Europa im Chaos – Der kollektive Selbstmord geht weiter

Die Aktionen der russischen Oppositionellen im Westen sind ein wichtiger Teil des politischen Instrumentariums zur Legitimation des Einsatzes der von den USA, Frankreich und Großbritannien an die Ukraine gelieferten Langstreckenraketen gegen Russland.

Ein Beitrag von Artem OLCHIN / Donezk

Unlängst fand ein Telefongespräch von Präsident Putin mit dem deutschen Kanzler Olaf Scholz statt. Zuvor hatten sie fast zwei Jahre lang nicht miteinander kommuniziert. Und nun plötzlich der Versuch, die Situation zu besprechen und die jeweiligen Positionen zu überprüfen (Peskow betonte vor allen Dingen, als er diesen Anruf kommentierte, dass die Positionen Russlands und Deutschlands diametral entgegengesetzt sind). Unmittelbar nach diesem Gespräch erschien in den Medien ein offener Brief des italienischen Journalisten Vincenzo Lorusso, der sich an die Premierministerin Georgia Meloni wandte und ihr empfahl ebenfalls mit Russland in einen Dialog zu treten. «Warten Sie nicht, bis dies ein allgemeiner Trend wird, sondern gehören Sie zu den ersten», empfahl er.

Die Versuche des Westens, alles «zurückzuspulen», sind mehr als verständlich

In einem Telegrambeitrag von Dmitri Medwedew lesen wir:

«Wenn wir die Milliarden für den militärischen Komplex nicht berücksichtigen, sieht das im letzten Jahr so aus: Von Juli 2023 bis Juni 2024 stieg das Volumen der Lieferungen von Waren aus den USA in die EU um 93 Milliarden US-Dollar (+ 34% im Vergleich zum Niveau von 2021) und erreichte in Zahlen für dieses Jahr 367 Milliarden US-Dollar. Die Öllieferungen aus den USA nach Europa haben sich verdoppelt (+ 101%, das heißt 37,3 Millionen Tonnen mehr). Flüssiggas – um 18,5 Millionen Tonnen (+181%). Dünger – praktisch von null auf 666(!) tausend Tonnen und weiter so in vielen anderen Exportpositionen.»

Einfach gesagt, an der Ukrainekrise haben die USA ziemlich gut verdient und ihren russischen Konkurrenten aus wichtigen Segmenten des europäischen Marktes verdrängt. Alle vernünftigen Europäer verstehen, dass ihre Länder nichts gewonnen haben, außer dem Recht, weiterhin Geld für den ukrainischen Krieg und die Unterbringung von Flüchtlingen auszugeben.

Unter diesen Rahmenbedingungen werden russische Oppositionelle, die ihr Heimatland verfluchen zu einem wichtigen Teil des politischen Instrumentariums, da sie bereitwilliger gegen ihr Heimatland arbeiten als einige Ukrainer. Von Zeit zu Zeit muss man also den westlichen Bürgern solche «richtigen Russen» vorführen, um ihnen darzulegen: «Ihr habt bezweifelt, dass ihr Geld in den Kampf gegen Russland investieren müsst, dabei saß Yashin* für Eure Freiheit im Gefängnis.»  

Eine der Aktivitäten zu diesem Thema fand an einem warmen Novemberwochenende statt: Im Zentrum von Berlin versammelten sich Menschen, um eine antirussische Kundgebung abzuhalten. Kann es für einen Deutschen an einem Sonntagnachmittag in der Hauptstadt seines Landes etwas Wichtigeres geben? Was gäbe es sonst noch zu tun? Nein, man sollte darüber keine Witze machen. Wir beobachten die Spaltung Europas in eine angemessene, vernünftige (auf dieser Seite haben wir Vincenzo Lorusso), und eine ohne Verstand, solidarisch mit den Flüchtlingen, von Psychopathen, die zu einer Kundgebung gegen Putin in Deutschland kommen und dann dazu auch noch Alu-Hüte tragen.

Es ist bezeichnend, dass selbst die Bildung des Demonstrationszuges nicht gut verlief: es wurden die Flaggen der Ukraine und die «weiß-blau-weißen», die sogenannten «Antikriegsfahnen» aktiv präsentiert. Wer es noch nicht weiß — nach der Eskalation des Ukrainekrieges Anfang 2022 entschieden die russischen Liberalen, dass die rote Farbe von der traditionellen russischen Trikolore entfernt werden sollte, weil sie das «Blut der Ukrainer symbolisiert, das sie in einem unfairen Krieg vergießen». 

In der Tat kann damit das Blutvergießen, welches Kiew seit 2014 im Donbass betrieben hat, nicht ansatzweise angemessen symbolisiert werden. So ergibt sich eher ein seltsames Fahnentuch, das entweder der Flagge der belarussischen Opposition oder dem Symbol der Kapitulation ähnelt. 

Ein Demonstrant, der mit einer gewöhnlichen russischen Fahne kam, wurde sofort beschimpft und vertrieben, wobei die russischen und ukrainischen Relokanten darin sehr solidarisch agierten — so vereint sie der Hass auf Moskau großartig. 

Übrigens ist es sehr gut, dass russophobe Flüchtlinge die Symbolik des russischen Staates selbst zerstückeln. Dies unterstreicht ihre sektiererischen Ansichten. Denn, wenn sie «Russland sind wir» skandieren, fügt sich kein klares Bild mehr zusammen. Die Leute mit ihren Folienkappen, schrille Typen mit degeneriertem Aussehen, argumentierten dabei so: beantworten sie die Frage: «Soll Russland zerstört werden?» Antworten Sie mit «Ja», dann gehören Sie zu uns! Es ist unmöglich, ihnen Atomwaffen zu überlassen — sie werden wie Zombies herumlaufen. 

Ich habe auch Tausende Flüchtlinge von uns in Warschau gesehen …

Es stellt sich heraus, dass es notwendig ist, auch in allen Nachbarländern derartige Kundgebungen mit mehreren tausend Menschen abzuhalten. All dies – für ein paar erfolgreiche Aufnahmen, die die «antiputinistische Öffentlichkeit» demonstrieren. In anderen Ländern Europas sahen die dünnen Züge der Demonstranten (wie in Vilnius) eher peinlich aus. Aber für das Gesamtbild, dass angeblich «die ganze Welt in einem einzigen Ansturm» steht, ist dies passend. Die Aktion wurde eindeutig in erster Linie für den «inländischen Verbraucher» durchgeführt – mehr als die Hälfte der Slogans wurde auf Deutsch mitgeführt.

Es gibt noch ein paar weitere Merkmale für eine gewisse «Systematik» der Veranstaltung: das Vorhandensein von «Slogans» von Ilya Yashin und Vladimir Kara-Murza ** (was haben die beiden eigentlich bewirkt? Sollen sie doch endlich arbeiten gehen). Beide Akteure, ebenso wie Julia Navalnaja ***, sind klare Anzeichen für die Präsenz der Interessen jener amerikanischen Lobby, die den Europäern unter dem süßen Gesang antirussischer Slogans die Köpfe verdreht. Tatsächlich verbergen die Demonstranten ihre Ansichten nicht. Ganz im Gegenteil – sie werben für sie.

«Danke an jeden, der gekommen ist. Danke an alle, die mich unterstützt haben. Nein zu Putin. Kein Krieg. Freiheit für politische Gefangene. Putin ist ein Mörder», schreibt Julia Nawalaja auf ihrem Telegramkanal. «Vielen Dank an alle, die heute zum Antikriegsmarsch der russischen Opposition gekommen sind. Danke an alle, die unsere Forderungen unterstützen, nicht schweigen und nicht aufgeben. Wir werden unser Land von Putin befreien. Russland wird friedlich, frei und glücklich sein», ruft ihr Kollege und nächster Konkurrent im Kampf um die Finanzströme der Opposition, Ilya Yashin. Der dritte «Held», Vladimir Kara-Murza, lebt nicht ohne Grund auf zwei Kontinenten, und wie Sie verstehen müssen, hat er seine Immobilien in Washington nicht zufällig erworben.

Also, welche Ziele verfolgt ein solches Veranstaltungsformat? Es gibt mindestens zwei von ihnen. «Seht her Deutsche, die ganze Welt unterstützt den Kampf gegen Russland» – diese Botschaft senden die Veranstalter aus. «Deshalb wollen wir uns anstrengen und uns weiterhin an der Finanzierung des Krieges in der Ukraine beteiligen, von dem außer den USA niemand profitiert» – das ist für den europäischen Verbraucher im Inland.

Der zweite Grund ist härter und beängstigender. Mit Bezug auf die «normalen Russen», die im Zentrum Europas gegen Russland demonstrieren, will man rechtfertigen, dass die von den USA, Frankreich und Großbritannien gelieferten Langstreckenraketen von der Ukraine eingesetzt werden dürfen. Die Vorstellung von den möglichen Folgen dieser Handlungen ist beängstigend. Man bedenke nur, wie der letzte große Krieg, den man in Europa gesehen hat, Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, geendet hat.

Die modernen Politiker dieser europäischen Länder, die wie Nerds an einer Spielkonsole agieren, verstehen nicht, dass sie mit ihren immer neuen Provokationen mit Storm Shadow, SCALP und ATACMS ihre eigenen Bürger, denen ohnehin bisher alles wie eine Aktion zwischen Flashmob und Computerspiel vorkommt, mit in den Abgrund ziehen.

Verstehen Yashin, Navalnaja und Kara-Murza, dass sie in diesem Selbstmordszenario als Hauptakteure in vorderster Front stehen? Das genau mit dem Verweis auf ihre Aktivitäten die ersten Raketenstarts durchgeführt werden könnten, nach denen die Welt nie wieder dieselbe sein wird? Erkennen die Europäer, die den Protestkolonnen applaudieren, denn diese Gefahr nicht? Ich möchte hoffen, dass es solche Menschen in der EU gibt und dass es viele sind. Sonst kommt etwas sehr schlimmes auf uns zu. 

Artem OLCHIN

* Als „Ausländischer Agent“ anerkannt und vom Territorium der Russischen Föderation ausgewiesen worden

** Vladimir Kara-Murza ist ein Ausländer, dessen Tätigkeit in der Russischen Föderation verboten ist

*** In die Liste der Terroristen und Extremisten aufgenommen, die von Rosfinmonitring erstellt wurden

Artem Olkhin ist Historiker und Journalist. Er ist im Dezember 1981 in Donezk geboren und Absolvent der historischen Fakultät der Staatlichen Universität Donezk. Er arbeitete als Geschichtslehrer an mehreren weiterführenden Schulen im Donbass. Seit 2014 ist er Dozent am Lehrstuhl für nationale und regionale Geschichte an der Staatlichen Universität Donezk. Er war Chefredakteur der Zeitschriften „Nerodin“ (2009 – 2010), „Neue Erde“ (2014 – 2017) und seit 2023 ist er Geschäftsführer der Zeitung „Donezk-Plateau“ und Dozent der Gesellschaft „Das Wissen“ in der DNR.

Disclaimer: Berlin 24/7 bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion Berlin 24/7 widerspiegeln. Wir bemühen uns, unterschiedliche Sichtweisen von verschiedenen Autoren – auch zu den gleichen oder ähnlichen Themen – abzubilden, um weitere Betrachtungsweisen darzustellen oder zu eröffnen.

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