Wie man aus alten Parolen neue Wahlsprüche formt, die zwar klingen sollen wie früher, aber was ganz anderes meinen.
Ein Beitrag von Roberto J. De Lapuente

Was für ein Unterschied: Während der US-Vizepräsident J.D. Vance der versammelten westeuropäischen Machtelite in München den Marsch geblasen und deren Defizit beim Umgang mit missliebigen Meinungen vor Augen gehalten hat, tat der deutsche Bundeskanzler das klare Gegenteil dessen. In seiner Rede bei der Sicherheitskonferenz sprach er verklausuliert, verdruckst und ohne klare Botschaften. Wie einer, der es gelernt hat, sich nicht frank und frei zu äußern. Auch das muss man mitnehmen aus München: Das neue Amerika mag nicht jedem gefallen, aber man spricht deutlich – im Gegensatz dazu wirkt das alte Westeuropa wie ein Ort, an dem die pure Angst regiert.
Olaf Scholz sprach in seiner Rede von der Ukraine – und vom deutschen Erbe: Dachau sei gleich um die Ecke. Für Deutschland müsse es heißen: »Nie wieder Faschismus, nie wieder Rassismus, nie wieder Angriffskrieg.« Angriffskrieg? Das hieß aber doch bis neulich noch anders. Da spezifizierte man das nicht so sehr. Raffiniert haben er und sein Redenschreiber das eingefädelt. Und kaum einer hat die neue Konnotation bemerkt.
Es soll aufhören – sofort aufhören!
Nie wieder Krieg!, hieß die Parole mal – nach dem Zweiten Weltkrieg formierte sie sich. Angereichert um: Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg: Das sagte man schon nach dem Ersten Weltkrieg, als der noch als großer Krieg bezeichnet wurde, weil man noch nie wusste, was wir heute wissen. Carl von Ossietzky soll ihn 1924 erstmals bei einer Veranstaltung ausgerufen haben. Nach 1945 gewann der Spruch an Bedeutung, wurde zu einer Beteuerung, die die Massen prägte – der Grund dafür, dass die Parole viral ging, wie man heute sagen würde, war denkbar einfach: Die Menschen hatten im Zweiten Weltkrieg – anders als im Krieg von 1914 bis 1918 – das Leid in einer schrecklichen Intensität am eigenen Leibe erlebt. Er hatte deren Heimat und deren Obdach zerstört und die bittere Not über sie gebracht.
Das nie wieder erleben zu müssen, steckte in der Parole. Nie wieder Krieg – und nicht: Nie wieder Angriffskrieg! Denn es spielte gar keine Rolle, wer denn nun angegriffen, wer sich nur verteidigt hatte. Sicher, in der historischen Betrachtung hat das Relevanz, schließlich will man verstehen, späteren Generationen die Abläufe vermitteln können. Aber in der puren Not, im Augenblick, da man unter Beschuss oder Bombardement gerät, wenn man Hunger leidet und verletzt dahinvegetiert, sind diese Einordnungen irrelevant: Da soll nur der Krieg aufhören – sofort aufhören!
Oder eben erst gar nicht beginnen: Nie wieder. Kein Kind sollte mehr in Bombennächten weinen müssen – ganz egal, wer die Bomben verursacht hat, ob man zu denen gehört, die den Krieg begonnen haben oder zu jenen, die sich nur gegen einen Angriff zur Wehr setzen. Nie wieder soll eine Frau auf die Rückkehr ihres Liebsten warten müssen, ohne zu wissen, wohin es den verschlug und ob er überhaupt noch atmet: Da unterscheiden sich die zurückgelassenen Frauen nicht, egal ob sie zu Angreifern oder Verteidigern gehören. Nie wieder sollen Menschen hungern, weil der Krieg ihnen alles auffrisst – und das ganz unabhängig davon, ob man sein Heim auf Seiten der Täter oder der Opfer findet. Der Krieg verallgemeinert: Er kennt keine Seite.
Die totale Abwesenheit von Moral
Es war diese Erfahrung der puren Not, des unmittelbaren Elends, die eine generalisierende Losung salonfähig machte: Nie wieder Krieg! Egal welchen, ganz gleich auf welcher Seite man steht. Nicht: Nie wieder Angriffskrieg! Auch nicht: Nie wieder Verteidigungskrieg! Denn beide Arten meinen Krieg, beide bringen Elend – kein Krieg ist gerecht. Natürlich würden nun etliche einwenden, dass das ein moralischer Unterschied sei. Aus dem weichen Sessel heraus stimmt dies freilich – und wenn Justiz einen Sinn haben soll, ist diese Betrachtung nach Maßstab des Richtigen und des Falschen auch notwendig. Bloß in der Realität, dort wo Krieg aktiv erlebt wurde, da ist die Wahrheit eine andere: Dort ist Krieg, ob als Angriff oder als Verteidigung, durch die vollkommene Abwesenheit der Moral greifbar.
Wenn also Olaf Scholz vor die europäischen Machtfunktionäre tritt und ihnen seine Modifikation der alten Parole in die Gesichter ruft, dann geht ihm die ganze Dimension ab, die dazu führte, den Krieg nach neuem Wahlspruch nie wieder möglich zu machen. Er nimmt der Parole mit seinem Zusatz die menschliche Grundhaltung, das Herz der eigentlichen Aussage: Alles zu tun, was möglich ist, um Angriff und Verteidigung nie wieder nötig zu machen. Hätte man damals gesprochen wie der Bundeskanzler auf der Münchner Sicherheitskonferenz, so hätte man nach dem Kriege gesagt: Wir wollen keinen Krieg – aber mancher Krieg wäre in Ordnung. Doch genau das widersprach der Erfahrung der meisten Europäer damals: Sie erlebten, dass er nie in Ordnung ist – auch wenn man moralisch im Recht sein mag, er führt immer in die Hölle.
Olaf Scholz blendet das aus. Woher soll er es wissen? Aber warum wissen es andere, die den Krieg nicht selbst kennen? Ihn nicht mit eigenen Augen gesehen, mit eigener Haut haben brennen spüren? Sein Satz, wonach nie wieder ein Angriffskrieg vom deutschen Boden ausgehen soll, ist ein Kriegsbekenntnis durch die Hintertür. Ein Missbrauch einer Parole, die einst als eine generelle Absage an das Phänomen des Krieges und seine zerstörerischen Folgen gedacht war. Lange hat es gedauert, bis man auch diesen Ausspruch im Zuge des Krieges in der Ukraine nochmal umdeutete: Ausgerechnet kurz vor seinem Ende hat es sie dann doch noch erwischt.
Roberto J. De Lapuente, Jahrgang 1978, ist gelernter Industriemechaniker und betrieb acht Jahre lang den Blog ad sinistram. Von 2017 bis 2024 war er Mitherausgeber des Blogs neulandrebellen. Er war Kolumnist beim Neuen Deutschland und schrieb regelmäßig für Makroskop. Seit 2022 ist er Redakteur bei Overton Magazin. De Lapuente hat eine erwachsene Tochter und wohnt in Frankfurt am Main. Im März 2018 erschien sein Buch „Rechts gewinnt, weil links versagt“.
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