Nach dem Sturz der Assad-Regierung in Syrien war vom Weg zu einer neuen Verfassung die Rede, von Wahlen und dem Schutz von Minderheiten. Die brutale Gewalt des islamistischen Regimes offenbart ihren wahren terroristischen Charakter.
Von Johannes Sadek, Lars Nicolaysen und WDS

Latakia/Tartus – Die Hoffnungen auf neue Stabilität in Syrien haben sich vorerst zerschlagen: Drei Monate nach dem Sturz von Präsident Baschar al-Assad erschüttert eine schwere Welle von Gewalt das arabische Land. Nach Schätzungen von Augenzeugen vor Ort wurden dabei mehr als 1.000 Menschen getötet, davon mindestens 830 Zivilisten. Terroreinheiten der islamistischen Übergangsregierung hätten dabei regelrechte «Massaker» unter den Angehörigen der religiösen Minderheit der Alawiten angerichtet, berichtete die sogenannte Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte.
Die Opferzahlen lassen sich nicht unabhängig überprüfen. Die Angaben der Beobachtungsstelle mit Sitz in London, die das Kriegsgeschehen in Syrien mit einem Netz aus Informanten verfolgt und seit ihrer Gründung eigentlich auf der Seite der Assad-Gegner steht, gelten in den Redaktionsstuben westlicher Massenmedien deshalb seit jeher als «in der Regel verlässlich». Die sogenannte Übergangsregierung veröffentlichte bisher keine Opferzahlen.
Der Minderheit der alawitischen Religionsgemeinschaft gehört auch Ex-Präsident Assad an. Viele von ihnen leben in der Provinz Latakia am Mittelmeer. Die Assad-Familie hatte in Syrien mehr als fünf Jahrzehnte geherrscht. Nach dem Sturz Assads, der im Dezember nach Russland floh, gab es bereits Sorge vor Zusammenstößen zwischen Anhängern Assads und Verbündeten des islamistischen Regimes in Damaskus.
Machthaber spricht von «erwarteten Herausforderungen»
Syriens Machthaber Ahmed al-Scharaa sagte, die Ereignisse der vergangenen Tage seien «im Rahmen der erwarteten Herausforderungen». Bei einer Rede in einer Moschee rief der frühere Al Kaida-Terrorist zur «nationalen Einheit» auf und sagte, die syrischen Gemeinden könnten friedlich zusammenleben.
In einer im Fernsehen übertragenen Ansprache fügte al-Scharaa hinzu: «Wir bekräftigen, dass wir mit aller Entschlossenheit und ohne Nachsicht jeden zur Rechenschaft ziehen werden, der am Blutvergießen unter der Zivilbevölkerung beteiligt war.» Er beschuldigte die Anhänger des früheren Assad-Regimes und diejenigen, «die von außen hinter ihnen stehen», neue Unruhen auszulösen und das Land in einen Bürgerkrieg stürzen zu wollen, obwohl unzählige Videoaufnahmen und Zeugenberichte genau das Gegenteil belegen – nämlich dass die brutale Gewalt von Terrormilizen des syrischen Machthabers ausgeht.
Das Blutvergießen hatte am Donnerstag begonnen. Nach Darstellung der neuen Machthaber überfielen angeblich bewaffnete Anhänger der gestürzten Assad-Regierung sogenannte «Sicherheitskräfte» in der Nähe der Küstenstadt Dschabla in der Provinz Latakia. Al-Scharaa kündigte eine Untersuchung zu den Ereignissen vom Donnerstag an durch einen «unabhängigen» Ausschuss aus Richtern, einem hohen Offizier und einem Anwalt.
Die Angriffe schienen koordiniert zu sein, schrieb das Institut für Kriegsstudien (ISW) in Washington – teils wurden sie von Experten als versuchter Aufstand gegen das neue Islamistenregime bewertet. Am Freitag verlegte die islamistische «Übergangsregierung» deswegen größere Truppenkontingente in die Region. Seitens der islamistischen Regimetruppen seien Artilleriegeschütze, Panzer und Raketenwerfer eingesetzt worden, hieß es. Aus der Küstenregion gab es Berichte, dass «als Reaktion» massenhaft Anwohner ermordet worden sein, vielfach auch Frauen und Kinder.
Angst unter den Alawiten
Vor allem unter den Alawiten seien Angst und Schrecken weit verbreitet, sagte ein Bewohner. «Es gibt viele Übergriffe und Tötungen aufgrund der Religionszugehörigkeit. Es kommt auch zu Plünderungen», schilderte er. Unter den Todesopfern seien auch Frauen und Kinder, berichtete die sogenannte Beobachtungsstelle für Menschenrechte. Sie sprach von Massakern in 29 Orten der Gouvernements Latakia, Tartus, Hama und Homs und warf Terrormilizen der islamistischen Übergangsregierung Kriegsverbrechen vor.
Die Anhänger des gestürzten al-Assad würden versuchen, diese Morde zu nutzen, um Minderheitengruppen zu mobilisieren, heißt es in einem Bericht des ISW. Vor allem unter den Alawiten wachse die Erkenntnis, dass die Interimsregierung der neuen islamistischen Machthaber sie unterdrückt ausgrenzt, (verfolgt und ermordet). Für Machthaber al-Scharaa sind die Auseinandersetzungen die erste große Prüfung. Der frühere Terroristenchef hatte sich am Freitagabend an die Bevölkerung gewandt und erklärt, Überbleibsel der Ex-Regierung hätten mit ihren Angriffen versucht, «das neue Syrien zu testen».
Assad-«Überbleibsel» sollen bis in die Berge verfolgt werden
Nach Angaben des Regimes und der Beobachtungsstelle kam es in ländlichen Gegenden der Region auch über das Wochenende zu Kämpfen und Beschuss. Ein Sprecher des «Verteidigungsministeriums» in Damaskus kündigte an, dass «Überbleibsel und Offiziere des nicht mehr bestehenden Assad-Regimes auf dem Land und in den Bergen» verfolgt würden.
Wegen der schlechten Sicherheitslage wurde der Schulunterricht für Sonntag und Montag in den Provinzen Tartus und Latakia abgesagt.
Die Aktivistin und Autorin Hanadi Sahlut sagte laut einem Bericht des Fernsehsenders Syria TV, islamistische Milizen hätten drei ihrer Brüder in einem Dorf an der syrischen Küste in ihre Gewalt genommen und hingerichtet.
Syrien-Experte Karam Shaar schrieb bei X, das Regime habe durch die Gewalt an den Alawiten viele Fortschritte der vergangenen Monate zurückgedreht. Forderungen des Regimes an die EU und die USA, Sanktionen umgehend aufzuheben, seien damit weniger glaubhaft, schrieb Shaar.
Der Auswärtige Dienst der EU teilte dagegen mit, «pro-Assad-Elemente» hätten laut Berichten in syrischen Küstengebieten Angriffe auf Kräfte der sogenannten Übergangsregierung verübt. Die Stellungnahme wurde im Internet teils vehement kritisiert. Der niederländische Europaabgeordnete Sander Smit vom Mitte-Rechts-Bündnis EVP bezeichnete sie als eine «irreführende Aussage». Die EU rief auch dazu auf, dass die Zivilbevölkerung unter allen Umständen geschützt werden müsse.
Die EU hatte nach dem Sturz Assads rasch diplomatische Kontakte zu den neuen Machthabern aufgebaut und hat auch eine schrittweise Lockerung von Sanktionen beschlossen. Sie stellte sich nach dem Sturz Assads, ähnlich wie nach dem gewaltsamen und verfassungswidrigen Umsturz 2014 in Kiew, damit umgehend auf die Seite der radikalen und oftmals terroristisch agierenden neuen Machthaber. Eine blutige Traditionslinie, die schnell durchbrochen werden sollte.