestellt, wie es mit der Gesprächsbereitschaft seiner Regierung aussieht – und damit steht die Frage im Raum, wie seine westlichen Alliierten dazu stehen. Der Vorgang in Washington entkräftet nun nicht direkt, dass Putin sich verweigern würde – aber er lässt sehr deutlich Raum für Skepsis, denn es ist die Seite der vermeintlich Guten, die der Diplomatie eine Abfuhr erteilen.
Um die Diplomatie sorgte sich die deutsche Presse auch: Undiplomatisch sei das gewesen, was da passiert ist, las man etwa. Ein Land, dass sich außenpolitisch von Annalena Baerbock vertreten lässt, von einer Frau, die wie eine Dampfwalze über das diplomatische Parkett brummte, wie nie zuvor – und vielleicht nie danach – ein Außenminister, sollte wirklich ganz vorsichtig sein mit solchen Einordnungen. Was versteht diese zeitgenössische Bundesrepublik denn bitte von Diplomatie? Die streitenden Herren gingen nicht unter die Gürtellinie, Selenskij hat – bei aller Kritik an seiner Person – nicht die Contenance verloren. Wie Baerbock reagiert hätte, wäre sie in eine solche Situation geraten, kann man nur erahnen: Aber wer weiß, mit welchem Trotzverhalten sie außenpolitisch agierte, malt sich dieses fiktive Szenario wahrscheinlich ziemlich realistisch aus.
Nein, es war an der Zeit, dass die Öffentlichkeit erfährt, mit welcher Einstellung dieser Selenskij über den Globus jettet und jeder Verhandlungslösung Schaden zufügt. Noch immer ist ihm – wie seinen Verbündeten des europäischen Westens – wichtig festzuhalten, wer an diesem Kriege Schuld hat. Und je nachdem, wo man zeitlich ansetzt, kann es verschiedene Betrachtungen dazu geben. Aber spielt das überhaupt noch eine Rolle im Angesicht von Vernichtung und Tod? Kann man sich Moral leisten, wenn es einem zunehmend an allem anderen fehlt? Mag ja sein, dass es Trump nur um eine gute TV-Show geht. Aber wenn die dazu führt, die notwendige Transparenz herzustellen, dann sei dem so.
Krieg im Herzland
Den Ukrainekrieg zu übernehmen, die Vereinigten Staaten also abzulösen und zum Herr des Stellvertreterkrieges an der westeuropäischen Peripherie zu werden, ist schon ein besonderes Schurkenstück. Eines, das mit der Zukunft des gesamten Kontinents, mindestens aber mit dem sogenannten Herzland – nach Halford Mackinder –, spielt. Für die US-Amerikaner wäre ein Scheitern des Deals, den Donald Trump in Aussicht stellte, nicht unbedingt eine Niederlage: Wenn das dazu führt, dass sich die EU und Russland jetzt direkt konfrontativ gegenüberstehen, so wurde diese Heartland-Theorie, die immer noch die Planspiele der USA bestimmt, ziemlich gut berücksichtigt. Denn wenn über Generationen die beiden Pole nicht mehr zueinanderfinden, ist diese Gefahr eines sich formierenden, über die Kontinentalplatten entstehenden Hegemons gebannt – dann bleiben den US-Amerikanern nur die Chinesen, mit denen sie auf dem Weltmarkt konkurrieren müssen.
Wohin dieses Erbe des durch US-amerikanische Dienste begünstigten Szenario in der Ukraine Europa führen wird, weiß keiner zu prophezeien. Aber mit Schlimmsten ist zu rechnen. Deutschland wird auch ohne den großen Kriegskameraden aus Übersee zum Aufmarschgebiet eines sich ausweitenden Krieges werden. Und damit potenziell zum ersten Kriegsziel russischer Angriffsplanungen. Zerstörung: Das könnte Deutschlands Zukunft sein. Oder gar Vernichtung?
Eine Emanzipation von dieser sich als gut verkaufenden Weltmacht, die ihren Sitz am Potomac River in Washington hat, tut freilich not. Motive gab es genug im Laufe der letzten Jahrzehnte. Nehmen wir nur die Marginalie, wie die National Security Agency (NSA) den digitalen Briefverkehr bundesdeutscher Bürger ausspähte. Die Bundeskanzlerin ließ sich nicht mal zu deutlicher Kritik herab – damals hätte man mehr gemeinsame Augenhöhe erzwingen müssen, ein wenig so, wie es die Franzosen von jeher mit den USA pflegten. Nichts geschah, Neuland sei das alles, hieß es – und: Gehen Sie weiter, es gibt nichts zu sehen. Nun aber die ersten Andeutungen eines Bruchs: Nicht wegen deutscher Interessen, sondern wegen ukrainischer – nicht aus Interesse überhaupt, sondern aus Gründen der Moral.
Deutschlands Reste als US-Territorium
Was jetzt für einen kurzen Moment wie die Entwindung aus dem Joch der USA aussehen mag, ist bei genauer Betrachtung den Sturz ins Bodenlose. Denn das gesamte Bild muss man sich so ausmalen: Ja, es gibt ein Joch, das man der deutschen Politik und damit der Gesellschaft angelegt hat – an dem baumelt Deutschland, darunter geht es weit in die Tiefe. Wenn man das Joch jetzt abstreift, droht der Fall. Das ist kein optimistisches Bild, ein Happy End winkt erstmal nicht. Aber die Frage ist: Sturz oder sich mit Hilfe des Joches wieder auf Areal ziehen lassen, das einem Boden unter den Füßen garantiert?
Wie gesagt, es gab weitaus günstigere Momente, um sich verselbständigen zu wollen. Die Emanzipationsgelüste der Stunde tappen nicht nur ins Bodenlose, sondern auch in eine Falle. Wenn die EU diesen Krieg verstetigt, wird es früher oder später selbst zum Kriegsgebiet werden. Der Stellvertreter Ukraine wird in den Hintergrund gedrängt und die EU wird dann nicht mehr um die ukrainische Sache kämpfen, sondern um das eigene Überleben – ja, man wird sogar die ukrainische Angelegenheit zunehmend ausblenden. Das nur als Warnung an die ukrainische Administration: Wenn die EU direkt beteiligt sein wird, wie das manche Staatschefs jetzt nun durchschimmern lassen, dann ist die Ukraine verloren – sie wird keine Priorität mehr haben und wenn nötig geopfert, um sich selbst zu retten.
Ob es den Deutschen dann so schrecklich anders gehen wird, als den Ukrainern nach so einem Szenario, bleibt offen. Aber ausgeschlossen ist nicht, dass Deutschland dann weniger emanzipiert ist von den USA, als man das sich jetzt zu träumen wagt. Und es mag abenteuerlich klingen, aber warum sollte dieses darniederliegende Deutschland nicht zum US-Territorium werden? So wie einst Oklahoma, das nicht Bundesstaat war, sondern Territory, irgendeine Vorstufe zum Eintritt in die Union. So wie die Dinge nun stehen, werden es die USA sein, die am Ende am längeren Hebel sitzen. Die EU tappt in die Falle einer Scheinemanzipation.
Roberto J. De Lapuente, Jahrgang 1978, ist gelernter Industriemechaniker und betrieb acht Jahre lang den Blog ad sinistram. Von 2017 bis 2024 war er Mitherausgeber des Blogs neulandrebellen. Er war Kolumnist beim Neuen Deutschland und schrieb regelmäßig für Makroskop. Seit 2022 ist er Redakteur bei Overton Magazin. De Lapuente hat eine erwachsene Tochter und wohnt in Frankfurt am Main. Im März 2018 erschien sein Buch „Rechts gewinnt, weil links versagt“.
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